Читать книгу: «Militärisches Denken in der Schweiz im 20. Jahrhundert La pensée militaire suisse au 20e siècle», страница 4

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Krieg, Staat und Gesellschaft im Denken Ulrich Willes

Willes Denken wurzelte tief im deutschen Idealismus und in der preussischen Militärtheorie. Er war mit der deutschen Staatsrechtslehre und der deutschen, neohegelianischen Geschichtsphilosophie des Fin de Siècle bestens vertraut. Die Elemente dieser Lehre und Philosophie reproduzierte er ebenso regelmässig wie seine Auffassung des Disziplinbegriffs und des Männlichkeitskonzepts. Hier wurzelt auch sein Begriff der Kriegstauglichkeit, der keineswegs utilitaristisch – rein gefechtstechnisch – verstanden werden darf. Krieg deutet er in Übereinstimmung mit der deutschen Staats- und Geschichtsphilosophie des 19. Jahrhunderts als Überprüfung des erzogenen Männerheers und damit als Ausweis für die Überlebensfähigkeit und Existenzberechtigung nationaler Staaten.20 Vor diesem Hintergrund bewertete er die Entwicklung des soldatischen Männerpotenzials höher als das Entwicklungspotenzial ziviler Erziehung und Bildung der liberalstaatlich verfassten Gesellschaft, welche er nicht ablehnte, aber als Hindernis auf dem Weg zur Kriegstauglichkeit einstufte. «Die allgemeine Dienstpflicht, verbunden mit ernsthaftem Betrieb des Wehrwesens ist das letzte, das höchste Mittel der Volkserziehung in unserer Zeit. Nur dadurch kann die Menschheit männlich und gesund erhalten werden, in einer Zeit, wo das Wohlleben stetig zunimmt und die Kriege so viel seltener, und die Menschheit viel weniger als in früheren Zeiten durch Not und Elend und andre ähnliche Mittel der harten Schule des Lebens zu Männern erzogen wird. Darin liegt die hohe ethische Bedeutung des Wehrwesens, die nicht bloss bestehen bleibt, sondern nur grösser geworden ist, wenn es keine Kriege mehr gibt. Diesen Einfluss auf die Erhaltung der sittlichen Kraft, das heisst auf die Existenzberechtigung eines Volkes, kann ein Wehrwesen nur dann ausüben, wenn bei seiner Erschaffung, das was der Krieg erfordert, das einzige wegleitende ist.»21 Kern der deutschen Staats- und Geschichtsphilosophie war der Glaube, dass mit der «Erhaltung der sittlichen Kraft» die Kriegstauglichkeit erreicht und damit dem Krieg als Bewährungsinstanz Genüge getan werden könne – egal ob siegreich oder geschlagen. Wille war der Überzeugung, dass jeder Staat ein Heer haben müsse, sonst «verfaule er innerlich»: «Das ist eine Binsenwahrheit, die die Geschichte aller Völker in allen Zeiten lehrt. Das kriegstüchtigste Volk ist auch im Kampf des wirtschaftlichen Lebens das stärkste.»22


Drill als Mittel zur Erlangung von Kriegstauglichkeit: Formalausbildung auf dem Waffenplatz Bière (Bild: BiG).

Die Armee wird damit zum Medium der gesellschaftlichen Erneuerung und Regeneration. Dies ist der gesellschafts-, geschichts- und staatstheoretische Hintergrund von Willes Militärpädagogik, welche tief im bellizistischen und militaristischen Glauben an die Funktion der Armee als Erzieherin der Gesellschaft wurzelt. Einer Gesellschaft, welche den geistigen und physischen Fortschritt in den Männern angelegt sah. Mit der «Erziehung des Mannes zum Manne» glaubte Wille die Nation für den kriegerischen und friedlichen Kampf der Nationen um die Weiterexistenz konkurrenzfähig zu machen.

