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04

Im Zuge des wirtschaftlichen Aufschwungs wächst im Nachkriegsitalien die Nachfrage nach einer qualifizierten Schul- und Hochschulbildung. Die Verbesserung der sozialen und wirtschaftlichen Situation breiter Bevölkerungsschichten führt zu einem stärkeren Zustrom zu den höheren Schulen und den Universitäten. Der unter dem Faschismus elitär und ideologisch reduzierte Hochschulzugang wird weitestgehend liberalisiert. Die Ausdehnung der Bildungsnachfrage führte zur Gründung zahlreicher neuer Universitäten. Die Städte profitieren von den neuen Hochschulen kulturell wie wirtschaftlich und sehen in ihnen einen Zugewinn an sozialem und nationalem Prestige (10).

Guiseppe Scirelli, Sohn von Gianni Scirellis Bruder Andrea, studiert economia politica, Volkswirtschaftslehre, an der Universität in Florenz, einer der ältesten Universitäten Italiens, gegründet 1321 (11).

Nach Beendigung seines Studiums gewinnt er Anfang der 60er Jahre innerhalb des Clans immer mehr Einfluss.

Auch, weil er offen Gedanken ausspricht, die viele seiner Verwandten sich nicht auszusprechen trauen, obschon auch sie ähnlich denken.

Der Nationalsozialismus ist in Italien auch 20 Jahre nach Kriegsende durchaus noch gegenwärtig.

Guiseppe Scirelli ist ein Verfechter der Theorie von Charles Darwin. Dieser ging davon aus, dass in der Natur ein ständiger Austauschprozess herrsche. In diesem würden für das Überleben ungünstige Merkmale automatisch eliminiert (12).

Ansichten, die auch Benito Mussolini, Staatsoberhaupt Italiens während des Zweiten Weltkrieges, und sein Bruder im Geiste, der deutsche Diktator Adolf Hitler, ausgiebig propagierten.

Das Gedankengut des „Duce“ und jenes vom „Führer“ - ganz im Sinne des Emporkömmlings im Familienclan.

Guiseppe Scirelli bewundert Adolf Hitler insbesondere für seine Aktion, die den Decknamen „T4“ trägt.

Die Nazis bezeichneten es auch als Euthanasie – eine zynische Entfremdung des Wortes, das eigentlich einen leichten und schönen Tod meint.

T4 steht für die Tiergartenstraße 4 in Berlin. Hier befand sich der Hauptsitz der Aktion. Ihr Leiter war der Chef der "Kanzlei des Führers", Philipp Bouhler.

Gemeinsam mit Ärzten, Pflegern und anderen setzte er die Tötung von mehreren Tausend Kranken und Menschen mit Behinderung um.

In speziellen Kammern erwartete sie der Tod durch Vergasung oder Giftspritze (13).

Rund 200.000 Behinderte fielen im Dritten Reich dem "Euthanasie"-Programm der Nazis zum Opfer. (14)

Hitler sah sich als Beschleuniger des in der Natur ohnehin vorhandenen Ausleseprozesses, in dem sich nur die stärkere Rasse durchsetzen wird.

Ähnlich denkt Guiseppe Sicrelli. Behinderte Menschen sind ihm ein Gräuel, mehrmals stellt er deren Eingliederung in die Gesellschaft öffentlich infrage. Als er zum Kommunalpolitiker aufsteigt, plädiert er für große Behindertenheime, isoliert in ländlichen Gebieten, in denen man geistig oder körperlich behinderte Menschen unterbringen soll.

Gehandicapte Menschen in der eigenen Familie verachtet Guiseppe. Ein entfernter Cousin leidet unter dem Tourette-Syndrom. Darunter versteht man eine neuropsychiatrische Erkrankung, die sich in sogenannten Tics äußert. Tics sind spontane Bewegungen, Laute oder Wortäußerungen, die ohne den Willen des Betroffenen zustande kommen. Vergleichbar ist das mit dem Niesen oder einem Schluckauf. Tics beim Tourette-Syndrom lassen sich nur bedingt kontrollieren (15).

