Читать книгу: «Die Messermacher», страница 3

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Während zur gleichen Zeit ein paar Häuser weiter in der Nachbarschaft der Angerers ein alter Schäferhund sabbernd vor einem Gartenzaun saß und sehnsüchtig zu seiner Lieblingshündin starrte, saß im fernen Görlitz ein völlig verstörter alter Mann mit langen, weißen Haaren auf einem Baumstamm. Mit hängendem Kopf zeichnete er mit einem Stock Kreise in den Sand zu seinen Füßen. Er hatte keinen Blick für die Schönheiten der Natur, die sich hier an diesem kleinen See inmitten eines großen Campingplatzes zeigten. Zu dieser frühen Jahreszeit war hier noch nicht viel los, nur ein paar Dauercamper in ihren Holzhütten waren anwesend. Er war erst seit ein paar Minuten hier, obwohl er wie ein Wahnsinniger gefahren war. Noch jetzt wunderte er sich, dass ihn niemand angehalten hatte. Mit seinem knallroten Mercedes fiel er doch recht auf und es passierte ihm des Öfteren, dass er in Polizeikontrollen geriet. Zwar hatte er das Typenschild mit den verräterischen Zahlen E 500 abnehmen lassen, dennoch sah man seinem schnittigen Wagen an, dass er einiges unter der Haube hatte. Trotzdem war es ihm wegen dem Gerede der Leute im Dorf wichtig gewesen, dass niemand wusste, welchen Typ er genau fuhr. Er wollte nicht noch mehr Getratsche über sich und seine Familie. Es reichte schon, wenn seine Tochter mit einem neuen Porsche und seine Söhne mit teuren Oldtimern herumfuhren. Doch die Gedanken um die familiären Fahrzeuge hatten ihn nur kurzfristig von seinem eigentlichen Problem abgelenkt – er hatte vor ein paar Stunden seine Frau verloren und war Hals über Kopf geflüchtet!

Wie hatte es nur dazu kommen können?

Warum hatte er sich schon wieder so von seiner Frau drangsalieren lassen? Er hatte es kaum noch ertragen können. Dabei wusste er gar nicht mehr, was sie gesagt oder getan hatte, um ihn derart in Rage zu versetzen, dass er … was?

Was hatte er gemacht? Hatte er überhaupt etwas getan?

Er konnte sich nicht mehr genau daran erinnern – nur noch, dass ihre Atmung plötzlich ausgesetzt hatte! Dass es noch dunkel war, das wusste er noch. Der Vollmond hatte den Garten erhellt, das hatte er unbewusst wahrgenommen, als Adele mitten in der Nacht nach ihm gerufen … nein … geschrien hatte und er aus seinem Fernsehsessel aufgefahren war, in dem er wohl eingeschlafen sein musste. Was hatte sie gewollt? Musste sie zur Toilette oder hatte sie nur schlecht geträumt, so wie fast jede Nacht und bei Vollmond am schlimmsten? Auch das wusste er nicht mehr.

Wütend schleuderte er seinen Stock ins Wasser, nicht merkend, dass der Hund von nebenan schon die ganze Zeit dieses für ihn so interessante Spielzeug nicht aus den Augen gelassen hatte. Kaum schlug das Holzstückchen auf dem Wasser auf, war der Hund auch schon hinterhergesprungen und paddelte nun darauf zu. Es war ein mittelgroßer schwarz-weiß gepunkteter Rüde mit einem schwarzen Ohr und athletischer Figur. Mühelos schwamm das anmutige Tier zu seiner Beute, schnappte sie und brachte sie zum Werfer zurück.

„Amigo!“, rief eine weißhaarige Frau neben ihm. „Aus!

Lass den Herrn in Ruhe!“ Mit diesen Worten nahm sie ihrem hübschen Hund das Stöckchen aus dem Maul und reichte es dem ebenfalls weißhaarigen Mann mit der kleinen Nase und den kleinen, traurigen braunen Augen, der es gedankenverloren entgegennahm.

Was sollte er mit dem Ding? Er hatte es doch loswerden wollen. Warum gab die Frau es ihm zurück? Missmutig schaute er auf und blickte in zwei ungewöhnliche Augen! Eines war hellbraun und das andere eher grün und die Haare der etwas älteren Frau waren wirklich schneeweiß. Sie war braun gebrannt und sah trotz ihres Alters noch sehr attraktiv aus.