Fazit

Wie ist es zu erklären, dass sich nach heftigem Richtungsstreit im schweizerischen Offizierskorps Willes Denken spätestens nach der Annahme des neuen Militärorganisationsgesetztes im Jahre 1907 als dominant erwies, wenn auch nicht hegemonial durchsetzte? Wille hatte mit seinem Konzept eine Antwort auf eine doppelte Problemlage: Er hatte eine Antwort auf die rasant zunehmende Führungsproblematik auf dem feuerintensiven Gefechtsfeld, welches keine geschlossenen Formationen und bald auch keine Schützenlinien mehr zuliess.23 Und er hatte eine Antwort auf die gesellschaftliche Entwicklung, welche als dekadent-verweichlicht gedeutet wurde und zunehmend von sozialen Spannungen geprägt war. Die nachhaltende Wirkung seiner Militärpädagogik auf die Schweizer Armee über den Zweiten Weltkrieg hinaus ist nur damit erklärbar, dass die Schweiz weder im Ersten noch im Zweiten Weltkrieg Kriegsteilnehmer war. Am Ende des Zweiten Weltkriegs wurde jedoch Willes preussisch-deutscher Erziehungsund Pflichtbegriff bei der jungen Offiziersgeneration, welche sich um die Zeitung Volk und Armee scharte, kritisch infrage gestellt.24 Die Erkenntnisse der gruppenorientierten Psychologie und Soziologie liessen Willes Erziehungskonzept als gescheiterter idealistischer Autoritarismus erscheinen.25 Den Reformern war aufgegangen, dass die Militärpädagogik Willes glauben machte, mit der besseren soldatischen Männlichkeit – mit besserem Soldatentum – Kriege gewinnen zu können. Ein Glaube, der 1945 ein zweites Mal enttäuscht wurde, aber in der Schweizer Armee trotzdem vorerst weiterlebte und erst in der Zeit nach den Oswald-Reformen Ende der 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts allmählich verblich.

David Rieder

Enfant terrible


Fritz Gertsch als Oberstdivisionär, 1918 (Bild: Graphische Sammlung, Schweizerische Nationalbibliothek).

Fritz Gertsch (1862-1938) gehörte um die Jahrhundertwende zu den umstrittensten Offizieren der Schweizer Milizarmee. Als menschenverachtender Soldatenschinder verschrien, als streitlustiger Militärpublizist über die Landesgrenzen hinaus bekannt, sorgte der umtriebige Instruktionsoffizier zeitlebens für Aufsehen und Unruhe im schweizerischen Offizierskorps. Er exponierte sich schon früh als harscher Kritiker der etablierten Ausbildungs- und Gefechtskonzepte und forderte eine Anpassung des für die Schweizer Milizarmee typischen republikanisch-egalitären Führungsund Erziehungsstils an denjenigen der damaligen Modellstreitkraft in Europa: die preussisch-deutsche Armee.

Gertsch stammte aus einfachen Verhältnissen, als gelernter Hutmacher ohne nennenswerten Bildungsabschluss stellte er sich den Rekrutierungsbehörden in Bern. Seine Talente liessen ihn aber rasch die militärische Karriereleiter emporsteigen. Bereits mit 24 Jahren wurde er als junger Hauptmann für die Generalstabsschule I aufgeboten. In der intellektuell anspruchsvollen und herausfordernden Generalstabsausbildung geriet Gertsch allerdings erstmals an die Grenzen seiner intellektuellen Fähigkeiten. Er musste sich schmerzlich eingestehen, dass er für generalstäbliche Arbeiten nicht besonders begabt war. Stabsarbeiten, die für gewöhnlich stark theorielastig waren und ein grosses Mass an analytischem Denken voraussetzten, gehörten nicht zu seinen Stärken – auch später nicht, weshalb er bis zum Ende seiner Karriere eine tiefe Abneigung gegen die «Theoretiker» und das «Professorentum» im Generalstabsbüro hegte. Die Schlussqualifikation des Kurskommandanten der Generalstabsschule I und späteren Generalstabschefs, Arnold Keller, fiel entsprechend zwiespältig aus: «Schwach, eignet sich sehr gut zum Truppenoffizier».2 Gertschs militärische Fähigkeiten hätte man kaum pointierter umschreiben können, als es Keller tat. Gertsch konnte zwar in der Generalstabsarbeit nicht überzeugen, seinen Vorgesetzten gefiel er aber als willensstarker und schneidiger Offizier, der sich bei der Truppe durchsetzen konnte und dessen Eignung zum Truppenführer ausser Diskussion stand.

