Читать книгу: «Handbuch Gender und Religion», страница 7

Шрифт:

Kristina Göthling-Zimpel

»Schuld ist nur der Feminismus«

Antifeminismus und Antigenderismus in der gegenwärtigen Debatte

Feminismus und Antifeminismus sind zentral miteinander verwobene Ideen.1 Als Reaktion auf feministische Errungenschaften erlebt die Gegenbewegung Antifeminismus gegenwärtig einen Aufschwung, weil dieser behauptet, der Feminismus sei der »wesentliche Grund für den Niedergang der Zivilisation«.2

Häufig wird Antifeminismus mit Misogynie assoziiert oder gar gleichgesetzt: Dieser Umstand lässt sich daraus ableiten, dass misogyne Ansichten die Weichen für Antifeminismus stellten. Antifeminismus baut zentral auf misogynen Argumentationsmustern auf, existiert aber erst seit dem Aufkommen des Feminismus und richtet sich vornehmlich gegen feministische und emanzipatorische Bestrebungen. Antifeminismus ist eine etablierte Weltsicht, die sich als Gegenbewegung zum Feminismus ausformte. Er ist prozesshaft und tritt in unterschiedlichen Ausprägungen auf.3 Gegenwärtig richtet sich Antifeminismus zentral auf den Begriff Gender. Anhänger_innen des Antifeminismus unterstellen dem analytischen Begriff Gender, der eigentlich auf die soziale Konstruktion von Geschlechterverhältnissen verweisen soll, »eine nicht-natürliche, damit also post-essentialistische Fassung von Geschlecht (und Sexualität)«4 zu sein. Mit anderen Worten: Gender und sex werden nicht als relationale Größe verstanden, sondern vielmehr als sich ausschließende Konstanten, die in Konkurrenz zueinanderstehen: Übergeordnetes Ziel von Gender soll, so die Logik des gegenwärtigen Antifeminismus, ein geschlechtsloser Mensch sein.5 Wer sich auch nur ein wenig mit den Begrifflichkeiten auseinandersetzt, dem sollte bewusst sein, dass derartige Forderungen nicht auf der Agenda der akademischen Gender Studies zu finden sind. Dennoch können sich solche Behauptung im Diskurs verankern, da »der Gender-Begriff das Apriori einer gegebenen, unveränderlichen und naturhaften Essenz der Geschlechterdifferenz«6 hinterfragt und somit grundlegend verunsichert.

Gegenwärtig findet sich die Vorstellung von Gender als Genderideologie in den Parteiprogrammen populistischer Parteien Europas wie auch in der sogenannten Alt-Right-Bewegung in den USA.7 Einen neuen Höhepunkt konnten diese Ansichten unter anderem durch christlich-fundamentale Gruppen erlangen.

Im Folgenden will ich dem facettenreichen Netzwerk des Antigenderismus genauer nachgehen und den wechselseitigen Zusammenhang zwischen Antifeminismus und Religion aufzeigen.

1 Von Antifeminismus zu Antigenderismus

Antifeminismus gilt als eine, auf »[…] konkrete historische Prozesse der Emanzipation reagierende weltanschauliche Bewegung, der es um die Gegnerschaft zu […] Prozessen der gesellschaftspolitischen Liberalisierung und Entnormierung von Geschlechterverhältnissen geht sowie um die Aufrechterhaltung heteronormativer Herrschaftsverhältnisse«.8 Antifeminismus vertritt somit konservative Ansichten zu Geschlechterrollen und determiniert diese zumeist biologisch.9

Gegenwärtig lassen sich Veränderungen innerhalb des Antifeminismus ablesen: So thematisierte der Antifeminismus in den 1990ern bis zu Beginn der 2000er vor allem Männer, konkret unter anderem Männerdiskriminierungen oder auch die Verfestigung männlicher Herrschaft. Seit den 2010ern steht nun die Kleinfamilie – Vater, Mutter, Kind(er) – im Zentrum. Der Soziologe Sebastian Scheele spricht diesbezüglich von einer diskursiven Verschiebung von einem männerzentrierten zu einem familienzentrierten Antifeminismus. Hierbei wechseln auch die zentralen Themen vom Geschlechterkampf zu Frühsexualisierung.10 Antigenderismus stellt – im historischen Prozess betrachtet – die gegenwärtige Form des Antifeminismus dar und inkludiert somit antifeministische und misogyne Argumentationen.11