Guiseppe Scirelli setzt alle Hebel in Bewegung, den jungen Mann so schnell wie möglich aus dem Umfeld des Clans zu entfernen. Ein neu errichtetes Pflegeheim in der Nähe von Bergamo hat er als neues Zuhause für seinen Cousin auserkoren und arbeitet daran, ihn schnellstmöglich dort unterzubringen.

05

Anfang der 60er Jahre erkrankt Amanda Kramer an Tuberkulose.

Einer Krankheit, die am häufigten die Lunge befällt und in den 60er Jahren weltweit die tödlichste Infektionskrankheit ist.

Die Beschreibung des Erregers Mycobacterium tuberculosis durch Robert Koch war 1882 ein Meilenstein der Medizingeschichte. Die Tuberkulose wird deshalb auch Morbus Koch genannt (16).

Tuberkulose ist bereits in den 60er Jahren durchaus heilbar. Allerdings bildet sich infolge der Behandlung bei Amanda Kramer Wasser im Gehirn, ihr Zustand ist kritisch.

Clarissas Mutter liegt im St. Elisabeth-Krankenhaus in Köln-Lindenthal, ihr Ehemann Horst besucht sie jeden Tag, auch Clarissa selbst ist beinahe täglich vor Ort.

Eines Nachts wird Clarissa um 01:30 Uhr plötzlich wach. Ohne erkennbaren Anlass sitzt sie plötzlich aufrecht im Bett und weiß nicht, warum. Sie kann sich nicht erinnern, etwas Schlimmes geträumt zu haben, auch sind keine lauten Geräusche vernehmbar, die ein Aufwachen hätten verursachen können.

Clarissa schläft schnell wieder ein und wird gegen 07:00 vom Läuten des Telefons geweckt.

„Hallo?“, spricht sie verschlafen in den Hörer.

„Mit wem spreche ich denn da?“

„Hier spricht Clarissa Kramer.“

„Doktor Wolter am Apparat, St.Elisabeth-Krankenhaus.“

„Ja?“, Clarissa beschleicht eine schlimme Vorahnung.

„Frau Kramer, ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Ihre Mutter diese Nacht gegen 01:30 verstorben ist.“

Clarissa laufen Tränen über das Gesicht, sie ist kaum fähig, das Gespräch fortzuführen.

„Es tut uns sehr leid, Frau Kramer, aber wir konnten am Ende nichts mehr für sie tun.“

„Um 01:30...“, stammelt Clarissa, mehr zu sich selbst. Ich komme gleich ins Krankenhaus.“

„Ist gut, Frau Kramer. Wollen Sie Ihre Mutter noch einmal sehen?“

„Das weiß ich noch nicht.“

Als sie den Hörer auflegt, spürt Clarissa, wie ihr Vater ihr von hinten die Arme um den Körper legt. Horst Kramer hat das Gespräch mitangehört.

„Amanda ist tot, nicht wahr?“

Clarissa dreht sich zu ihrem Vater um und beide weinen bitterlich.

06

Im ersten Jahrzehnt nach dem letzten Weltkrieg überwindet die Bundesrepublik rasch die anfänglich hohe Arbeitslosigkeit und erreicht Ende der 1950er Jahre bereits Vollbeschäftigung. Neben der rasant wachsenden Wirtschaft tragen der Eintritt geburtenschwacher Jahrgänge in den Arbeitsmarkt, die Verlängerung der Ausbildungszeiten, die Verkürzung der Wochenarbeitszeiten, der Anstieg des durchschnittlichen Renteneintrittsalters und der Aufbau der Bundeswehr zu den Engpässen am Arbeitsmarkt bei. Schließlich stoppt der Bau der Berliner Mauer im Jahre 1961 den Zustrom von Arbeitskräften.