In Anbetracht seiner kurz aufeinanderfolgenden Karriereschritte kann angenommen werden, dass Gertsch dem soldatischen Handwerk sehr zugetan war und in ihm schon früh der Wunsch reifte, seine Leidenschaft zum Beruf zu machen und sich ganz dem Dienst in Uniform zu verschreiben. So überrascht es nicht, dass er noch im selben Jahr nach der Absolvierung der Generalstabsschule ins Instruktionskorps übertrat.

Im Instruktionsdienst eckte Gertsch allerdings schon früh an. Behutsames Vorgehen lag ihm nicht. Eine Affäre jagte die andere, eine Kampfschrift folgte der anderen. Launisch, ungehobelt und enorm stur – so das nicht gerade schmeichelhafte Bild, welches Zeitgenossen von ihm zeichneten. Mit seiner unversöhnlichen Art verstrickte er sich in zahllose Streitigkeiten mit Vorgesetzten, Unterstellten und Freunden. In Offizierskreisen und in der Öffentlichkeit wurde deshalb regelmässig seine Entlassung aus der Instruktion gefordert. Stets konnte er aber seinen Kopf aus der Schlinge ziehen, nicht zuletzt dank der starken Rückendeckung seines Mentors und Förderers Ulrich Wille. Mitte der 1890er-Jahre lernte er den charismatischen Waffenchef der Kavallerie und späteren Oberbefehlshaber der Schweizer Armee im Ersten Weltkrieg kennen – eine schicksalhafte Begegnung. Fortan fand Wille in Gertsch einen von tiefer Loyalität beseelten Jünger, der im Gleichschritt mit ihm einer strengen soldatischen Erziehung das Wort redete.

Gertschs unbedachter Opfermut und seine von der Presse als «Gertschiaden» etikettierten schikanösen Instruktionspraktiken trieben ihn letzten Endes aber in den Abgrund. Der Abstieg des hitzköpfigen Wille-Protegés nahm in den Jahren 1910/11 seinen Anfang. Zuerst musste er wegen einer Pressepolemik als Brigadekommandant zurücktreten, kurz darauf wurde er infolge einer erbitterten Auseinandersetzung mit dem Chef der Generalstabsabteilung, Theophil Sprecher von Bernegg, als Instruktionsoffizier entlassen.3 Im abschliessenden Urteil hiess es: «Er hat bei seinem masslosen, krankhaft gesteigerten Selbstgefühl den Begriff der Unterordnung verloren.»4 Auf ausdrücklichen Wunsch Willes wurde Gertsch zu Beginn des Ersten Weltkriegs zwar wieder als Brigadekommandant reaktiviert und mit der 1917 erfolgten Beförderung zum Oberstdivisionär sogar in den erlauchten Kreis der allerhöchsten Truppenführer, der Heereseinheitskommandanten, aufgenommen; doch der neuerliche Karriereschub war nur von begrenzter Dauer. Von Neuem wurden Klagen über seinen übertriebenen Exerzierdrill laut, die im Herbst 1918 in einer parlamentarischen Interpellation mündeten.5 Durch einen Bundesratsbeschluss wurde Gertsch im Januar 1919 schliesslich von seinem Kommando enthoben und bis zu seiner endgültigen Entlassung aus der Wehrpflicht im Juni 1926 zur Disposition gestellt.6 Als Privatmann betätigte er sich danach unermüdlich als Militärpublizist, manövrierte sich aber mit seiner Auffassung, die Schweizer Armee sei in eine «Maschinengewehrarmee» umzuwandeln, im dominanten Militärdiskurs zusehends ins Abseits. Dem nicht genug, musste er sich bis zu seinem Lebensende mit ernsthaften Geldsorgen herumschlagen, obschon er in zweiter Ehe ein vermögender Mann geworden war.7

