Читать книгу: «Militärisches Denken in der Schweiz im 20. Jahrhundert La pensée militaire suisse au 20e siècle», страница 3

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Nach der Jahrhundertmitte fliesst bei den Vertretern der nationalen Milizarmee (Rüstow, Rothpletz, Welti) ein Staatsverständnis ein, welches an die idealistische Machtstaatstheorie anschliesst. Vieles spricht dafür, dass sie sich dabei von der Staatstheorie Lorenz von Steins beeinflussen liessen.

Auch in der schweizerischen Historiografie ist die Beobachtung zu machen, dass nach 1870 in der Alten Eidgenossenschaft des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts eine Grossmacht im Sinne Rankes gesehen wird und die Schweiz des späten 19. Jahrhunderts in Abhebung zur ehemaligen Grossmacht nun als Machtstaat von kleinem Format im europäischen Mächtekonzert definiert wird: als «trotz allem […] ernst zu nehmende Macht» soll die Schweiz erscheinen, die sich dem Existenzkampf um «Heil» oder «Untergang» zu stellen vermag.49

Unverkennbar ist seit den 1860er-Jahren auch in der Schweiz eine intensivierte Deutung militärischer Stärke und Kriegstauglichkeit zur Legitimation des staatlichen Souveränitätsanspruchs und eine Deutung des Krieges als Prüfung dieses Anspruchs zu beobachten. In den 1890er-Jahren ist jedoch eine Akzentverschiebung zu einer primär militaristischen Interpretation des Militärs und zu einer bellizistischen Sichtweise des Kriegs zu verzeichnen. Selbst Carl Hilty, Staatsrechtsprofessor und Oberauditor der Armee von 1892 bis 1909, der im Offizierskorps einen «Felsen» erblickte, an dem alle parteipolitischen Konflikte zerbrechen sollten, und im Militär «ein[en] ganz unentbehrliche[n] Theil der öffentlichen Erziehung unseres Volkes» sah, hatte bereits 1890 vor der Tendenz, dem «Krieg» einen «Selbstzweck» und ein «Eigenrecht» zuzuschreiben, gewarnt und feinfühlig den Vormarsch des «Kommandorechtes», der «militärisch nachgeahmten Disziplin» und «militärische(r) Auffassungen und Einrichtungen» im zivilen Leben konstatiert: «Ja selbst in den gewöhnlichen Sprachformen haben sich Ausdrücke eingebürgert, die aus dem Kasernenhofe stammen; ‹stramm› ist ein Wort geworden, das auf alle möglichen Verhältnisse angewendet wird, und ‹Schneidigkeit› ist längst nicht mehr das Privilegium des Kavallerieoffiziers. Ist dies im eigenen Lande schon so, so verkehren vollends die Völker eigentlich miteinander in den Formen des Kriegszustandes.»50 Die zunehmende Deutung des Kriegs als Bewährungsinstanz des einzelnen Milizsoldaten, der nationalen Streitkraft und des Staatsvolks erlaubte militärische Ausbildung und Erziehung losgelöst vom Status des Staatsbürgers zu denken und sich an einer imaginierten «Kriegstauglichkeit» zu orientieren, der, zunehmend abgehoben von der Entwicklung der Kampfführung und dem schweizerischen sozialen und politischen Kontext, eine gesellschafts- und geschichtsphilosophische Dimension beigemessen wurde. Mit dem Aufstieg der Richtung des «Neuen Geistes» um Ulrich Wille seit den 1890er-Jahren sollte dieses Denken in der Schweizer Armee kurz vor dem Ersten Weltkrieg dominant, wenn auch nicht hegemonial werden.

Im Zeitalter der Weltkriege

Ulrich Wille als Oberbefehlshaber der Schweizer Armee im Ersten Weltkrieg (Bild: Bibliothek MILAK).