Die Arbeitskräfteknappheit stellt angesichts weiter steigender Nachfrage das größte Hemmnis für eine Ausweitung der Produktion bei stabilen Preisen dar. Aus der Sicht der Arbeitgeber und der Bundesregierung liegt es daher nahe, diesen Bedarf durch ausländische Arbeitnehmer zu füllen, um die Unternehmensgewinne zu erhalten.

Ergo verfolgt die deutsche Bundesregierung Anfang der 60er Jahre die Politik, südeuropäische Arbeiter temporär in die Bundesrepublik zu holen, um die heiß laufende Arbeitsnachfrage in der Bundesrepublik zu kühlen.

Der Nachfrage aus der Bundesrepublik steht ein entsprechendes Angebot südeuropäischer Staaten gegenüber. So geht die Initiative für die Anwerbeabkommen stets von den Anwerbestaaten selbst aus, welche sich dadurch Vorteile versprechen.

Von der Arbeitnehmerentsendung erhofft man sich vielerorts eine Entlastung des eigenen Arbeitsmarktes, eine Kanalisation ohnehin vorhandener Arbeitsmigration, einen Import von Know-how und dringend benötigte Devisen.

Auf deutscher Seite wird die Gastarbeiterpolitik als eine Art Entwicklungshilfe und Beitrag zur europäischen Integration begriffen.

Ein erstes Anwerbeabkommen, welches den Arbeitskräftemangel in der Landwirtschaft lindern soll, wird am 22. Dezember 1955 mit Italien geschlossen. Anfang der 60er Jahre folgen schnell weitere Vereinbarungen mit Spanien und Griechenland (1960), der Türkei (1961), Marokko (1963), Portugal (1964), Tunesien (1965) und Jugoslawien (1968). Als Konsequenz dieser Abkommen kommt es zur ersten großen Einwanderungswelle in die noch junge Bundesrepublik.

Die Zuwanderung südeuropäischer Gastarbeiter kommt Anfang der 60er Jahre zunehmend ins Rollen.

Die Zahl der Ausländer in der Bundesrepublik erhöht sich zwischen 1961 und 1967 von 686.000 auf 1,8 Millionen.

Letztendlich stellen die Jugoslawen und schließlich die Türken die größten Kontingente.

Viele der Gastarbeiter, die in den 1960er Jahren in Deutschland kommen, stehen schon am nächsten Tag auf der Baustelle oder am Fließband (17).

Köln spielt bei der Anwerbung von "Gastarbeitern" eine entscheidende Rolle. Neben München ist die Stadt am Rhein der Ort, von wo aus die ankommenden ausländischen Arbeitskräfte mittels sogenannter Sammeltransporte in die ganze Bundesrepublik verteilt werden.

Während die italienischen, griechischen, türkischen und jugoslawischen Arbeiter am Münchener Hauptbahnhof ankommen und durch die dortige Weiterleitungsstelle betreut werden, nimmt man die spanischen und portugiesischen "Gastarbeiter" am Bahnhof Köln-Deutz in Empfang (18).

In der Domstadt selbst herrscht bedingt durch die hohen Verluste im zweiten Weltkrieg und durch die boomende Wirtschaft in den 50er und frühen 60er Jahren zu dieser Zeit ein großer Bedarf, gleichzeitig aber auch ein Mangel an Arbeitskräften. So rekrutiert man die dringend benötigten Mitarbeiter nicht nur aus der Umgebung Kölns, aus entlegenen Regionen wie der Eifel und dem hohen Westerwald, sondern auch aus dem vornehmlich südeuropäischen Ausland (19).

Hauptbahnhof Köln. Borna Krupcic ist nach der langen und anstrengenden Fahrt endlich in der Metropole am Rhein angekommen. Er steigt aus dem völlig überfüllten aus München kommenden Zug aus und schaut sich auf dem Bahnsteig um. Er hat den Freund des Vaters lange nicht gesehen, dieser erkennt ihn jedoch, der umher eilenden Menschenmenge zum Trotz, direkt.