In einigen Teilen Europas, so unter anderem Deutschland, Frankreich, aber auch in den USA wird Antigenderismus vor allem aus drei Spektren heraus betrieben: Erstens aus der Männerrechtsbewegung, die sich maßgeblich virtuell organisiert. Zweitens aus fundamental-christlichen Kreisen, wie auch drittens aus dem Rechtspopulismus und dem rechtsextremen Spektrum.12

Die Politikwissenschaftlerin Birgit Sauer benennt insgesamt sechs Argumentationsmuster, die der Antigenderismus nutzt und die ihm Erfolg versprechen. Erstens die Argumentation einer natürlichen Zweigeschlechtlichkeit, die zu traditionellen Männer- und Frauenbildern führt und folglich geschlechtsspezifische Arbeitsteilung legitimiert.13 Interessant ist hierbei, dass dennoch tendenziell Frauen und Männern gleiche Rechte zugesprochen werden. Die Soziologinnen Sabine Hark und Paula-Irene Villa bezeichnen diesen Umstand als »historisches Novum«, da eben nicht gegen Feminismus mobilisiert wird, sondern »gegen ein akademisches Konzept […]: Gender«.14 Zweitens den Schutz der heterosexuellen Kleinfamilie, die als Keimzelle des Staates verstanden wird und mit christlich-konservativen Werten aufgeladen ist. Diese Sichtweise auf Familie ist nicht nur homophob, rassistisch und nationalistisch – sie ist zudem auch aus postkolonialer Sicht zu kritisieren, wie die südafrikanische Soziologin Haley McEwen herausstellt:

[T]he antigender notion that the »natural family« is timeless and universal is a form of epistemicide that denies and erases diverse kinship structure, gender and sexuality identities that existed in precolonial indigenous societies, and which continue to exist around the world.15

Drittens werden diese beiden erstgenannten Argumente durch die Rhetorik des Kindeswohls verstärkt. An der Figur des Kindes werden Themen wie Elternrecht und Sexualerziehung in öffentlichen (Bildungs-)Einrichtungen mitverhandelt. Viertens die Vorstellung, dass Gender als Genderideologie wirken würde und so die Umwelt der Bürger_innen komplett umgestalten wolle. Fünftens verknüpft sich die Kategorie Religion mit Antigenderismus mit Rückgriff auf die Kategorie Ethnie, indem ein kolonialistisches Bild eines emanzipierten Okzidents dem rückschrittlichen, intoleranten Orient gegenübergestellt wird. Sechstens ein Anti-Intellektualismus: Der Antigenderismus adressiert hier Gleichstellungspolitiker_innen und Professor_innen, deren Denomination Gender umfasst.16 Hierbei wird der akademischen Disziplin der Gender Studies eine erhebliche Machtposition zugesprochen und gleichzeitig Unwissenschaftlichkeit vorgeworfen.17 Mit diesem offenen Konzept kann der Antigenderismus weitestgehend milieuübergreifend wirken.18 Auffallend ist, dass Antigenderismus besonders Zuspruch aus dem bürgerlich-christlichen Milieu erhält. Dies verweist bereits auf die enge Verzahnung von Antigenderismus und Religion.19 Zudem inszeniert sich Antigenderismus als junge Bewegung unter anderem, indem sie ihre religiösen Bezüge zu verschleiern versucht: »In most cases, the movement tries to hide its religious connections and create a secularising selfimage that cannot be reduced to previous forms of conservative resistance against gender equality and sexual rights.«20