Ulrich Wille gehört zweifellos zu den bedeutendsten Militärdenkern der Schweiz. An was erkennt man einen bedeutenden und nachhaltigen Militärdenker? Ein untrügliches Zeichen ist die Herausgabe seiner Schriften.1 Dies trifft auf Ulrich Wille zu. 1941, auf dem Höhepunkt des militärischen Erfolgs der deutschen Wehrmacht, gibt ein ergebener Zirkel von Wille-Schülern die Gesammelten Schriften General Ulrich Willes heraus. Sie sollen das militärische Denken des 1925 verstorbenen Generals wachhalten und insbesondere eine intellektuelle Phalanx gegen das Gedankengut einer jungen Offiziersgeneration bilden, die eben dabei ist, sich von Wille abzuwenden, deren Nukleus sich personell im Offiziersbund von 1940 erstmalig gefunden hat und sich nach dem Krieg als Reformergruppe mit den Wille-Schülern der vierten Generation streiten wird.

Die 600-seitigen Gesammelten Schriften erlauben es, das Denken Ulrich Willes vollständig zu erfassen und zu analysieren. Niklaus Meienberg hat davor zurückgeschreckt.2 Im Rahmen meiner Habilitationsschrift «Preussen vor Augen. Das schweizerische Offizierskorps im militärischen und gesellschaftlichen Wandel des Fin de siècle» musste ich mich dagegen durch die Gesammelten Schriften Willes durchbeissen.3

Um Ulrich Willes Ort des Denkens und seine Eigenart in der Entwicklung der Pensée militaire suisse zu fassen und zu umreissen, werden nachfolgende Aspekte behandelt: Als Erstes werde ich ganz kurz den Ort des Denkens und Wirkens Ulrich Willes kennzeichnen respektive benennen, aus welchen Expertenpositionen er sprechen und wirken konnte. Im Zentrum wird dann eine Annäherung an den Kern seines Denkens stehen: eine Auslegung der Grundzüge seiner Militärpädagogik. Abschliessend werde ich den kriegs-, staats- und geschichtsphilosophischen Hintergrund des Denkens Ulrich Willes skizzieren.

Der Ort des Denkens und Wirkens Ulrich Willes

Ulrich Wille verstand sich als Instruktionsoffizier von Anfang an als Experte. Damit verfügte er über ein Selbstverständnis, welches in der schweizerischen Gesellschaft kaum verankert war, war doch die soziale Anerkennung des Instruktionskorps gering und der Typ des den hiesigen Militärdiskurs beeinflussenden Instruktionsoffiziers bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts selten.4 Wohl von seinem Elternhaus beeinflusst – Mutter und Vater waren schriftstellerisch und publizistisch tätig –, kaufte er eine Fachzeitschrift und schuf sich damit die Position einer Fachautorität.5 Wille erwarb 1880 die Zeitschrift für Artillerie (ZAG) und markierte seinen Anspruch auf einen Expertenstatus unverzüglich mit einer Artikelserie unter dem Titel «Verkehrte Auffassungen». Mit der Ernennung zum Oberinstruktor der Kavallerie gab Wille die Zeitschrift für Artillerie auf, ohne jedoch ganz auf eine publizistische Tätigkeit zu verzichten. Nach seiner Ernennung zum Waffenchef der Kavallerie publizierte er bewusst eine grundlegende Schrift zur Ausbildung der Armee und versuchte, seine neu gewonnene hierarchische Stellung militärintern wie -extern mit Vehemenz einzubringen.6 Seine durch Provokation bewirkte Entlassung im Jahre 1896 führte vorerst zu einer Marginalisierung seiner publizistischen Tätigkeit. Wille publizierte von 1896 bis 1899 in der Zeitung Die Limmat, bis er für kurze Zeit wieder bei der Zeitschrift für Artillerie und Genie ein Podium bekam. Spätestens seit 1892 war aber Wille selbst ein «Ort des Aussagens» geworden. Als informeller Kopf der «Neuen Richtung», welche mit der «Nationalen Richtung» im Streit lag, stieg er zur Autoritätsperson einer von ihm abhängigen Gruppierung im Offizierskorps auf.7 Mit seiner Rückkehr in die sozial hoch angesehenen Positionen eines Milizdivisionärs, dann Korpskommandanten und Professors für Militärwissenschaften an der ETH gelang es Wille, auch die Chefredaktion der Allgemeinen Schweizerischen Militärzeitung (ASMZ) zu übernehmen. Die Chefredaktion gab er 1914 bei der Wahl zum Oberbefehlshaber der mobilisierten Milizarmee ab. Durch die Kumulation von militärischen, wissenschaftlichen und publizistischen Positionen erreichte Wille zwischen 1901 und 1914 einen herausragenden Status, welcher ihn zur führenden Autorität im Felde des Militärdiskurses machte. Durch seine Persönlichkeit war Wille bereits in den 1890er-Jahren zu einer militärischen Autorität geworden, erst seine hochrangigen Stellungen verliehen ihm aber die Position eines höchst legitimen Sprechers im militärischen Feld.8