„Borna!“

„Herr Krastic....erst einmal: Danke!“

„Ab heute Filip. Und danken brauchst Du mir nicht, es ist doch selbstverständlich, dass ich Dir helfe.“

„Sehr gern, Filip. Ich möchte Dir trotzdem danken.“

„Du wohnst erst einmal bei mir, bis ein Zimmer für Dich im Betriebswohnheim eingerichtet ist. Schon morgen kannst Du in der Firma anfangen.“

Filip Krastic hat seine Frau und seinen achtjährigen Sohn nachgeholt, die Familie bewohnt eine kleine Zweizimmerwohnung.

Auch wenn die beiden Männer am nächsten Morgen zeitig aufstehen müssen, wird es ein langer Abend in Köln-Merkenich. Schließlich gibt es einiges aus der Heimat zu erzählen, zudem will Borna vieles rund um seine neue Arbeit und das Leben in Deutschland erfahren.

Um 05:00 schellt unbarmherzig der Wecker. Ein kurzes Frühstück und die beiden Männer machen sich auf zur Arbeit.

Mit einem Kapital von nur 28.000 US-Dollar gründet Henry Ford am 16. Juni 1903 in Detroit die Ford Motor Company. Erster Unternehmenssitz in Deutschland ist Berlin. Am 28. Oktober 1929 unterzeichnet der Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer den Vertrag über den Bau des Ford-Werkes auf einem 170.000 Quadratmeter großen Gelände in Köln-Niehl, das ursprünglich für eine Jahresproduktion von bis zu 250.000 Fahrzeugen ausgelegt sein soll und dessen Errichtung 12 Millionen Reichsmark kostet. Der Unternehmenssitz wird 1930 von Berlin nach Köln verlegt, wo Henry Ford am 2.Oktober 1930 eigens für die Grundsteinlegung anreist.

Im Jahre 1955 wird Ford eine Aktiengesellschaft.

Ein akuter Arbeitskräftemangel veranlasst die Firma zu Beginn der 1960er Jahre zur Anwerbung von Gastarbeitern.

So ist Köln die erste Stadt Deutschlands, in der ausländische Arbeiter den wirtschaftlichen Aufschwung unterstützen.

Denn als erstes Unternehmen in Deutschland stellt Ford im Rahmen von Anwerbeabkommen bereits im Herbst 1961 Gastarbeiter ein. Während die ersten türkischen Mitarbeiter noch in Übergangswohnheimen wohnten, stellen die Ford-Werke ab 1962 ihren ausländischen Arbeitern neu errichtete und gut eingerichtete Wohnheime zur Verfügung.

Ford beschäftigt in den 60er Jahren neben 14 000 deutschen Lohnempfängern 7000 Ausländer. Ein Bettplatz in den Wohnheimen kostet zehn Mark Wochenmiete, das Mittagessen in der Kantine 60 Pfennig (20).

Borna Krupcic bezieht bereits zehn Tage nach seiner Ankunft ein Zimmer im Ford-Wohnheim. Er lebt sich schnell in Köln ein, verbringt viel Zeit bei den Krastics und findet auch schnell Kontakt zu anderen Gastarbeitern.

Zweimal in der Woche telefoniert Borna mit seiner Familie, was in den 60er Jahren bisweilen noch ein schwieriges Unterfangen ist.

„Zdravo tata. Hallo Papa.“

„Borna, mein Junge! Wie geht es Dir?“

„Ihr fehlt mir natürlich sehr, aber ansonsten geht es mir gut. Ich habe bereits ein eigenes Zimmer und die Arbeit klappt auch immer besser.“.