Antigenderismus als Form des Antifeminismus ist somit keine »in sich geschlossene Ideologie, sondern ein ideologisches Versatzstück unterschiedlicher Akteure mit jeweils eigenen weltanschaulichen Verhaftungen«.21 Mit der Politikwissenschaftlerin Elizabeth S. Corredor verstehe ich Antigenderismus als soziale Gegenbewegung. Antigenderismus befindet sich gegenwärtig in einem Aushandlungsprozess zum Feminismus und zur Geschlechterforschung. Diese Sichtweise ermöglicht es, die antifeministische und antigenderistische Bewegung als »global phenomena« zu verstehen, »that exceed generalized resistance and […] involve coordinated, well-organized, and well-resourced actors whose interests are to preserve traditional values of gender, sex, and sexuality«.22

2 Antigenderismus/Antifeminismus im Internet

In der Betrachtung von Antigenderismus und Antifeminismus kommt dem Internet eine Schlüsselfunktion zu: Das Internet bietet den virtuellen Raum des Austauschs und dient der Vernetzung.23 Diese Verknüpfung lässt sich über die Entwicklung einer Netzöffentlichkeit erklären, die die Veränderung von Journalismus und Politik ermöglichte. Diese Form sollte zunächst zu einer höheren Sichtbarkeit und Hörbarkeit von marginalen Stimmen führen und folglich mehr Gleichberechtigung bedingen. Seit 2013/2014 ist eine Verrohung der Kommunikation unter dem Deckmantel der (Teil-)Anonymität im digitalen Raum abzulesen: hierzu zählen Shitstorms, Hatespeech und Cybermobbing. Personen, die online offen über Feminismus und Geschlechterverhältnisse sprechen, sind dabei besonders stark von einer »›Enthemmtheit‹ der Diskussionskultur«24 betroffen. Die Verstärkung dieses Phänomens wird mit dem sogenannten Echokammer-Effekt beschrieben – indem sich Menschen mit Gleichgesinnten in ihrer Filter-Bubble umgeben, die ihre Meinung teilen und wiedergeben, können sich »Positionen zuspitzen, radikalisieren und gegen andere Positionen abschotten«.25

Sichtbar wird die Bedeutung der internetbasierten Vernetzung beispielsweise daran, dass viele antigenderistische Offline-Aktionen wie Demonstrationen weitgehend unbekannt sind, aber dennoch eine virtuelle »milieuübergreifende Vernetzung verschiedener Personenkreise und Gruppierungen, die zuvor keine Berührung miteinander gesucht hatten«26 stattfand. Das Internet nimmt somit eine zentrale Vergemeinschaftungsfunktion ein.27

2.1 #MeToo, feministische Vernetzung und Empowerment

Die Sichtbarkeit feministischer Themen ist durch das Eindringen in die digitale Öffentlichkeit ebenfalls stark erhöht worden. Hashtags wie #aufschrei, #MeToo und #TimesUp haben den Diskurs um sexualisierte Gewalt, Objektivierung und Sexismus befeuert und sichtbar gemacht. Auch diente das Internet als Möglichkeit der Vernetzung und konnte betroffene Personen empowern, indem ihre Sprachlosigkeit durchbrochen wurde und (virtuelle) Gemeinschaft entstand.28 Die Hashtags machten sichtbar, was in den Gender Studies und Sozialwissenschaften bereits wissenschaftlicher Konsens war – Millionen Frauen hatten Erfahrungen mit Sexismus in unterschiedlicher Stärke gemacht.29

Das soziale Netzwerk Twitter ermöglicht durch das Einbinden von Hashtags ein einfaches Instrument zur Netzwerkbildung und zum Erreichen einer breiteren Öffentlichkeit. Dies gelang 2013 beispielsweise mit dem #aufschrei, der Alltagssexismus thematisierte und von der Feministin Anne Wizorek ins Leben gerufen wurde. Andere Beispiele sind u.a. #whyIstayed und #whyIleft, die sich mit häuslicher Gewalt auseinandersetzten. Das Erfolgskonzept der Hashtags liegt hier einerseits in der Teilanonymität von Twitter (virtuelle Kommunikation, nur teilweise Klarnamen) und anderseits in dem Kreieren eines Safespace, der durch gegenseitige Bestätigung entsteht und so Ohnmachtsgefühle überwinden kann.30