Soldatenerziehung – Der Kern des Denkens Ulrich Willes

Während über 40 Jahren, von 1877 bis 1924, hat Ulrich Wille der schweizerischen Öffentlichkeit in unzähligen Varianten dieselbe Predigt gehalten: Die Wehrmänner der Schweizer Armee seien nicht erzogen, sie hätten zu wenig Disziplin und zu wenig Respekt vor ihren Offizieren. Die Offiziere hätten zu wenig Autorität und träten nicht entschlossen genug auf, um bei den Soldaten absoluten Gehorsam durchzusetzen. Der Führungseinfluss der Offiziere sei vom Wohlwollen der Truppen abhängig. Die Ausbildung der Soldaten wiederum erfolge nach dem Schema der napoleonischen «Kleinen Taktik»: Von der Einzelausbildung bis zur Brigade werde zwar reichlich, aber mechanisch und mit republikanischer Souplesse exerziert. Dieser Befund Willes beruhte dabei nicht primär auf einer Analyse der Entwicklung der Truppenführung und der Waffentechnik, sondern auf den im Truppendienst wahrgenommenen Symptomen larger Disziplin und reserviert republikanischer Subordination.

Ursache für die Defizite in der Truppenführung war der seit den frühen 1860er-Jahren einsetzende Zersetzungsprozess der exerziermässigen Kampfführung. Die geschlossenen Formationen mussten zunehmend «zerstreut» werden, und das mechanische «Trüllen» (Drillen) der Soldaten in der Einzelausbildung und in der Formation, bis es «dem Scheine nach» klappte, genügte nicht mehr. «Die Disziplin aber, wie wir sie heut zu Tage brauchen, welche die deutschen Truppen im Kriege 1870/71 zum Siege führte, ist eine Angewöhnung, eine moralische Zucht, deren Fortbestehen garantiert wird durch das richtige Benehmen des Vorgesetzten», schreibt Ulrich Wille in seiner ersten Schrift zur Truppenausbildung im Jahr 1877.9 Wenn Wille von einer Disziplin sprach, «wie wir sie heut zu Tage brauchen», und sie als «Angewöhnung» und «moralische Zucht» beschrieb, so schien sich diese Disziplin von einer anderen, aus früheren Tagen stammenden Auffassung von Disziplin zu unterscheiden. Das neue, moderne Disziplinkonzept stützte sich weder auf Strafen noch auf den freiwilligen Gehorsam patriotischer Bürger. Die moderne Disziplin erschien vielmehr als Resultat eines Erziehungsprozesses, das die Truppen mental führbar machte sowie den Führungseinfluss der Offiziere von der starren Formelsprache der «Soldaten- und Formationsschule» löste und auf die Ebene einer mental-suggestiven Führung verlagerte.