„Ich wusste, dass Du das schaffst, moj sin.“

„Wie steht es denn um Euch?“

„Die Kleinen vermissen Dich natürlich. Deine Frau auch. Sie bringt die beiden gerade ins Bett. Soll ich Ana an den Hörer holen?“

„Nein, lass' Sie sich in Ruhe um die Kinder kümmern.“

„Willst Du majka noch kurz sprechen.“

„Ja, gern.“

„Mein Sohn, wie schön, von Dir zu hören!“

„Mutter! Ich umarme Dich!“

„Wir sind unheimlich stolz auf Dich, dass Dir der Start so gut gelungen ist.“

„Es wurde mir hier auch sehr leicht gemacht. Hier arbeiten einige Landsleute, wir unterstützen uns alle gegenseitig.“

„So soll es sein, mein Junge. Lass' uns jetzt aufhören, das wird zu teuer für Dich.“

„Ich melde mich in zwei oder drei Tagen wieder bei Euch, Kuss für Ana und die Decki.“

07

Alfredo Bugno fällt erschöpft ins Bett. Endlich Urlaub. Eigentlich wollte er sich einer Wandergruppe anschließen, die in der Umgebung des Monte Amiata, mit 1739 Metern die höchste Erhebung in der Toskana (21), eine fünftägige Tour geplant hat.

Aber seine Nervenerkrankung ist fortgeschritten, und die unkontrollierten Zuckungen und Bewegungen, die er in infolge seines Tourette-Syndroms zunehmend macht, lassen eine längere Wanderreise kaum zu.

Statt dieser hat sich Alfredo vorgenommen, an seinen freien Tagen zwei weitere Ärzte zu konsultieren, die im Ruf stehen, auf dem Gebiet der nervlichen Erkrankungen Spezialisten zu sein. Irgendwie muss es ihm gelingen, der Krankheit Einhalt zu gebieten.

Alfredo hat einen sicheren Arbeitsplatz in der Fertigung des Automobilherstellers Fiat am Lingotto, dem legendären Hauptsitz von Fiat im Süden Turins.

Gegründet wird die Firma Fiat am 11. Juli 1899 von neun Personen. Einer von ihnen ist Giovanni Agnelli senior, der Großvater von Gianni Agnelli, unter dem Fiat in den 60er Jahren zu einer großen europäischen Marke wird (22).

Alfredo ist an der Produktion des Fiat Nuova 500 beteiligt und fest in die zunehmend beschleunigte Fertigung des Automobils eingebunden.

Nehmen die Tics weiter zu, wird er seinen Job kaum weiter zur Zufriedenheit seiner Vorgesetzten ausführen können.

Mario Stroppa, der zu jener Zeit als Fertigungsleiter in Turin arbeitet, ist ein guter Freund der Familie Scirelli.

Er ist entschlossen, solange es eben geht an Alfredo Bugno, dem Cousin von Guiseppe Sicrelli, festzuhalten.

Er denkt daran, ihn demnächst in einen anderen Teil des Produktionsprozesses einzubinden, der eher mit seinen krankheitsbedingten unkontrollierten Bewegungen vereinbar scheint.

Just in den Tagen, an denen sich Alfredo Bugno auf den neuesten Wissensstand bezüglich seiner Erkrankung bringt, erreicht Mario Stroppa ein Anruf von Guiseppe Scirelli:

„Ciao Guiseppe, das ist ja eine schöne Überraschung. Wir haben lange nicht mehr gesprochen“

„Ti saluto! Wie geht es Dir, Mario?“

„Bestens, ich kann nicht klagen. Und Dir und der Familie?“

„Soweit auch tutto bene, alles gut.“

„Wir müssen uns einmal wiedersehen, Guiseppe.“

„Ja, das müssen wir. Warum ich anrufe, Mario...“

„Ja?“

„Es geht um Alfredo. Denkst Du, dass er den Anforderungen in Deinem Betrieb noch gewachsen ist? Ich habe da meine Bedenken.“

„Der Junge legt sich wirklich mächtig ins Zeug. Er scheint mir wild entschlossen, sich hier trotz der Sache zu beweisen.“

„Certo, aber es steht wirklich nicht gut um ihn. Diese Krankheit...Ich weiß nicht, ob man Alfredo einen Gefallen tut, wenn er sich in diesem Zustand noch der Öffentlichkeit zeigt.“

„Was soll das heißen?“

„Es gibt da ein noch recht neues Wohnheim in der Nähe von Bergamo.“

„Und?“

„Ich denke, das ist das Beste für Alfredo. Es gibt dort eine Behindertenwerkstatt und es wird selbst gekocht.“

„Behindertenwerkstatt? Alfredo ist doch nicht behindert!“

„Wie würdest Du das denn nennen, Mario?“

„Ich weiß es nicht, aber...“

„Du siehst doch selbst, wie es immer schlimmer wird mit seinen Anfällen. Wofür ihn weiter auf der Arbeit quälen?“

„Er liebt seine Arbeit. Ich glaube nicht, dass er sich bereits im jetzigen Stadium der Krankheit quält. Man sollte...“

„Mario, wir brauchen das an der Stelle nicht weiter zu diskutieren. Ich habe einen Arzt, der Alfredo die Berufsunfähigkeit attestiert. Es ist bereits ein Platz im Pflegeheim reserviert.“

„Du willst Deinen eigenen Cousin ins Pflegeheim abschieben?“

„Wir haben keine andere Wahl.“

„Das sehe ich anders. Ich habe schon überlegt, ihm eine etwas weniger anspruchsvolle Tätigkeit zu übertragen.“

„Die Famiglia hat entschieden. Nach seinem Urlaub sprichst Du Alfredo die Kündigung aus. Seine Wohnung in Turin habe ich bereits gekündigt.“

Guiseppe Scirelli legt den Hörer auf.

Mario Stroppa sitzt mit offenem Mund in seinem Bürostuhl und ist völlig perplex. Wie kann man einen jungen Mann derart aus dem Leben reißen? Wie kann es den Scirellis dermaßen wichtig sein, Alfredo so schnell wie möglich aus der Öffentlichkeit zu ziehen und ihn in ein abgelegenes Pflegeheim einzuweisen?

Mario Stroppa kann sich keinen Reim auf das gerade Gehörte machen. Das Telefonat mit Guiseppe Scirelli lässt ihn völlig verwirrt zurück und beunruhigt ihn zutiefst,

08

Während Paul Schmitz Ende Anfang der 60er Jahre in der Ausländerbehörde sehr viel mit dem Zuzug von südeuropäischen Gastarbeitern beschäftigt ist, widmet sich sein Bruder Werner bei der Kölnischen Umschau mit Begeisterung dem Aufbau einer Sportredaktion.

Sowohl das Interesse am Breiten- wie am Spitzensport als auch die Auflage der zweitgrößten Kölner Zeitung sind immens gestiegen, so dass Werner Schmitz den Auftrag erhalten hat, zwei Mitarbeiter einzustellen.

In der Mittagspause hat er ein Gespräch mit einem Kandidaten, den er in einer nahegelegenen Gaststätte treffen will. Die Kölnische Umschau ist zentral gelegen, unweit des Hauptbahnhofes und auch in Nähe des größten Wahrzeichens der Stadt am Rhein, des ab 1248 erbauten Kölner Doms.

Werner will sich noch kurz die Beine vertreten und so verlässt er seine Redaktion frühzeitig, um noch ein wenig in der schönen Maisonne herum zu schlendern.

Werner Schmitz ist gebürtiger Kölner. Er liebt diese Stadt, er lebt sie. Nach seinem Aufstieg zum bekannten Lokal- und Sportjournalisten ist er in Köln ein bekannter Mann, fest im gesellschaftlichen Leben Kölns wirklicher und selbst ernannter Größen verankert und über vielfältige Kontakte verfügend.

Was ihm noch fehlt, ist die Frau fürs Leben. Werner Schmitz hat die 40 bereits überschritten, es wird Zeit, eine Familie zu gründen.

Eine halbe Stunde bleibt ihm noch bis zum Termin im „Alt Köln am Dom“, einem stadtbekannten großen Restaurant am Bahnhofsvorplatz.