Ein anderes Ausmaß nahm die Sichtbarkeit des Hashtags #MeToo an, der innerhalb kürzester Zeit zu einer eigenen Bewegung wurde. Schlüsselfiguren sind hier die Menschenrechtsaktivistin Tarana Burke – die erstmals den Ausdruck MeToo (hier noch offline) nutze, um auf sexualisierte Gewalt aufmerksam zu machen, wie auch die Schauspielerin Ashley Judd, die 2018 eine Klage wegen sexueller Belästigung und den damit verbundenen negativen Folgen für ihre Karriere gegen den Filmproduzenten Harvey Weinstein erhob und zudem zu einer der ersten gehörte, die ihn öffentlich der sexuellen Belästigung beschuldigte. Eine weitere Schlüsselfigur ist die Schauspielerin Alyssa Milano, die 2017 den Hashtag #MeToo startete. #MeToo wurde zur Bewegung, in andere Sprachen übersetzt und schuf ein transnationales feministisches Netzwerk. Als Reaktion auf #MeToo trugen viele Schauspieler_innen auf den Golden Globes 2018 schwarze Kleidung und kamen in Begleitung eines_einer Aktivist_in. Zudem wurde der Hashtag #TimesUp gegründet, der Taten nach #MeToo fordert: TimesUp gilt als Bewegung aus #MeToo und hat beispielsweise 22 Millionen Dollar zur Unterstützung von Frauen, die sexuell belästigt wurden, gesammelt.31

Die Soziologin Ilse Lenz spricht #MeToo ein produktives Potenzial zu, das neue Impulse setzt, ist doch die Kernaussage: »Frauen [wollen] selbst ihren Körper und ihre Sexualität bestimmen […]: Sie wollen Erotik, Flirts und Sexualität leben und von sich aus gestalten und nicht mehr als Objekt von Gewalt und Belästigung dienen.«32 Die Debatte, die #MeToo nach sich zog, verhandelt zentral die Themen Fremdbestimmung und (erwünschte) Sexualität wie auch gegenseitige Solidarisierung. Kritiker_innen der Bewegung problematisierten Täter_innenpersonalisierung und bezeichnen #MeToo als Ausdruck von Männerhass. Aufgefangen wurde dies u. a. durch Männer, die #MeToo ebenfalls nutzten, und durch die Kampagne #Him-Tough, die männlichen Aktivismus gegen sexuelle Gewalt sichtbar machte. Zudem wurde Aktivistinnen (hier spezifisch weiblich) von #MeToo vorgeworfen, sie seien lediglich prüde – der Prüderievorwurf ist ein wiederkehrendes Motiv im Kontext antifeministischer Gegenrede.33 #MeToo macht die Verwobenheit verschiedener Diskurse öffentlich. So formuliert Paula-Irene Villa: »Wir haben es […] unter der Chiffre #metoo mit einer allgegenwärtigen Struktur zu tun, die sich gleichwohl sehr heterogen, graduell und vor allem höchst kontextspezifisch realisiert.«34 Zentral für den Erfolg von #MeToo ist jedoch die Prominenz der beteiligten Personen, die ihre Öffentlichkeit für den Diskurs nutzen konnten.

#MeToo ist ein eindringliches Beispiel für feministische Netzwerke und deren Wirkmächtigkeit, visualisiert der Hashtag doch die erschlagende Menge an Erfahrungen sexueller Gewalt von Frauen und ordnet sie strukturell ein. Dass der Hashtag so ein Potenzial entwickeln konnte, führt die Kulturwissenschaftlerin Gabriele Dietze auch auf die Präsidentschaft von Donald Trump zurück, die zu einer »Renaissance des Frauenrechts-Aktivismus geführt«35 hat.