War das drillmässige Exerzieren bisher ein rein funktionaler Bestandteil der Gefechtsführung, bedingte die mentale Erziehung des Soldaten und des Truppenkollektivs formellen Drill beziehungsweise Drill als Erziehungsmittel. Eine «Angewöhnung» sollte die neue Disziplin sein – das heisst eine internalisierte Disziplin, wie sie nur durch Erziehung erzeugt werden konnte. Dies musste zur Aufspaltung des Drills in funktionalen Waffen- und Gefechtsdrill und formellen Erziehungsdrill führen. Wille umschrieb dies so: «Der wirkliche Drill ist derjenige, der während seiner Ausübung Selbstzweck ist, der während seiner Ausübung auf gar nichts anderes, als auf ‹Äusserlichkeiten› hinstrebt, weil er weiss, dass der Grad der Vollkommenheit, in welchem diese Äusserlichkeiten zu Tage treten, den absolut sicheren Wertmesser für den erzielten erzieherischen Erfolg abgibt.»10 Nicht auf das «Was», sondern allein auf das «Wie» komme es an. Ob mit Zunge «Herausstrecken und Hereinziehen» oder mit Ladebewegungen Übungen gemacht würden, sei egal, meinte Wille.11

Formeller, von der Truppenführung und der Waffenhandhabung abgelöster Drill wurde zwar zur Soldatenerziehung nicht für ausreichend gehalten, aber er galt als «wertvolles Erziehungsmittel»: «Militärische Erziehung ohne Zuhilfenahme des Drills wird nie Genügendes erschaffen können. Denn die Aufgabe des Drills ist Herbeiführung jener Konzentration aller psychischen und physischen Kräfte auf Ausführungen des Befehls und auf Pflichterfüllung, die ganz alleine in schwierigen Lagen vor Versagen der Truppe schützt.»12 Was mit der Herbeiführung jener Konzentration aller psychischen und physischen Kräfte gemeint war, explizierte Wille gerne am Beispiel der Pferdeerziehung: «Die Anwendung des Drills zur Erschaffung und Erhaltung des Appells ist ganz gleich wie das Zusammenstellen des Pferdes durch den Reiter. Bei der Abrichtung des Pferdes wird es zusammengestellt und ins Gleichgewicht gebracht, damit man es beim Gebrauch frei treten lassen darf. Und nach dem Gebrauch oder auch schon während des Gebrauches stellt es der sachkundige Reiter nur dann zusammen, wenn es gezeigt hat, dass es nicht würdig ist, freigehen zu dürfen. Viele, die vielleicht bessere Reiter sind als Pädagogen, stellen aber auch ohne dass sich die Notwendigkeit zeigt, ihre Pferde wieder zusammen. Dann ist der Drill nicht ein heilsam wirkendes, pädagogisches Mittel, sondern eine unnütze Quälerei.»13

Was bedeutet «Erschaffung und Erhaltung des Appells», was bedeutet «Abrichtung» und «Gleichgewicht»? Die metaphorischen Anleihen bei der Kyno- und Hippologie in einem späten, 1913 erschienenen Artikel zum Thema «Drill und Erziehung» umschrieben genau, was Wille schon 1877 intendiert hatte: die «Gewöhnung an soldatischen Gehorsam». Ein Gehorsam, der sich dadurch auszeichnet, «dass der Mann gezwungen wird und allmälig sich selbst zwingt, alle seine geistigen und körperlichen Kräfte auf die möglichst vollkommene und sofortige Erfüllung eines Befehles zu konzentrieren».14 Der Zustand des Selbstzwangs beim Soldaten entspricht dem durch Abrichtung hergestellten «Gleichgewicht» des Pferdes; «Appell» entspricht der gespannten Reaktion des abgerichteten Soldaten auf den Befehl des Führers. Mit Appell wurde jene moderne, autodynamisch aufgeladene und vom Offizier abrufbare militärische Disziplin bezeichnet. Eine Disziplin, welche durch das Spannungsfeld von individueller psychischer und physischer Anspannung und gehorsamer Einordnung durch Selbstzucht geprägt war. Die von Wille verwendeten Vergleiche und die Terminologien aus der Tierdressur eigneten sich jedoch schlecht, um bei den Milizen Verständnis für die Notwendigkeit des pedantisch genauen Erziehungsexerzierens zu erwecken.