Gedankenverloren flaniert Werner über den Domvorplatz, als er einer jungen Dame gewahr wird, die, genüsslich an einem Eis schleckend, zwischen den Geschäften am Rande des Platzes hin- und hergeht.

Nur selten um einen guten Spruch verlegen, nähert er sich der auffallend hübschen, offenbar noch blutjungen Frau, behutsam und wartet, bis sie sich von den Geschäften abwendet und seine Richtung einschlägt.

Als sie an ihm vorbeikommt, nimmt er allen Mut zusammen.

„Darf ich vorstellen, zur Linken der Kölner Dom!“

Nicht sonderlich originell, denkt er sich, und hofft, dass sein legerer Spruch dennoch ausreichend ist, um die junge Dame in ein Gespräch zu verwickeln.

„Das ist ja interessant. Arbeiten Sie als Fremdenführer?“

„Nein, ich bin Lokal- und Sportredakteur bei der Kölnischen Umschau, gleich hier um die Ecke, in der Stolkgasse.“

„Ich arbeite auch hier in der Nähe, in der Industrie- und Handelskammer.“

„Dann sind sie auch in der Mittagspause?“

„Ja.“

„Ich würde Sie ja gern auf einen Kaffee einladen, aber ich habe gleich im Alt Köln einen Termin mit einem Bewerber für unsere Redaktion. Vielleicht können wir uns morgen in der Pause treffen?“

„Ich glaube nicht, dass ich im Moment eine gute Gesprächspartnerin bin. Meine Mutter ist kürzlich verstorben.“

„Das tut mir leid, dann werde ich Sie selbstverständlich nicht weiter belästigen. Hier: Meine Visitenkarte. Wenn Sie es sich anders überlegen, wenn Sie Hilfe brauchen oder Ihnen einfach nur nach Reden ist, melden Sie sich einfach.“

Zögernd nimmt Clarissa Kramer die Karte des Unbekannten an und wendet sich von ihm ab.

„Mein Name ist Werner Schmitz.“, ruft der Journalist Clarissa noch nach.

Kurz dreht sie sich noch einmal zu ihm um. „Ich heiße Clarissa.“

Nach der Arbeit Zuhause angekommen, hat Clarissa Kramer die Begegnung am Mittag beinahe schon vergessen.

Die Beerdigung Ihrer Mutter muss geplant werden, zudem gilt es, eine neue Wohnung zu suchen.

Jetzt, nach dem Tode Amandas und dem Auszug der Schwester Antonella, die geheiratet hat, ist die Wohnung in der Meister-Ekkehart-Straße in Köln-Lindenthal für sie und ihren Vater zu groß und vor allem deutlich zu teuer.

Die Wohnungssuche gestaltet sich als schwierig. Die Mietpreise in Köln steigen, „Schnäppchen“ gibt es selten und um an günstige Wohnungen zu kommen, bedarf es oft persönlicher Kontakte zu einflussreichen Menschen in der Stadt.

Clarissa und Hans haben bereits mehrere Wochen erfolglos gesucht, als Clarissa durch Zufall eine Visitenkarte in der Tasche ihrer Sommerjacke entdeckt. Warum ist ihr der Gedanke nicht schon vorher gekommen? Werner Schmitz arbeitet bei der Zeitung, er verfügt bestimmt über entsprechende Kontakte und kann ihr womöglich bei der Wohnungssuche helfen. Ob er sich wohl noch an sie erinnert?

Einen Versuch ist es in jedem Fall wert und so greift sie zum Telefonhörer.

„Guten Tag Herr Schmitz, hier ist Clarissa.“

Werner Schmitz freut sich sehr über den unverhofften Anruf. Hatte er doch schon gar nicht mehr damit gerechnet, von seiner flüchtigen Bekanntschaft vom Domvorplatz jemals wieder zu hören.

„Guten Tag! Das ist ja eine freudige Überraschung.“

„Haben Sie vielleicht heute in der Mittagspause Zeit? Ich habe eine Bitte, vielleicht können Sie mir helfen.“

„Ja, kein Problem. Wo sollen wir uns treffen? 12:30 Uhr beim „Gröters“? Kennen Sie die Gaststätte?“

„Ja.“

„Dann bis gleich.“

„Vielen Dank, Herr Schmitz.“

Werner Schmitz springt auf von seinem Stuhl und klatscht in die Hände. Hatte er doch gar nicht mehr erwartet, von der jungen Dame, die Wochen zuvor seine Aufmerksamkeit erregt hatte, jemals wieder zu hören.

Es ist erst 10:00, dem Sportjournalisten fällt es schwer, sich weiterhin auf die Arbeit zu konzentrieren. Seine Gedanken kreisen bereits um das bevorstehende Treffen mit der schönen Unbekannten.

Bereits um 12:15 betritt Werner das Lokal.

„Hallo Bätes, tu' mir mal ein Kölsch.“

„Werner! Was treibt Dich den schon mittags hier hin, Du kommst doch sonst erst nach Feierabend?“

„Das wirst Du gleich sehen, Junge. Trinkst Du eins mit?“

„Da sage ich selten nein.“

„Dann mach' Dir auch eins.“

„Prost, Werner.“

„Prost, Bätes.“

Pünktlich um 12:30 betritt Clarissa Kramer die Gaststätte Gröters.

„Guten Tag, Herr Schmitz.“

„Guten Tag, Clarissa. Schön, Sie wiederzusehen. Leider kann ich Sie nur beim Vornamen anreden, also tun Sie das doch auch: ich heiße Werner. Lassen Sie uns zum Du übergehen.“

„In Ordnung, Werner.“

„Was möchtest Du trinken?“

„Nur ein Wasser bitte, ich muss ja gleich noch arbeiten.“

„Ein Wasser für die Dame und noch ein Kölsch für mich, Bätes.“

Werner Schmitz ist genauso beeindruckt wie bei der ersten Begegnung auf der Domplatte, irgendetwas an der jungen Frau fasziniert ihn.

„Du siehst sehr südländisch aus. Hast Du Familie in Südeuropa?“

„Meine Mutter ist...meine Mutter war...“, Clarissa stockt die Stimme.

„Brauchest Du ein Taschentuch?“ fragt Werner.

„Nein, es geht schon. Meine Mutter war Italienerin.“

„Das lässt sich nicht verleugnen, die italienische Herkunft steht Dir aber ganz hervorragend.“, umschmeichelt Werner die junge Frau.

„Danke.“

„Nun gut, wie kann ich Dir helfen?“

„Ich suche für meinen Vater und mich eine neue Wohnung. Wir wohnten zu viert, meine Schwester Antonella hat geheiratet und ist bereits ausgezogen, in einer Wohnung in der Meister-Ekkehart-Straße in Lindenthal. Nach dem Tod meiner Mutter suchen mein Vater und ich eine etwas kleinere und vor allen Dingen eine etwas günstigere Wohnung. Und ich dachte, da Sie, Entschuldigung, da Du bei der Zeitung bist...“.

„Ich werde sehen, was ich tun kann. Schon möglich, dass ich Dir da behilflich sein kann.“

„Das ist wirklich sehr nett von Dir.“

„Mache ich gerne. Noch ein Wasser?“

„Nein, ich muss zurück ins Büro.“

„In Ordnung, sehen wir uns wieder?“

„Mir ist noch nicht nach Ausgehen, Werner. Versteh' das bitte nicht falsch, aber...“

„Schon gut, ich verstehe“

„Danke“

„Ich melde mich bei Dir, sobald ich etwas passendes gefunden habe“

„Danke, Werner. Und einen schönen Tag noch.“

Anmutigen Ganges verlässt Clarissa Kramer das Lokal.

„Mein lieber Mann! Die ist aber noch taufrisch, was?!“ kommentiert der Mann hinter dem Tresen das eben Gesehene.

„Bätes, mach' mir noch ein Kölsch.“, entgegnet Werner Schmitz.

286,32 ₽
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