2.2 Von der Mannosphäre zu Incels

Die politische Lage in den USA während der Präsidentschaft von Donald Trump verstärkt also auf der einen Seite feministischen Aktionismus; auf der anderen Seite steht die Alt-Right-Bewegung, die mittels rechtspopulistischer Strategien an Aufmerksamkeit gewinnt. Mit der Idee der White Supremacy – die Vormachtstellung des Weißen Mannes – inkludiert diese Bewegung Islamfeindlichkeit, Rassismus und Antisemitismus. Ihre Präsenz und Vernetzung findet meist online statt – von dort aus gelangt sie als Konzept zu unterschiedlichen Gruppierungen.36

Die sogenannte Manosphere oder Mannosphäre bezeichnet ein Netzwerk von Männerrechtsaktivisten (explizit männlich), deren Spektrum von gemäßigt bis zu radikal reicht.37 Einend ist die Thematisierung von Männlichkeit, meist auch im Verhältnis zu Weiblichkeit: Nicht ausreichende oder verweiblichte Männlichkeit wird bloßgestellt, angeprangert und für gesellschaftliche Missverhältnisse verantwortlich gemacht. Hier offenbart sich ein Bild toxischer Männlichkeit, die eine aktive, aggressive, omnipotente Männlichkeit priorisiert.38 Mittels dieser Argumentationsmuster werden auch Antifeminismus und Antigenderismus zentrale Motive: Feminismus sei verantwortlich für gesellschaftliche Missstände, Frauen verhielten sich nicht mehr so, wie sie es biologisch eigentlich tun sollten, folglich gehorchten sie Männern nicht und seien unabhängig, dies führe zu einer abnehmenden Präsenz von hegemonialer Männlichkeit.39 Die Konfliktforscherin Shannon Zimmermann, die Juristin und Kommunikationswissenschaftlerin Luisa Ryan und der Internationalisierungsforscher David Duriesmith formulieren diesen Umstand für die Bewegung der Incelsinvoluntarily celibate (»unfreiwillig zölibatär«) – treffend: »Incel ideology is predicated on the notion that feminism has ruined society, therefore there is a need of a ›gender revolt‹ in order to reclaim a particular type of manhood on both male and white superiority.«40 Weiter halten sie fest: »Incels believe […] by defending women’s bodily autonomy, feminism has upset the natural order which organizes society around monogamous heterosexual couplings.«41

Historische und gegenwärtige (radikalere) Männerrechtsnetzwerke sind »geprägt von verunsicherten Männern«,42 die versuchen, den »Einbruch in die Exklusivität«43 des Weißen Mannes aufzufangen: Diese Netzwerke können als Strategien der Ermächtigung gelesen werden, die versuchen, dem (tatsächlichen oder drohenden) Machtverlust entgegenzuwirken.44 Diese Bewegung befindet sich noch in der Formierungsphase – ein fester Bestandteil und ein identitätsstiftendes Argumentationsmuster ist, dass der Feminismus als monolithisch und mächtig imaginiert wird, der Männer in eine Opferrolle drängt und so traditionelle Geschlechterbilder zerstört hat.45 Ich möchte an dieser Stelle jedoch betonten, dass sich innerhalb dieses Netzwerks auch Aktivist_innen bewegen, die sich mit realen Themen wie männlichen Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen, Selbstmord oder Vaterschaftsrechten auseinandersetzen.46 Dennoch bietet dieses Netzwerk in Form einer Echokammer gerade radikaleren Positionen die Möglichkeit, weitestgehend anonym zu existieren und sich weiter zu verstärken.