Es ist jedoch nicht primär diese von Affären, Enthebungen und Comebacks gekennzeichnete militärische Laufbahn Gertschs, die eine historische Auseinandersetzung mit ihm rechtfertigen würde. Sein persönliches Leben ist zu ereignisarm, und überdies auch quellenmässig zu wenig dokumentiert. Was ihn hingegen interessant macht, ist die Position, die er als umtriebiger Offizier im schweizerischen Militärwesen in der Zeit vor und während des Ersten Weltkriegs einnahm. Er gehörte im Kontext des Richtungsstreits im Offizierskorps zu den wichtigsten Akteuren und den profiliertesten Militärpublizisten. Keiner benannte die Adaptionsprobleme der schweizerischen Milizarmee an die rasante Gefechtsfeldentwicklung schonungs- und taktloser als er. Der besagte Richtungsstreit um die Neuorientierung der Milizarmee war zudem begleitet von medienwirksamen Affären, zahlreichen persönlichen Auseinandersetzungen und einer Reihe von öffentlich diskutierten Disziplinarverfahren, von denen ein nicht geringer Teil auf Gertsch entfiel.

Disziplin und Appell

Der junge Gertsch trat 1886 just in einer Zeit in den Instruktionsdienst ein, als sich infolge einer gespannten geopolitischen Lage und angesichts einer gewandelten Kriegführung auf einem stetig anspruchsvoller werdenden Gefechtsfeld die Anforderungen an die Armee und ihre Führung dramatisch veränderten. Der mit einer beeindruckenden Geschwindigkeit fortschreitende Innovationsschub in der Waffentechnologie, der wiederum tief greifende Auswirkungen auf die gebräuchlichen Kampfformen und die Truppenausbildung hatte, stürzte die Armee in eine tiefe konzeptionelle Krise. In der Folge bildete sich im Offizierskorps eine Reformbewegung heraus, die in Anbetracht der gestiegenen Komplexität und Brutalität des Gefechtsfelds die betont zivilistische, dem «soldat citoyen» angemessene Ausbildung als völlig untauglich beurteilte. In Anlehnung an die preussisch-deutsche Modellstreitkraft und nachhaltig beeinflusst durch das Schriftgut des Kavallerie-Waffenchefs Ulrich Wille erblickten diese Offiziere insbesondere in der Stärkung der Offiziersautorität und der bedingungslosen Subordination des Soldaten den Schlüssel zum Erfolg. Sie beabsichtigten daher, das republikanisch-egalitäre Verhältnis von Mannschaft und Führung neu zu definieren. Doch die implizite Vorbildfunktion der deutsch-kaiserlichen Armee mit ihren strengen Exerzierformen trug dieser sogenannten «Neuen Richtung»8 wiederholt den Vorwurf einer «Verpreussung» der Schweizer Armee ein.9 Ferner wurden die Anhänger des von Wille initialisierten «Neuen Geistes» infolge ihres überaus selbstbewussten Auftretens und ihrer kleidsam geschneiderten Uniformen wiederholt als «Gigerln» oder «Gockel» etikettiert und gleichzeitig beschuldigt, einen fremdländischen Geist in die Armee eingeschleppt zu haben.

Dass Gertsch schon früh vom «Neuen Geist» im Offizierskorps erfasst wurde, zeigt sich in seiner 1889 von der Offiziersgesellschaft preisgekrönten Schrift Die Ausbildung des Schweizerischen Infanterieoffiziers und die Forderung der Gegenwart.10 Darin propagierte er das Konzept des strengen und eindrucksvollen Offiziers, der seine Unterstellten sicher und energiegeladen zu Soldaten erzieht und von ihnen jederzeit – sei die Lage auch noch so prekär – bedingungslosen Gehorsam abfordern kann. In solchen imponierenden Offizieren erblickte er das probate Rezept, um die im Vergleich zu den stehenden Heeren Europas kurzen Ausbildungszeiten hinreichend zu kompensieren. Denn «eine richtige soldatische Schule muss also auch der Schweizer durchmachen, soll er ein brauchbarer Wehrmann werden. […] Ohne Disziplin keine Armee.»11 Sein Aufsatz war keineswegs nur das zufällige Erzeugnis eines mit einem ausgeprägten Disziplinverständnis veranlagten Instruktionsoffiziers. Die Schrift war ein unverkennbares Produkt der seit den 1880er-Jahren herrschenden Malaise in der schweizerischen Gefechts- und Truppenführung.

Dass Gertsch seine alternativen Ausbildungsmodelle auch konsequent umzusetzen gedachte, wurde schon kurz nach Veröffentlichung seiner Preisschrift evident. Seine geltungssüchtigen, despotischen Marotten und seine schikanösen Exerzier- und Disziplinierungspraktiken, die auf die Integrität der kantonalen Milizen keine Rücksicht nahmen, führten zu diversen Anklagen durch die Presse und zu anschliessenden Protesten in der Öffentlichkeit gegen einen angeblich grassierenden Militarismus im Offizierskorps. Aber anstatt sich ruhig zu verhalten und zuzuwarten, bis wieder Ruhe in den Blätterwald und der Bevölkerung eingekehrt wäre, entschied sich Gertsch, eine Abhandlung mit dem Titel Disciplin! oder Abrüsten!12 zu verfassen. In dieser äusserst polemischen Streitschrift sprach er der Armee ihre Kriegsbereitschaft ab und bezeichnete sie als «nicht feldtüchtig». Seines Erachtens fehlte dem Schweizer Milizheer zur «Feldtüchtigkeit» aber nicht etwa modernste Bewaffnung oder eine noch grössere Truppenstärke, sondern primär Soldatendisziplin («Appell») und Offiziersautorität («Adresse»). Diese beiden Prämissen identifizierte er als die zentralen Faktoren zur Überwindung der personellen und materiellen Inferiorität der Schweizer Armee im Vergleich zu den grossen stehenden Heeren der Nachbarländer.13


Ätzende Kritik an Gertschs Erziehungsmethoden: «Schweizerische Militärdressur nach idealem Muster» (Bild: Der neue Postillon, Dezember 1898, S. 1).

Die Resonanz auf sein Pamphlet war beeindruckend, wenngleich das Medienecho mehrheitlich aus Häme und Kritik bestand. Spätestens jetzt war Gertsch der bekannteste Soldatenschinder des Landes und der Inbegriff für das im Offizierskorps angeblich grassierende «Preussentum». Seine Forderungen nach einem neuen Offiziersstandesbewusstsein und einer strengen soldatischen Erziehung stiessen inner- wie ausserhalb des Offizierskorps auf grossen Widerstand. Namhafte Persönlichkeiten aus Politik und Armee veröffentlichten scharfe Repliken und wiesen die Unterstellung, die Schweizer Armee sei kriegsuntauglich, entschieden zurück. Die von Gertsch nach preussisch-deutschem Leitbild gedrillten Soldaten würden nicht der allgemeinen Anschauung des uniformierten Schweizer Bürgers, der – obschon im Wehrkleid – primär Staatsbürger bleibt, entsprechen, sondern vielmehr an mechanische Puppen, das Spottbild preussischer Soldaten, erinnern. Selbst der Vorsteher des Militärdepartements, Bundesrat Emil Frey, sah sich nach einer Interpellation der nationalrätlichen Geschäftsprüfungskommission genötigt, zur «Broschüre Gertsch» Stellung zu nehmen. Vor dem Plenum gestand er vorderhand ein, dass es Mängel im schweizerischen Heerwesen gäbe, doch er war nicht bereit, sich für die inhumanen Disziplinierungs- und Erziehungspraktiken Gertschs einnehmen zu lassen, und betonte, auch weiterhin auf die traditionelle, freiwillige Disziplin der Milizen zu vertrauen.14

Unterstützung erfuhr Gertsch für seine Anschauungen in nur sehr geringem Ausmass. Freilich verfügte die Neue Richtung bereits über einige Parteigänger im Offizierskorps, vorab unter den jungen Instruktionsoffizieren, doch keiner von ihnen wollte sich in der diffizilen Disziplinfrage allzu stark exponieren und damit seine Militärkarriere nachhaltig gefährden. Eine prominente Ausnahme blieb der Kavallerie-Waffenchef Ulrich Wille, der in Gertsch seinen publikumswirksamen Reformator gefunden zu haben schien und sich öffentlich für den viel gescholtenen Infanterieinstruktor einsetzte. Die Begegnung mit dem charismatischen Wille sollte sich für Gertsch als der entscheidende Wendepunkt in seinem Leben herausstellen. Fortan fand Wille in Gertsch einen treuen Anhänger, um nicht zu sagen einen ergebenen Jünger, der ihn in seinen Bemühungen hinsichtlich einer soldatischen Erziehung der Schweizer Milizen tatkräftig und bedingungslos sekundieren sollte.

Kriegsberichterstatter und die Lehren aus dem Russisch-Japanischen Krieg

Als am 9. Februar 1904 die Welt vom Überfall der Japaner auf Port Arthur vernahm, ersuchte Gertsch noch am selben Tag um Abkommandierung als Militärbeobachter auf den ostasiatischen Kriegsschauplatz. Die Kriegsteilnahme war für ihn eine einmalige Chance, die es zu ergreifen galt. Der eskalierende Konflikt zwischen zwei modern ausgerüsteten und gut ausgebildeten Armeen bot ihm nicht nur die Möglichkeit, erstmals Kampfhandlungen aus nächster Nähe mitzuerleben, sondern auch die lang ersehnte Gelegenheit, seine über die Jahre entwickelten Kampf- und Erziehungskonzepte unmittelbar am Kriegsgeschehen zu überprüfen. «Der Krieg zwischen Russland und Japan», hielt Gertsch in seinem Gesuch an den Waffenchef der Infanterie fest, «wird in Anbetracht der Organisation, Bewaffnung und Ausbildung der beiden beteiligten Heere für jede moderne Armee so lehrreich werden wie seit 1870 kein Krieg mehr war. Ich glaube, dass da gerade auch für unsere Armee so wertvolle Beobachtungen gemacht werden können, dass es sich reichlich lohnte, einen oder zwei Offiziere auf den Kriegsschauplatz zu entsenden.»15 Er sollte mit seiner kühnen Prognose recht behalten. Am Ende des Russisch-Japanischen Kriegs wurden die Reglemente aller Heere – auch diejenigen der Schweizer Armee – umgeschrieben und angepasst. Der Bundesrat – sich der Tragweite des Konflikts durchaus bewusst – folgte dem Ansinnen Gertschs umgehend und entsandte Ende Februar eine vierköpfige Mission in beide Heerlager in Ostasien: Zusammen mit dem Kavallerieinstruktor Richard Vogel wurde Gertsch zur japanischen Armee abkommandiert.16

Nach zahlreichen Gefechten und verschiedenen Schlachten kehrte Gertsch reich an Erlebnissen und Erfahrungen vom mandschurischen Kriegsschauplatz in die Schweiz zurück. Von den Russen war er in Übermassen enttäuscht. Wo immer sie sich dem Gegner entgegenstellt hätten, seien sie mit verhältnismässig geringer Mühe zurückgeschlagen worden. Und selbst wenn sie in der Übermacht gewesen seien, seien sie von den Japanern schliesslich niedergerungen worden. Den Grund für diese desolate Vorstellung der russischen Armee erblickte er in erster Linie in den unfähigen Offizieren und den schlecht ausgebildeten Soldaten. Weiter prangerte er die in geschlossenen Formationen vollzogenen Bajonettangriffe der russischen Verbände an, die in keiner Weise den militärtechnologischen Umwälzungen der letzten Jahrzehnte Rechnung tragen würden: «Bis zum letzten Tage wurde überall nach dem ewig gleichen, öden Schema gekämpft: schwache Feuerlinie, starke Reserven, Gegenangriff mit dem Bajonett, wenn die Feuerlinie zurückgeschlagen war. Die vielen, vorher erlebten Misserfolge hatten die Russen nicht zu der Erkenntnis zu bringen vermögen, dass die Reserven zum Feuern eingesetzt werden müssen, oder eine Schwächung der Gefechtskraft bedeuten. Diese Gegenangriffe geschlossener Reserven, mit dem Bajonett, sind ja die unbegreiflichsten aller sonderbaren Erscheinungen dieses Kriegs.»17