„Entschuldigen Sie, gnädige Frau. Ich wollte Ihren Hund nicht aufscheuchen. Tut mir leid.“ Damit wollte er sich schon wieder abwenden, doch die Frau sagte beschwichtigend:

„Sie können doch nichts dafür, dass mein Amigo hinter allem herrennt, was vor ihm wegläuft oder –fliegt. Seinen Jagdtrieb krieg ich einfach nicht aus ihm raus! Wer weiß, welche Rassen sich in ihm vereinigt haben?“, lachte sie und wuschelte ihrem Mischling dabei den Kopf. Sofort begann dieser, wie aufgezogen um sie herum zu hüpfen. Es gab nur eine Möglichkeit, ihn loszuwerden und so warf Reno den Stock nochmals in Richtung See, diesmal aber so weit, wie er nur konnte. Das sollte diesen verrückten Hund eine kurze Weile beschäftigen. Die wollte er nutzen, um sich vorzustellen, denn seine gute Erziehung war stärker, als der Wunsch, endlich allein zu sein und mit seinem Schicksal zu hadern.

„Darf ich mich vorstellen? Mein Name ist … Re … äh … Renato … Delfi. Ja … Renato Delfi“, sagte er nach seiner Stotterei nochmals bekräftigend. Warum er nicht seinen richtigen Namen gesagt hatte, wusste er nicht genau. Irgendwie erschien es ihm in seiner momentanen Lage besser so. Vielleicht suchte die Polizei bereits nach ihm? Als Vermissten oder sogar schon als Mörder seiner Frau? Wer konnte das wissen? Doch sofort gab er sich selbst die Antwort: Seine Familie würde es wissen – sicher war die Polizei und der Arzt und wahrscheinlich auch schon der Bestatter in seinem Haus gewesen. Oder waren die nicht so schnell? Immerhin war es erst kurz vor elf Uhr. Über diese Grübeleien hatte er den Namen gar nicht mitbekommen, mit dem sich sein Gegenüber gerade vorgestellt hatte.

„Entschuldigen Sie bitte, wie war Ihr Name? Ich habe ihn nicht richtig verstanden“, versuchte er sich rauszureden, doch die Dame war sehr feinfühlig. Längst hatte sie gemerkt, dass dieser feine Herr mit seinen Gedanken ganz woanders war. Sie wiederholte nur kurz ihren Namen und so erfuhr er nun doch noch, dass sie Helene Maiers hieß und hier auf diesem Campingplatz ihren einzigen Wohnsitz hatte.

„Ich lasse Sie nun in Ruhe, damit Sie weiterhin Ihren Gedanken nachhängen können. Ich sehe doch, dass Sie nicht ganz bei der Sache sind, und will Sie nicht länger stören. Und mein Amigo auch nicht“, fügte sie hinzu und packte ihren pudelnassen Hund am Halsband, kaum dass er die Pfoten ans Ufer gestellt, sich ausgiebig geschüttelt hatte und das Stöckchen dem netten Herrn in die Hand drücken konnte.

„Entschuldigung …“, hob Reno an, doch Frau Maiers schüttelte nur lächelnd den Kopf.

„Entschuldigung ist wohl Ihr zweiter Vorname, was? Machen Sie sich keine Gedanken. Hier kommen viele Leute her, um mit sich alleine zu sein und ihre Ruhe zu haben. Das bin ich gewohnt. Ich liebe ja auch meine Einsamkeit hier. Melden Sie sich doch einfach, wenn Sie etwas brauchen, ja?“, fragte sie freundlich und ihr Lächeln zauberte doch tatsächlich ein kleines, schiefes Grinsen in Renos Gesicht.

„In Ordnung, Frau Maiers. Ich komme ganz bestimmt auf Ihr Angebot zurück“, murmelte Reno immer noch etwas zerknirscht, doch sein Gegenüber lächelte und streckte ihm ihre sonnenverwöhnte Hand entgegen.

„Ich bin die Helene. Hier duzen sich alle.“

„Reno … ato. Entschuldigen Sie … schon wieder … aber meine Freunde nennen mich Reno, deshalb verplappere ich mich andauernd“, stammelte er und wurde rot wie ein kleiner Schuljunge, während er das Holzstück unbeholfen in seinen Händen hin und her wandern ließ. Der Hund ließ ihn dabei keine Sekunde aus den Augen, so als wolle er den Zeitpunkt des Wurfes auf keinen Fall verpassen.