Ein stehender Ausdruck im Kontext der Mannosphäre ist being red pilled – eine Anspielung auf den Film THE MATRIX (The Wachowskis, US 1999), der das Erwachen aus einer Illusion – der Feminismus ist schuld am Untergang der Welt – bezeichnet. Das Reddit47 Subforum Red Pill gilt als ein tragender Pfeiler innerhalb der Mannosphäre und ist zudem als besonders radikal anzusehen. In diesem Netzwerk haben sich unterschiedliche Gruppen entwickeln können: so beispielsweise die MGTOWMen going their own way, die stufenbasiert organisiert sind, oder die Proud Boys, die das Ablehnen männlicher Masturbation in das Zentrum ihrer Motivation stellen. Die erfolgreiche Bewegung Incels spricht vor allem das Single-Milieu an.48 Ein prominenter Vertreter ist beispielsweise der Incel Hero Elliot Rodger, der 2014 in Santa Barbara sechs Menschen tötete und dessen Manuskript My Twisted World ein Referenzwerk in der Incel-Community wurde. Incels empfinden sich als unzureichende Männer, die aufgrund unterschiedlicher Selbstzuschreibungen – hässlich, dumm, kein Selbstwertgefühl – meist zu einem Leben als männliche Jungfrauen verdammt seien.49 Dieses Empfinden kanalisieren sie in einem Hass auf die konstruierten Gruppen der Stacys – hübsche, junge Frauen – und der Chads – attraktive Männer.50 Gemein ist der Bewegung ein Antifeminismus, der sich unter anderem in misogyner Sprache ausdrückt.

Die Gruppe der Incels kann als Interaktionskette zur Verfestigung misogyner Traditionen verstanden werden. Das Internet übernimmt hier – ähnlich wie häufig auch Religion – eine vergemeinschaftende Funktion, sodass eine (virtuelle) Gemeinschaft der Incels entsteht, die gemeinsame Normen und Wertvorstellungen formuliert und teilt. Letzteres gelingt spezifisch durch die Imagination eines Feindbilds – einer Outgroup – dem Feminismus und den Frauen.

Wenn sich dieser Hass manifestiert, kann er sogar zu Gewalt führen. Ein ausdruckstarkes Beispiel hierfür sind Amokläufe: Diese stellen im Kontext der Betrachtung fragiler Männlichkeit die Möglichkeit »to demonstrate themselves as powerful and superior for committing an act of dominance against others who they viewed as inferior«.51 Erfahrene Frustration und der Zugang zu potenziell tödlichen Waffen ermöglichen so die Ausbildung gewaltvoller Männlichkeit, der systematischer Frauenhass zugrunde liegt. Gegenwärtig häufen sich Anschläge, die offen Misogynie und Antifeminismus als Tatmotiv artikulieren. Ein einschneidendes Erlebnis in diesem Kontext ist der Anschlag von Anders Behring Breivik auf der Insel Utøya am 22.07.2011, bei dem insgesamt 77 Menschen zu Tode kamen. In seinem Manifest benennt er neben dem Feminismus besonders den Verschwörungsmythos der Umvolkung, demnach es in Europa zu einer Islamisierung kommen würde, herbeigeführt durch liberale Migrations- und Integrationspolitik. Der gegenwärtige aktuellste Anschlag in dieser Tradition ereignete sich am 19.02.2020 in Hanau. Der islamfeindliche Amoklauf von Tobias Rathjen forderte zehn Menschenleben. Der Mörder benennt in seinem Pamphlet eine geheime Organisation, die ihn an einem erfüllten (sexuellen) Leben hindere. Er stellt sich zudem selbst in Verbindung zu Anders Breivik.

Antifeminismus fungiert innerhalb dieser Gewalttaten als zentrales Tatmotiv, das zudem medial verbreitet wird. Als Rechtfertigung dient er als Kitt zwischen verschiedenen Ideologien wie Rassismus, Islamfeindlichkeit und Antisemitismus: Aufgrund der Emanzipation würden die Geburtenraten sinken – einem demografischen Wandel könne nur durch eine Zuwanderung entgegengewirkt werden. Diese Verschwörungsidee inkludiert das stereotype Bild der Muslimin als gefährliche Gebärmaschine. Diese Vorstellung des mächtigen Feminismus und somit die Verankerung in Verschwörungsideologien wird gegenwärtig im Kontext von Antigenderismus als Genderideologie bezeichnet.52

2 790,68 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
906 стр. 61 иллюстрация
ISBN:
9783846357149
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают