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Bergmann war, den Gerüchten zufolge, vor einigen Jahren in die Region gekommen, nachdem er seine Kanzlei in Frankfurt aufgeben musste. Bis heute wusste keiner, welche Rolle er eigentlich genau bei der Nationalen Einheit spielte und ob er überhaupt noch etwas damit zu tun hatte. In Nordhessen zumindest war er bislang nicht negativ aufgefallen, eigentlich überhaupt nicht, man wusste noch nicht einmal genau, wo er wohnte, und Kleine sah ihn hier nun auch zum ersten Mal. Wenn er es überhaupt war. In Frankfurt jedenfalls war Bergmann in Bausch und Bogen gescheitert. Kleine grübelte, ob er damals auch seine Zulassung als Anwalt verloren hatte, zumindest wurde darüber auch in der Presse geschrieben. Irgendetwas mit einem Insiderdeal bei Derivaten, bei dem der Herr seine Finger nicht herauslassen konnte. Eine Strafverfolgung wurde gerade noch so verhindert. Jedenfalls schien dieser Kerl nun in der letzten Reihe der Sitzplätze für Besucher zu sitzen und das Theater sichtbar zu genießen. Kleine widmete sich wieder dem Geschehen auf den Ratsplätzen, doch eine innere Unruhe ließ ihn nicht los. Der Bürgermeister sprach nun mit einer Frau, die bislang eher teilnahmslos auf einem separaten Stuhl gesessen hatte. Direkt vor großen Schautafeln, auf denen Kleine – und sicherlich auch alle anderen Anwesenden in der Halle – auf den ersten Blick einen Querschnitt durch das Stollen- und Sohlensystem der Erzgrube Christiane erkannten. Beinahe exakt so, wie auf den großen Metalltafeln unten am Besucherparkplatz des Bergwerks selbst.

Die Frau hatte lange rötliche Haare und eine große Hornbrille, die sie immer wieder über den Nasenrücken nach oben schieben musste, was ihr ein Stück sonst sicherlich nicht vorhandener Unbeholfenheit verlieh. Figge schaltete das Tischmikrofon wieder ein und kündigte den nächsten Tagesordnungspunkt an, der in der ursprünglichen Sitzungsordnung mal der erste gewesen war. Aha, dachte Kleine, dann musste die Frau also tatsächlich die Sachverständige des zuständigen Bergamtes sein. Maria Vanderwalde oder so? Er hatte den Namen bereits irgendwo in der Tischvorlage der Sitzung gelesen und hin und wieder Statements von ihr in der Presse, wenn es um die stillgelegte Grube ging. So sah sie also in Wirklichkeit aus.