Die Japaner hingegen hatten ihn mit ihrer ausgeprägten Todesverachtung und eindrucksvollen Tapferkeit vollauf begeistert. Den Grund für den hohen Ausbildungsstand der Truppe sah er im exzessiven Einsatz von Drillübungen: «Die Japaner drillen tüchtig. Bessere und gleichmässigere Haltung habe ich nie gesehen. Auch nie glattere Gewehrgriffe. Der Paradeschritt war nach unsern Begriffen schlecht, nicht lang genug und mit dem Fuss nicht nahe genug über den Boden hinweg. Aber er war kräftig und von einer Exaktheit, die gar nichts zu wünschen übrig liess.» Die Japaner hätten «von ihrem Ratgeber [den Deutschen – d. A.] gelernt, dass minuziöser Straffheit, als Selbstzweck gepflegt, eine tief gehende Wirkung als Mittel zur Erziehung von Gewissenhaftigkeit und von zuverlässiger Pflichttreue innewohne. […] Das war übrigens dieselbe Erscheinung wie im deutsch-französischen Kriege. Wie dort die Deutschen, so konnten 1904 auch die Japaner gar nicht anders als tapfer sein, weil sie durch straffe Schulung zu exakter Arbeit und damit zu gewissenhafter Pflichterfüllung erzogen waren.»18

Die Schweizer Beobachter – insbesondere die beiden Offiziere im japanischen Heerlager – hatten im Laufe ihrer Mission genügend Erkenntnisse und Eindrücke gesammelt, um nach ihrer Rückkehr in die Schweiz die Reformdebatte nachhaltig zu befruchten. Dabei wurden nicht nur taktische Fragen über Schützenlinien, Artillerieangriffe und Nachtgefechte eifrig diskutiert, sondern auch neue Ausbildungs- und Erziehungskonzepte erörtert. Die Grundlehren, die man aus dem Krieg in Fernost für das Schweizer Heerwesen gezogen hatte, flossen nacheinander in die revidierte Militärorganisation von 1907, ins neue Exerzierreglement für die Infanterie von 1908 sowie in die neue Truppenordnung von 1911 ein. Die theoretische Auseinandersetzung mit den Erfahrungen aus dem Russisch-Japanischen Krieg verlief jedoch alles andere als reibungslos. Schuld daran waren vor allem Dissonanzen in den höchsten Kreisen des Schweizer Offizierskorps – Unstimmigkeiten, an denen Gertsch nicht ganz unbeteiligt war.

Gertsch wollte seine Erlebnisse und Erfahrungen nicht wie die anderen Schweizer Beobachter bloss dem Militärdepartement vorlegen. Vielmehr beabsichtigte er seine Theorien mit einer gross angelegten Publikation – sie sollte am Ende auf zwei Bände anwachsen – einer breiten Leserschaft zugänglich zu machen. Er erhoffte sich dadurch nicht zuletzt eine Stärkung seiner Autorität als militärischer Fachmann. Sein Schlusszitat: «Möge es mir gelingen, in meinem Lande Gehör zu finden!», bewahrheitete sich mehr, als ihm lieb war – allerdings nicht in seinem Sinne. Gertsch verwickelte sich nach Veröffentlichung seiner Bände in heftige Auseinandersetzungen – unter anderem mit dem Generalstabschef Theophil Sprecher von Bernegg –, die ihn schliesslich seine Anstellung als Instruktionsoffizier kosten sollte.

Stein des Anstosses war das Schlusskapitel des zweiten Bands, in welchem Gertsch seine Erkenntnisse aus dem fernöstlichen Kriegsgeschehen zusammenfasste und daraus teilweise sehr umstrittene Schlüsse für das schweizerische Heerwesen zog. Seine Kernaussage war, dass die gebräuchlichen Formen des Kampfes an die Eigenschaften moderner Waffen angepasst werden müssen. Hiervon war Gertsch felsenfest überzeugt und postulierte daher eine «lichte» Schützenlinie, die in ihrem Aufbau nicht starr, aber auch nicht zu locker sein dürfe: «Die Schützenlinie muss deshalb mit Zwischenräumen von ein bis zwei Schritt gebildet werden. […] So gebildet, hat die Schützenlinie die grösster Feuerkraft. Es gibt keine andre Formation, die ihr an Kampfwert auch nur annähernd gleichkäme. Vor ihr brechen dichtere Schützenschwärme oder gar Massen rettungslos zusammen.» Die Idee von der Stosskraft dichter, geschlossener Truppenkörper entspreche dagegen mittelalterlichen Vorstellungen.19

Mit einem System von kleinen und grossen Reserven hinter den Schützenlinien seien die Russen den Japanern entgegengetreten und «wurden von deren geschmeidigen, reinen Schützenlinien durch die Mandschurei hindurchgejagt».20 Für Gertsch hatte diese – in der Schweiz vor allem bei Manövern praktizierte – «Reserventaktik» mit ihrer starren Tiefengliederung mit dem Russisch-Japanischen Krieg endgültig ausgedient.21 Es sei eine Kampfweise, die den anhaltenden militärtechnologischen Fortschritt und die damit einhergehende Steigerung der Waffenwirkung nur noch unzureichend berücksichtige.

Gertschs Idee einer aufgelockerten und breit gegliederten Schützenlinie als Kampftechnik sine qua non stellte an die Truppenausbildung indessen eine paradoxe Anforderung: Einesteils sollten die Soldaten befähigt werden, selbstständiger und verantwortlicher zu handeln, gleichzeitig musste ihr Gehorsam aber noch disziplinierter sein, damit sie sich auch unter den schwierigsten Verhältnissen und ohne unmittelbaren Kontakt mit einem Vorgesetzten in dessen Sinn verhielten. Dies war für Gertsch jedoch kein unüberwindbarer Widerspruch. Er erblickte im rein formalen Erziehungsdrill ein probates Mittel, um den Soldaten bedingungslose Subordination und zugleich taktische Disziplin zu internalisieren. Auf diese Weise rückte der Erziehungsdrill in den Mittelpunkt der soldatischen Ausbildung. Die Schulung des Soldaten zum tapferen und taktisch gewandten Kämpfer, so Gertsch, «ist die stolze und schöne, aber auch alleinige Aufgabe der Rekrutenerziehung und der elementaren Weiterbildung des Soldaten. Was dabei sonst noch nebenherläuft, ist an und für sich nichtig und muss dem grossen Zwecke ebenfalls dienstbar gemacht werden.»22

Die Theorie einer lichten, aufgelockerten Schützenlinie war für die damalige Zeit geradezu revolutionär. Deshalb musste er sich auch zahlreiche Anfeindungen gefallen lassen. Doch blind vor Überzeugung, seit seiner Rückkehr aus der Mandschurei eine unantastbare Autorität in Fragen der taktischen Gefechtsführung geworden zu sein, erkannte er nicht, dass genau diese kompromisslose Haltung ihn angreifbar machte. Je mehr er sich in seinen Kriegslehren angegriffen fühlte, desto unversöhnlicher bezog er Position und umso kämpferischer gab er sich seinen Gegnern gegenüber – auch gegenüber militärischen Vorgesetzten. Dies konnte nicht lange gut gehen, und so wurde er 1910 zuerst von seinem Brigadekommando enthoben und 1911 infolge einer in den Zeitungen ausgetragenen Auseinandersetzung mit dem Chef der Generalstabsabteilung, Theophil Sprecher von Bernegg, aus dem Instruktionsdienst entlassen.23

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