„Kein Problem … Reno. Wenn ich Sie auch so nennen darf?“, fragte Helene und auch ihre Wangen zeigten eine leichte Röte, die man wegen ihrer braungebrannten Haut aber kaum wahrnahm.

„Selbstverständlich können Sie … äh … kannst du mich Reno nennen. Wenn hier alle per Du sind …“, sagte Reno, war jedoch mit seinen Gedanken schon wieder ganz woanders. Immer wieder schweifte er ab, was man ihm wohl erneut ansah, denn Helene winkte ihm lächelnd zu, während sie ihren Hund am Halsband schnappte und mit ihm in ihren kleinen Bungalow ging. Widerwillig ließ sich Amigo mitziehen, denn eigentlich wollte er viel lieber mit seinem neuen Freund Stöckchenwerfen spielen. Das Holzstück hatte Reno inzwischen, ohne es bemerkt zu haben, fallen gelassen und so kostete es Helene einige Mühe, ihren Hund davon zu überzeugen, dass das Stöckchen nicht mehr für ihn bestimmt war.

Gebeugten Hauptes ging der Vierundsiebzigjährige nun zurück zu seinem gemieteten Häuschen. Mit seinem schlurfenden Gang sah er um Jahre älter aus. Gerade so, als müsse er alle Last der Welt alleine tragen. Helene schaute nochmals kurz zu ihm herüber und fragte sich, was diesen eigentlich noch recht attraktiven Mann wohl so bedrückte. Kopfschüttelnd ließ sie sich in ihren Liegestuhl fallen, schnappte sich einen dicken Wälzer und begann zu lesen. Schnell war sie in der Geschichte versunken und hatte fürs Erste ihren neuen Nachbarn vergessen. Ihr Hund aber nicht. Er lag zwar ganz artig neben seiner Herrin, ließ Reno dabei aber nicht aus den Augen. Wann würde dieser wohl wieder mit ihm spielen?

Ans Spielen dachte Reno jedoch überhaupt nicht mehr, vielmehr rang er mit sich, ob er seine Familie nun endlich anrufen sollte. Er musste ihnen sagen, warum er abgehauen war, sonst kamen sie womöglich noch dazu, falsche Schlussfolgerungen zu ziehen. Er war einfach auf und davon, als er Adele nachts tot in ihrem Bett liegen sah. So banal war das! Jeder Mensch reagierte unterschiedlich und völlig unberechenbar in so einer Situation, oder nicht? Jeder verarbeitete seine Trauer anders, dafür gab es keine Richtlinien und keine Regeln. Er musste allen nur erklären, dass er einen Schock bekommen und auch immer noch hatte und darum konnte er auch heute nicht mehr zurückfahren. In seinem Zustand nochmal ins Auto zu steigen wäre sehr fahrlässig. Andererseits … wäre es nicht das Beste, wenn er durch einen Autounfall ebenfalls ums Leben käme? Wie konnte er ohne Adele weiterleben und vor allem mit seiner Schuld? Entweder hatte er sie umgebracht oder sie hatte sich über ihn so aufgeregt, dass sie gestorben war. So oder so hatte er sie auf dem Gewissen! Nur verurteilt werden konnte er nur für Ersteres und das musste man ihm erst mal nachweisen. Er würde zu Hause anrufen und einfach fragen, was inzwischen geschehen war. Vielleicht kam der Arzt ja zu dem Schluss, dass es eine natürliche Todesursache war und er war dann aus dem Schneider? Falls nicht, konnte er immer noch untertauchen. Doch wo sollte er hin? Zu Rüdiger konnte und wollte er nicht mehr – nie mehr! Das war aus und vorbei!

6

Inzwischen hatte ich mich etwas beruhigt und war über meine plötzliche Nüchternheit selbst erstaunt. Nur noch rational denkend hatte ich im Internet nachgelesen, dass die Leichenstarre bei Raumlufttemperatur meist vom Kopf abwärts nach etwa ein bis zwei Stunden einsetzt. Bei Hitze geht das schneller, bei Kälte dementsprechend langsamer. In diesem Zimmer hatte es so um die zwanzig Grad. War das nun eine normale Zimmertemperatur? Ach was – das war ja auch egal, denn ich wollte Reno so schnell wie möglich „entsorgen“. Da die Starre nach sechs bis zwölf Stunden voll ausgeprägt war und sich zwischen vierundzwanzig und achtundvierzig Stunden wieder löst, musste ich jetzt schnell handeln. Da der Prozess bei Menschen, die vor dem Tod noch sehr aktiv waren, schneller in Gang kommt, musste ich mich jetzt echt beeilen. Denn vor Renos Tod hatten wir ja einen heftigen Streit und haben miteinander gerungen – also los jetzt! Reiß dich zusammen und fang endlich an! Mit diesen Gedanken trat ich mir selbst in den Hintern und ging hinunter in den alten Gewölbekeller, wo ich eine große Gefriertruhe stehen hatte. Als Hobbyjäger braucht man so was ab und zu, wenn die Jagd erfolgreich war. Zum Glück hatte ich in diesem Jahr noch keine Zeit zum Jagen gefunden und somit war die Truhe leer. Wenn ich meinen (ehemaligen) Freund etwas zusammenfaltete, würde ich ihn sicher dort hineinlegen können. Es war wirklich von Vorteil, wenn man alleine lebte und keine Freunde hatte. Zumindest war das fürs Erste eine gute Lösung und verschaffte mir Zeit, darüber nachzudenken, wie ich die Leiche noch ganz wegschaffen konnte.

Zunächst vergewisserte ich mich, dass niemand in der Nähe war. Ich ging nach draußen in meinen großen Garten und spähte die lange Auffahrt hinunter. Beruhigt sah ich, dass wirklich niemand zu sehen und auch kein Motorgeräusch von einem sich eventuell nähernden Fahrzeug zu vernehmen war. Mit dem Fahrrad kam in diese abgelegene Gegend sowieso nie jemand und zu Fuß eigentlich auch nicht, denn mein Haus stand weit außerhalb von Dresden. Heute, an diesem Montagvormittag hatte ich auch keinen Kundentermin und ohne vorherige Anmeldung kam keiner zu mir in die Werkstatt.

Wieder zurück in meinem Schlafzimmer überkam mich jedoch beim Anblick meines toten Freundes plötzlich eine so tiefe Trauer, dass ich laut aufschluchzen musste und mich neben Reno auf die Knie fallen ließ. Hemmungslos heulte ich nun Rotz und Wasser und wiederholte immer den gleichen Satz:

„Es tut mir so leid – ich wollte das nicht!“

Als meine Beine langsam zu schmerzen begannen und ich feststellte, dass Renos Hals bereits steif war, geriet ich wieder in Panik und fing an, ihn durchs Zimmer zu schleifen und über die engen Holzstufen nach unten zu zerren. Da ich ihn in meinem Wahn einfach an den Füßen gepackt hatte, rumpelte sein Kopf auf jeder Stufe und machte dabei ein so scheußliches Geräusch, dass es mir schon wieder schlecht wurde. Auf die Blutspur, die er hinter sich herzog, achtete ich nur am Rande – mir war nur wichtig, ihn so schnell wie möglich in die Truhe zu packen und am liebsten nie wieder sehen zu müssen. Bereits im Erdgeschoss schwitzte ich wie ein Schwein, ich schlitterte fast um die Ecke und die Steintreppe hinunter, die zum Keller führte. Die holpernden Schleifgeräusche blendete ich einfach aus, sonst hätte ich mich wirklich nochmal übergeben. Die Sauerei mit der Blutspur reichte mir schon, mehr würde ich heute nicht mehr ertragen können. Unten angekommen, riss ich den Deckel der Truhe auf, hievte und zerrte den schweren Körper über den Rand und ließ ihn zunächst unkontrolliert hineinplumpsen. Natürlich ging der Deckel so nicht mehr zu und ich musste den armen Toten regelrecht zusammenfalten, damit ich die Gefriertruhe schließen und das Schnellfrostprogramm einstellen konnte. Dabei sah ich einen kleinen Leberfleck hinter Renos linkem Ohr, der mir bisher nie aufgefallen war. Komisch – ich dachte, jeden Zentimeter seines Körpers genauestens zu kennen. Na egal – das hatte jetzt sowieso keine Bedeutung mehr, oder?

Nachdem das erledigt war, sank ich auf den kalten Steinboden und ließ meinen Tränen abermals freien Lauf. Bevor ich mich nicht gänzlich beruhigt hatte, konnte ich auch bei den Angerers nicht anrufen und mit Reno sprechen wollen. Das hatte ich auf jeden Fall vor, um zu erfahren, ob die Familie wusste, dass er verschwunden war.

7

Währenddessen gingen die Ermittlungen im Falle der Familie Angerer ihren gewohnten Gang. Nachdem die Herren Kiss und Clemens mit der Ärztin gesprochen und sich von der natürlichen Todesursache hatten überzeugen können, saßen sie nun im Wohnzimmer der Angerers beisammen. Der junge Kommissar führte die Befragung durch, was Nora etwas erstaunte, denn in ihren Augen war der ältere der Chef. Zunächst wollte Herr Kiss wissen, was Reno Angerer für ein Mensch war. Ohne direkt angesprochen zu werden, ergriff Nora sofort das Wort. Sie wollte ihren geliebten Großvater in einem guten Licht erscheinen lassen.

„Mein Opa ist der ruhigste, freundlichste und hilfsbereiteste Mensch, den ich kenne“, fing sie an und bei ihren Worten musste Joska grinsen. Dieses Mädchen musste ihren Opa wirklich sehr gerne haben. Das erlebte man heutzutage nicht mehr so oft, dass sich die Generationen so gut verstanden. Er freute sich für die Familie, dass es hier offenbar so harmonisch zuging. Dennoch fragte er in die Runde:

„Sehen Sie das auch so?“

Nach einem kurzen Seitenblick auf ihre Brüder, der den Polizisten jedoch entging, weil sie gerade auf die Kuckucksuhr geschaut hatten, deren Vogel beim Zwölfuhrschlagen herausgekommen war, antwortete Marianne bedächtig:

„Ja, meine Nichte hat da vollkommen Recht. Mein Vater ist ein rundum glücklicher Mensch und sehr harmoniebedürftig. Mit ihm kann man gar nicht streiten, und dass er jetzt einfach so weg ist, kann ich mir nur damit erklären, dass er einen Schock bekommen hat, als er Adele tot aufgefunden hat. So muss es gewesen sein, etwas anderes kann ich mir gar nicht vorstellen! Ihr etwa?“, fragte sie mit eindringlichem Blick ihre Brüder, als wolle sie ihnen nachdrücklich raten, nur ja nichts anderes zu sagen. Diesen Blick hatten die Beamten nun aber doch registriert – Nora ebenso und sie hoffte inständig, dass der junge Kommissar nicht auf die Idee kam, sie getrennt voneinander zu befragen. Doch genau das ordnete er nun an, weil er glaubte, so etwas mehr über diesen Reno erfahren zu können. Irgendwas stimmte hier nicht und er wollte sichergehen, alles versucht zu haben, um dahinter zu kommen. Würde er das nicht tun, wäre seine Chefin erstens stinksauer auf ihn und zweitens auch unzufrieden mit seiner kriminalistischen Arbeit, denn sie hielt große Stücke auf ihn. Joska wollte sie auf keinen Fall enttäuschen. Außerdem wollte er diesem Clemens zeigen, dass er sehr wohl in der Lage war, eine Befragung korrekt und ergebnisorientiert durchzuführen.

Also wurde das Wohnzimmer zum Vernehmungszimmer umfunktioniert und der Rest der Familie begab sich entweder zur Ablenkung in die Werkstatt oder in die Küche, denn trotz der ganzen Aufregung hatten sie jetzt um die Mittagszeit doch Hunger bekommen. Auf Mariannes freundliche Nachfrage, ob sie auch Maultaschen mit Ei mitessen wollten, lehnten die Beamten jedoch ab. Sie mussten diese Befragung schnell hinter sich bringen, da ihre Chefin sie zur nachmittäglichen Besprechung wieder sehen wollte. Also wurde Jakob als Erster gebeten, im Wohnzimmer zu bleiben. Unbehaglich rutschte der Sechsundfünfzigjährige, der zwar schon ziemlich ergraut, aber immer noch mit dichtem, welligem Haar gesegnet war, in seinem Sessel hin und her. Es war das erste Mal, dass er polizeilich vernommen wurde und somit war er sehr nervös. Wie viel sollte er von den Problemen in der Familie erzählen, ohne ein schlechtes Licht auf Adele oder Reno zu werfen? Er würde erstmal abwarten, welche Fragen sie ihm stellen würden. Doch gleich die Erste brachte ihn schon in Bedrängnis.

„Wie gut verstanden sich Ihre Eltern?“, wollte Herr Kiss wissen und Herr Clemens zückte seinen Notizblock, um mitzuschreiben.

„Sie haben gemeinsam unsere Firma aufgebaut, nachdem mein Vater sich mit fünfzig Jahren von seinem Vater und Firmeninhaber losgesagt hat, um nochmal alleine von vorne anzufangen. Meine Mutter kam dann erst später mit uns Kindern nach Stuttgart. Vorher haben wir im Osten gelebt, in der Nähe von Görlitz“, erklärte Jakob und hoffte, damit die Frage hinlänglich beantwortet zu haben. Doch Herr Kiss war nicht zufrieden.