Die Durchsetzung des Erziehungsdrills bedurfte eines generalisierbaren Verhaltensleitbilds. Erst nur andeutungsweise, seit der Jahrhundertwende aber zunehmend prononcierter, unterlegte Wille seinem Erziehungs- und Führungskonzept eine Männlichkeitsmetaphorik, die sich nicht nur in der militärischen Sozialisation des ausgehenden 19. Jahrhunderts durchsetzte, sondern Teil eines allgemeinen Virilismus der Jahrhundertwende war.15

Die Restitution des kämpfenden Mannes wurde zu einem zentralen Leitbild der von Selbstzweifeln und Pessimismus geprägten Gesellschaft des Fin de Siècle. Die Akzentuierung der männlichen Geschlechtscharaktere schrieb den Männern Energie, Kraft, Willenskraft, Festigkeit, Mut und Tapferkeit, Selbständigkeit, Durchsetzungsvermögen, Gewalt, aber auch Vernunft und Urteilskraft zu, während den Frauen Schwäche, Ergebenheit, Hingebung, Wankelmut, Liebe, Güte, Schamhaftigkeit und Liebenswürdigkeit zugeschrieben wurden. Diese Konstrukte eigneten sich vorzüglich, um auf die militärische Männergesellschaft übertragen zu werden: Männliche Männer sind «Soldaten», unmännliche Männer sind keine «Soldaten».

Bis zur Jahrhundertwende verwendete Wille das Männlichkeits-Konzept nicht oder nur sporadisch, so fehlt es in der Schrift zur Ausbildung von 1892 und kommt in der Vorlage an die Kommandanten und Waffenchefs von 1893 zwar als prägnante, aber isolierte Aussage vor: «Bei der ganzen Militärausbildung ist die Erziehung des Mannes zum Manne die Hauptsache, und alles andere ist dem gegenüber als Ersatz dafür gänzlich wertlos. In unseren Militärschulen haben wir von jeher der Erziehung gar keine oder ungenügende Bedeutung beigelegt.»16 Nach der Jahrhundertwende wurde die Männlichkeitsfigur im Argumentationsarsenal Willes zur Konstante und zum unverrückbaren Glaubenssatz, der ihn dazu verleitete, nach dem Ersten Weltkrieg die Niederlage der deutschen Armee «auf die viel zu hoch in Kurs gekommene» Wissenschaftlichkeit der Offiziersausbildung und die nachlassende Betonung der Männlichkeit zurückzuführen: «Der nach meiner Überzeugung allein entscheidende Faktor ist das durch Erziehung bis zur höchsten Potenz gesteigerte Manneswesen beim höchsten Führer bis hinunter zum letzten Trommler. Die andern Faktoren, bessere Bewaffnung, vollkommenere Ausrüstung mit technischen Hilfsmitteln, grössere Zahl, geschicktere Formationen und Manövrierkunst können die Unvollkommenheit des Manneswesens nie ersetzen und werden erst dann ihre Bedeutung bekommen, wenn vollendetes Manneswesen sich ihrer bedient, und der einzige sichere Einfluss, den sie auf Krieg und Kampf haben, ist, dass durch jede neue Vervollkommnung das Manneswesen weiter erhöhte Bedeutung bekommt.»17 Der für die militärische Männlichkeit des Soldaten konstitutive Appell, die spritzige, autodynamische Disziplin, erforderte demgegenüber spritzige, dynamische Offiziere, die über «Adresse» verfügten, das heisst, die fähig waren, durch ihren Habitus Appell zu erzeugen, aufrechtzuerhalten und abzurufen. Dieses lebenslängliche Credo erlaubte Wille, auch lebenslänglich für eine taktische Kampfführung einzustehen, welche auf jegliche Schemen oder Leitlinien verzichtete. Alle militärischen Führer sollten dank Appell und «Adresse» virtuos und beweglich, unbesehen der waffentechnischen Mittel, das Gefecht führen. Erst gesteigertes Manneswesen werde auch die Wirkung neuer Waffen zum Tragen bringen.

Der Grundsatz der freien, situativen Führung galt für Wille von der gefechtstechnischen über die taktische bis zur militärstrategischen Ebene. Dieser Grundsatz ist für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg mehr andeutungsweise und implizit fassbar. Als dann während des Aktivdiensts, konkret von Anfang 1917 bis Anfang 1918, theoretisch ein Vorgehen Deutschlands und Frankreichs über Schweizer Territorium möglich schien und im Schweizer Generalstab dagegen prophylaktisch operative Studien ausgearbeitet wurden, äusserte sich auch der Oberbefehlshaber dazu. Wille meinte, er wolle keine bindenden Planungsvarianten und zusammen mit dem Feind des Feinds über den Aufmarsch situativ befinden und erst dann den Kampf suchen: «Wenn einer unserer grossen Nachbarn uns mit Krieg überzieht, so werden wir in dem andern unsern Alliierten haben, der uns zu Hilfe kommt. Niemals dürfen wir uns der Gefahr aussetzen, dass er mit seinen uns immer numerisch überlegenen, kriegsgewohnten und mit allen Hilfsmitteln der Technik viel vollkommener ausgerüsteten Truppen uns angreift und schlägt, bevor unser Alliierter zu Stelle ist.» Deshalb durfte das Gefecht mit dem Angreifer nicht zu früh gesucht und die Verteidigung aus einer Aufstellung angestrebt werden, welche für das Zusammengehen mit dem Alliierten noch Freiheiten liess und lediglich verzögernd geführt werden sollte: «Wir dürfen uns daher nicht auf die Abwehr seines Vordringens in unser Land einrichten, sondern auf die Verzögerung zum Zeitgewinn für unsern Aufmarsch und für das Herankommen unseres Alliierten. Wir sammeln unsere Kräfte so weit zurück, dass auch dadurch dieser sichergestellt wird: Ob dafür ein beträchtlicher Teil des Landes dem Invasor preisgegeben wird, ist gleichgültig; wenn wir hoffen dürfen, ihn wieder aus dem Land herausbringen zu können, macht es nichts aus, wenn wir ihn herein lassen. Wenn unsere Armee aufmarschiert und der Alliierte herankommt, wird der vormarschierende Feind aus zwei Fronten angegriffen.»18 Wille wollte dem Alliierten und sich selbst alle Freiheiten lassen, sich für eine Feldschlacht so aufzustellen, wie er es in Absprache mit dem Verbündeten am besten hielt: «Wo wir uns sammeln, das hängt davon ab, wann unser Alliierter über den Rhein kommen kann; ob wir uns sammeln […], das kann durch spätere Besprechungen geklärt werden; auch dafür ist das Planen und Handeln unseres grossen Alliierten bestimmend. Die Entscheidung muss in der offenen Feldschlacht des Bewegungskrieges gesucht werden, alle Faktoren für den Grabenkrieg, in dem unsere Gegner sich jetzt 2 ½ Jahre eingeübt haben, fehlen uns, oder sind wenigstens bei uns sehr unvollkommen und unfertig vorhanden.»19 Wille wollte weder zeitliche noch räumliche Festlegungen, und er wollte sich die operativen Freiheiten, einen Bewegungskrieg zu führen, auch nicht durch Armeelinien und die Anlage von Grabensystemen nehmen lassen. Diese Stellungnahmen aus den Jahren 1917/18, sein Bericht über den Aktivdienst an die Bundesversammlung 1919 und seine Ausführungen in den «Kriegslehren» von 1924 zeigen, dass er gegen alle Empirie der industriellen Kriegführung der Jahre 1914/1918 an seinem Credo der Überlegenheit der soldatisch erzogenen Truppe und der imponierenden Führung der Offiziere festhielt. Dieser hoch idealistische Glaube gründete in einem Gesellschafts- und Geschichtsbild, welches dem Militär und dem Krieg eine zentrale Wirkkraft bei der Fortentwicklung der (Männer-)Nationen beimass.

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9783039199242
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