„Sehr geehrte Damen und Herren …“ die Stimme des Bürgermeisters hatte endgültig ihre Souveränität wiedergewonnen, mit der Figge auch Eröffnungsreden zu Schützenfesten und Wandertagen anzustimmen pflegte. Stolz und Optimismus. Alles wird gut. „… ich darf Ihnen Frau Vanderwalde vorstellen …“.Kleine bemerkte einen kleinen Anflug von Unsicherheit. Figge räusperte sich, blätterte in seiner Tischvorlage, fand dann offenbar, was er suchte und setzte neu an. „… Dr. Vanderwalde, die zuständige Geologin des Bergamtes in Arnsberg. Sie wird uns nun in einer länderübergreifenden Zusammenarbeit über die geologischen Herausforderungen und Zeiträume informieren, in denen eine Wiederinbetriebnahme der Grube Christiane möglich ist. Frau Vanderwalde, die Zuhörer gehören Ihnen …!“ Ein kurzes Lachen bei den Zuhörern, dankbar wurde der kleine Spaß aufgenommen. Wiederinbetriebnahme, er hat es wirklich gesagt, dachte Kleine. Was für ein Verwaltungsbeamtendeutsch! Er schüttelte missbilligend den Kopf und suchte Blickkontakt zu Emde. Der aber schien völlig der jungen Frau Doktor erlegen. Wie einige andere Männer in der Halle offenbar auch, wie der Journalist mit einem Blick in die Runde bemerkte. Der attraktive Rotschopf nahm davon jedoch keinerlei Notiz. Der feine Punkt eines Laserpointers huschte bereits über schraffierte Flächen und bunte Unterlegungen, mit denen verschiedene Gesteinsschichten gekennzeichnet waren, die weit unterhalb dessen lagen, was in den fünfziger und sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts mit der damaligen Fördertechnik zu erreichen gewesen war. Sie hatte mit ihrem Vortrag begonnen, sprach von Absatzmöglichkeiten auf den Märkten, die in Relation zu den Explorations- und Betriebskosten stehen mussten. Der Preis bestimme nach wie vor die Nachfrage, erklärte sie, während Kleine sich fragte, inwieweit Geologen auch betriebswirtschaftliche Aspekte eines solchen Projekts durchdachten. Denn die Hauptaufgabe der Geologin war es ohne Zweifel, die Sorgen der Menschen in den Dörfern zu zerstreuen. Dr. Vanderwalde sprach ausgiebig über den Unterschied zwischen Gebirgsschichten über einem Kohle- und einem Erzabbau. Nein, Bergschäden, wie sie im Ruhrgebiet zahlreich aufgetreten waren, würde es auf dem Martenberg und in der Umgebung nicht geben. „Erzgebirge ist im Gegensatz zum Gebirge über Steinkohle ein so genanntes Stehendes Gebirge. Da bricht nichts einfach so durch.“ Sie hielt einen Augenblick inne und musterte ihre Zuhörerinnen und Zuhörer durch ihre Brillengläser. „Im Übrigen gab es ja schon mal eine Reaktivierung der Grube, vielleicht erinnert sich der eine oder andere daran.“ Verhaltenes Lachen und vielfaches Nicken war zu hören und zu sehen. Auch wenn es keine Zeitzeugen mehr gab, wusste jeder im Raum, dass die Grube Christiane bereits in den Anfängen der NS-Zeit nach mehreren Jahrzehnten Stillstand noch einmal ausgepumpt und wieder in Betrieb genommen worden war. Das Deutsche Reich brauchte Erz für seine angestrebte Weltherrschaft. Kleine fiel auf, dass der Klang von Vanderwaldes Stimme so gar nicht zu ihrem Äußeren passte. Er war sehr viel rauer als erwartet, die Sätze weniger von wissenschaftlichen Satzbandwürmern geprägt. Das war eher der Ton, mit dem man sich in einem lauten Umfeld verständlich machen konnte. Dr. Vanderwalde hätte auch problemlos Schiedsrichterin in einer Regionalliga sein können. Oder Grundschullehrerin in einem Brennpunktviertel. Oder Frau Kapitänleutnant auf einem Schnellboot der Bundesmarine. Während es für den Journalisten keine besondere Überraschung war – Geologie war nach Kleines Information ein Studiengang, in dem man sich als Frau eher gegen eine Horde rüpeliger, Baumfällerhemden tragende Naturfreunde als Kommilitonen durchsetzen musste, als in Medizin oder Pädagogik – schienen die Zuhörer in der Mehrzahl fasziniert von der Ambivalenz, die sie geboten bekamen.

Endlich hatte Emde ihn wieder wahrgenommen. Kleine ließ die Augen hinüber zu dem immer noch unbekannten Besucher wandern, der sich eifrig Notizen machte. Dann ging sein Blick langsam zurück zur Geologin, schließlich nickte Kleine mit dem Kopf zweimal die Strecke von Vanderwalde zu Emde und wieder zurück ab. Der Ermittler verstand, was Kleine vorhatte und nickte ebenfalls. Er würde die Wissenschaftlerin in ein Gespräch verwickeln, in der Zeit würde Kleine dem Unbekannten auf den Zahn fühlen. Ein zwangloses Gespräch nur, ich kenne Sie noch gar nicht, sind Sie neu hier am Diemelsee? Wo wohnen Sie? Ach, wirklich? Das ist aber schön. Ja, ja, richtig, das Haus hat lange auf neue Bewohner gewartet. Und gefällt es Ihnen gut bei uns? Schön!