„Das erklärt aber noch lange nicht, ob die Ehe Ihrer Eltern nun gut war oder nicht“.

„Nun ja – was soll ich dazu sagen?“, fing Jakob an und knetete dabei unruhig seine Finger. „Sie haben sich respektiert, und wie meine Schwester bereits erwähnte, mit Reno konnte man nicht streiten. Er hat immer versucht, es allen recht zu machen.“

„Bedeutet das, dass Ihre Mutter das Sagen hatte?“, warf nun Herr Clemens ein und Joska Kiss, der diese Frage vermutlich etwas später im Verlauf dieses Gespräches angebracht hätte, biss sich auf die Lippen, um seinen Assistenten nicht zu rügen. Vor den Augen eines Zeugen wollte er das nicht tun und so war er nun selbst gespannt auf die Antwort des Messermachers.

„Wenn Sie mich so direkt fragen … ja. Meine Mutter war die Herrin im Haus und auch in der Firma. Sie stammt auch aus einer Messermacherei und die beiden Firmen wurden irgendwann, nachdem wir hierher nach Ottenbach gezogen waren, zusammengelegt. Da mein Vater einfach zu sensibel und nicht streng genug war, hat meine Mutter automatisch das Ruder in die Hand genommen. Ihm schien das nichts auszumachen – im Gegenteil. So konnte er sich ganz auf sein Handwerk und auf uns Kinder konzentrieren und die anstrengenden Gespräche mit Kunden und Lieferanten führte meine Mutter. Das lief alles hervorragend und Sie können sich ja vorstellen, welch ein Schock es für uns alle war, als wir erfahren mussten, dass Mutter Lungenkrebs hat!“ Jakob schluckte schwer und schaute verlegen aus dem Fenster. Die Polizisten sollten nicht sehen, wie nahe ihm diese ganze Sache ging. Behutsam stellte Joska nun seine nächste Frage:

„Was glauben Sie, ist in der gestrigen Nacht passiert?“

„Ich hab natürlich keine Ahnung, aber wahrscheinlich hat Vater wie jede Nacht nach seiner Frau geschaut und hat sie tot aufgefunden. Das muss ihn so geschockt haben, dass er in Panik davongefahren ist.“

„Und der Hund?“, fragte Sascha Clemens schon wieder dazwischen, doch Joska schaute nur gespannt auf Jakob.

„Nun ja – ich nehme an, dass der gute alte Moritz seinem Herrchen hinterher gelaufen ist und da der völlig von der Rolle war, hat er auf seinen Hund gar nicht geachtet und der ist dann zum Tor hinausspaziert. Der wird sicher bald zurückkommen, wenn er Hunger kriegt“, meinte Jakob hoffnungsvoll, denn etwas anderes konnte er sich einfach nicht vorstellen.

„Nun gut. Belassen wir es vorerst dabei und hoffen, dass beide – also Hund und Herrchen – bald wieder auftauchen. Würden Sie uns dann bitte Ihren Bruder Tobias hereinschicken?“, fragte Herr Kiss freundlich, fügte aber noch bestimmend hinzu: „Herr Clemens wird Sie begleiten. Ich möchte nicht, dass Sie vorher mit Ihrem Bruder sprechen.“

Es war dem jungen Polizisten sehr unangenehm, diesem ehrenwerten Handwerker etwas unterstellen zu müssen, aber die Vorschriften waren diesbezüglich eindeutig. Seufzend ließ sich Joska in die Polster sinken. So eine Befragung war ganz schön anstrengend. Man musste jederzeit wachsam sein, jede Gefühlsregung seines Gegenübers registrieren und (hoffentlich richtig) deuten. Das Schwierigste war aber, immer die richtigen Fragen zu stellen. Er hätte es nicht für möglich gehalten, aber in diesem Moment hätte er seine Chefin schon sehr gerne an seiner Seite gehabt. Aber das hatte ja nun alles keinen Sinn, er musste da alleine durch und hoffen, dass Herr Clemens sich zurückhielt und nichts Falsches sagte.

Doch auch die Befragung von Tobias Angerer, der rein äußerlich das genaue Gegenteil seines Bruders war, ergab nichts Neues. Tobias war schlank, knapp zwei Meter groß mit langen Beinen und kurzem Oberkörper, sowie schütterem, blondem Haar – allein an den grauen Augen konnte man erkennen, dass Jakob und Tobias Brüder waren. Von ihrer Schwester Marianne, die ebenfalls diese grauen Augen geerbt hatte, erfuhren sie nur noch, dass ihre Mutter mit der Frau von Jakob nicht zufrieden war. Die aus Portugal stammende Delfina war Adele von Anfang an ein Dorn im Auge gewesen. Diese gutaussehende Südländerin war in Adeles Augen eine schlechte Hausfrau und mit ihrer Malerei konnte die alte Dame auch nichts anfangen. Für Adele war das alles nutzlose Zeitverschwendung. Das einzig Gute, das diese Frau hervorgebracht hatte, waren ihre Kinder: Nora und Felix.

Die beiden Beamten hatten sich gewundert, dass Marianne ihnen diese Umstände erzählt hatte, denn danach gefragt hatten sie nicht. Wollte sie damit andeuten, dass Delfina einen Grund gehabt haben könnte, ihre Schwiegermutter umzubringen? Danach gefragt, meinte Marianne nur:

„Natürlich nicht! Delfina weilt zurzeit in Irland. Sie hätte eine solche verabscheuungswürdige Tat gar nicht begehen können und außerdem ist meine Mutter doch eines natürlichen Todes gestorben. Ich wollte Ihnen nur alles über unsere Familie sagen, damit Sie uns besser kennenlernen“, fügte sie noch hinzu, da sie sich insgeheim nun doch ärgerte, das über Delfina erzählt zu haben. Sie mochte ihre Schwägerin sehr gerne und kam gut mit ihr aus. Immerhin half diese ihr bei der täglichen Kocherei und beim Sauberhalten der Werkstatt und des Hauses. Auch in ihrer ehrenamtlichen Bücherei, die sie zwei Mal in der Woche, nach der Arbeit in der Werkstatt, zusammen mit ihrer Freundin Carmen und deren Zwillingsschwester Carolin führte, half die gute Delfina aus, wenn Marianne mal keine Zeit hatte. Marianne hoffte inständig, dass ihre unbedachten Worte die Kommissare nicht auf die Idee brachten, die natürliche Todesursache infrage zu stellen. Es war für sie von größter Bedeutung, dass bald wieder alles seinen gewohnten Gang nahm, und die Familie nach Adeles Tod so bald wie möglich wieder in Harmonie leben konnte. Marianne lag sehr viel an ihrer Familie und vor allem auch an der Firma, denn durch diese hatte sie in finanzieller Hinsicht keine Sorgen und so musste es auch bleiben! Wenn Reno dann endlich die Firma in die Hände seiner Kinder legen würde (Marianne zweifelte nicht daran, dass sie ihn nun, nach Adeles Tod, dazu bringen konnten), dann wäre ihr Glück perfekt! Ihre Bemühungen der letzten Zeit durften einfach nicht umsonst gewesen sein!

Erleichtert stellte sie daher fest, dass dieser junge Polizist

die natürliche Todesursache wohl nicht infrage stellte, denn Herr Kiss entließ sie mit den Worten, nun den jüngsten Spross der Familie sprechen zu wollen. Zu seiner Überraschung kam jedoch auch Nora mit den Worten herein:

„Mein Bruder ist erst sechzehn, den dürfen Sie nur gemeinsam mit einem erwachsenen Familienmitglied befragen und so bin ich gleich mitgekommen. Das ist doch in Ordnung, oder?“, fragte sie selbstbewusst und ließ sich in einen freien Sessel fallen. Die Beamten waren derart überrumpelt, dass sie nur nicken konnten. Doch Joska hatte sich gleich wieder gefasst und sagte:

„Sie kennen sich ja gut aus in unseren Gesetzen, muss ich feststellen.“

„Ich lese sehr viele Krimis und schaue solche Serien im Fernsehen an. Da lernt man eine Menge“, erklärte Nora nur und beugte sich interessiert vor.

„Was wollen Sie noch wissen?“

„Wer hat die Leiche entdeckt?“, fragte Herr Clemens, doch Joska winkte sofort ab.

„Das wissen wir doch schon. Der alte Angerer hat sie entdeckt.“

„Davon gehen wir aus, aber wissen tun wir das nicht. Ich wollte eigentlich wissen, wer von den hier Anwesenden heute früh die Leiche zuerst gesehen hat“, berichtigte sich Herr Clemens und schaute die beiden Jugendlichen fragend an.

„Das war ich“, sagte Felix leise und sah im gleichen Augenblick wieder die starren Augen seiner toten Großmutter vor sich.

„Hat sie da schon so dagelegen, wie ich sie vorhin vorgefunden habe?“, wollte Joska wissen.

„Nein … äh … das heißt ja“, fing Felix stotternd an, doch seine Schwester kam ihm zu Hilfe:

„Dagelegen hat sie genauso, wie sie bis vorhin gelegen hat, bevor die Bestattungsfirma sie mitgenommen hat. Als wir sie gefunden haben, hatte sie aber die Augen noch offen. Mein Vater hat sie dann zu gemacht“, antwortete Nora nun sachlich, doch ihrem Bruder lief dabei ein kalter Schauer über den Rücken. Nora bemerkte es und legte fürsorglich einen Arm um ihren zitternden Bruder.

„Sie hat so gestarrt“, murmelte Felix mehr zu sich selbst und die Kommissare wollten nun nicht noch mehr in den Jungen eindringen. Nach dem Verhältnis ihrer Großeltern untereinander gefragt, antworteten beide, dass es ganz normal gewesen wäre. Jeder hatte seine Aufgabe und seine Stellung in der Familie und niemand hätte daran etwas ändern wollen.

„Hat eure Oma Unterschiede zwischen euch gemacht?

Hatte sie einen von euch mehr lieb als den anderen?“, fragte Herr Clemens und Joska sah ihn ob dieser Frage entsetzt an. Was sollte das nun schon wieder?

Bevor Felix allerdings den Mund aufmachen konnte, kam Nora ihm zuvor:

„Nein. Unsere Oma hatte uns beide gleich lieb und wir sind sehr traurig, dass sie nun nicht mehr bei uns ist. Nicht wahr, Felix?“, fragte die junge Dame und drückte ihren Bruder fest an sich. Der schaute mit einem eigenartigen Blick zu seiner Schwester auf, nickte dann aber bestätigend.

„Also alles in allem eine rundum glückliche und harmonische Familie, nicht wahr?“, stellte Herr Clemens fest, aber es klang ironisch, obwohl es eher eine Feststellung als eine Frage war. Doch Nora fühlte sich sofort angegriffen und sagte mit Nachdruck:

„Ob Sie`s nun glauben oder nicht! Wir sind eine glückliche Familie! Meine Oma war krank und ist eben gestorben und mein Opa meldet sich bestimmt nach dem ersten Schock wieder bei uns, da können Sie sicher sein!“ Sie brachte das mit so viel Überzeugung vor, dass es den beiden Polizisten zunächst die Sprache verschlug. Darauf wussten sie einfach nichts zu erwidern – es klang alles so logisch und perfekt.

Oder fast zu perfekt?

Ein leiser Zweifel nistete sich bei Joska Kiss ein, doch noch konnte er diesen Gedanken nicht weiterverfolgen und ihm fielen dazu auch keine passenden Fragen ein. Vorerst zumindest nicht – er wollte die Sache zunächst auf sich beruhen lassen. Vielleicht meldete sich der Reno Angerer ja wirklich in den nächsten Stunden oder Tagen – dann konnte er befragt werden und hoffentlich alles aufgeklärt werden. Oder es taten sich neue Fragen auf.

„Nun gut, liebes Fräulein Angerer“, meinte Joska und erhob sich aus seinem weichen Polster. „Lassen wir es für heute gut sein. Wir warten noch bis Mittwoch ab. Wenn sich Ihr Großvater bis dahin nicht gemeldet hat, werden wir die Vermisstenanzeige aufnehmen und eine Fahndung nach ihm einleiten. Melden Sie sich bitte umgehend, sollten Sie etwas von ihm hören – aber wirklich sofort! Haben Sie das verstanden?“

„Natürlich – das versteht sich doch von selbst, lieber Herr Kiss“, antwortete Nora etwas zickig. Was dachte der Kerl denn von ihr?

„Ich werde das den anderen Familienmitgliedern auch noch einschärfen, falls sich Herr Angerer senior aus irgendeinem Grund nur mit einem von Ihnen in Verbindung setzen sollte. Kann man ja nie wissen, stimmt`s Herr Clemens?“, fragte Herr Kiss seinen Kollegen und hoffte auf dessen Zustimmung. Doch der murrte nur:

„Wenn Sie meinen, Herr Kiss. Ich sehe zwar keinen Grund,

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Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
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9783960147954
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