Kapitel 8

Das Telefon klingelte nur einmal, bevor das Gespräch angenommen wurde. Eine Begrüßung war nicht notwendig. Auch die angerufene Person meldete sich nicht mit Namen. Die Leitung war nicht hundertprozentig sicher. Hundertprozentige Sicherheit musste aber irgendwie zumindest angestrebt werden. Trotzdem: Die Dinge, die gesagt werden mussten, mussten gesagt, die Nachricht weitergereicht werden: „Zwei von den Bullen waren heute hier. Ein Mann und eine Frau. Eine Dunkelhäutige. Ziemlich hübsch.“ Am anderen Ende der Leitung blieb es still. Der Anrufer hörte ein Flüstern, als würde eine Information eingeholt oder weitergegeben. Dann eine Stimme, deutlich zu hören. „Hauptkommissar Emde?“ Der Anrufer bestätigte das. „Wir haben ihn bereits auf dem Radar. Ein Bauernbursche. Dumm und eitel. Lassen Sie ihn ruhig etwas bei sich herumschnüffeln. Er darf auch ruhig etwas finden, was ihn für den Augenblick zufriedenstellt. Sie werden sicher ein gutes und verzichtbares Opferlamm in Ihren Reihen finden, das sich dafür eignet. Bleiben Sie fürs erste ruhig, wir werden uns schon kümmern. Zur Not, wenn es sich nicht vermeiden lässt, auch mit der nötigen Durchsetzungskraft.“ Es knackte, die Leitung war tot. Grußlos. Der Anrufer war beruhigt. Es lief alles gut. Er fröstelte, als er darüber nachdachte, was wohl mit Durchsetzungskraft gemeint war. Sein Gesprächspartner redete immerhin von einem Polizisten, nicht von irgendeinem Kleinkriminellen, dem man mit ein paar Sprüchen Angst einjagen konnte und für den man zur Not mal ein Prügelkommando losschickte. Das Ganze hätte alles nicht passieren dürfen. Eigentlich sollte es nur eine Warnung sein, die dann ausuferte und mit Gewalt endete. Sie hatten auf das falsche Pferd gesetzt. Der Mann, der angerufen hatte, schüttelte sich vor Abscheu.

Am Ende wäre Kleine dann doch fast eingeschlafen. Die weiteren Punkte der Ratssitzung waren von einer lähmenden Belanglosigkeit, wie es nur selten bei derartigen Veranstaltungen geschah. Es ging um Ortsschilder, die Aufstellung und Leerung von Abfalleimern oder verkehrsberuhigende Maßnahmen. In allen Fällen war bereits in den Ausschüssen abgestimmt worden, der Beschluss musste nur noch formal vorgetragen werden. Kleine konnte nur mit Mühe ein Gähnen unterdrücken und sah, dass es vielen Besuchern nicht anders erging. Normalerweise wäre dies eine Sitzung gewesen, zu der man bedenkenlos einen Volontär zu Trainings- oder Strafzwecken hätte abkommandierten können. Veranstaltungen am Abend ohne Extrabezahlung. So etwas macht doch jeder gerne, der etwas werden will bei der Presse, nicht wahr? Die Stimme des Bürgermeisters nahm aber plötzlich einen Tonfall an, der das nahe Ende erahnen ließ, so wie bei einem Langstreckenflug das absinkende Rauschen der Turbinen und die Druckzunahme die nahe Landung verkündeten. Aus einer ähnlichen Lethargie erwachte dann auch Kleine. Er warf einen Blick hinüber. Bergmann oder wie immer er hieß, schien die ganze Zeit dem Geschehen aufmerksam und mit großem Interesse gefolgt zu sein. Auch er rutschte nun aber unruhig auf seinem Stuhl hin und her.

Nach der Verabschiedung, als die Stimme des Bürgermeisters von einem anschwellenden Stimmgemurmel abgelöst wurde und Bewegung in die Reihen der Besucher und Ratsleute kam, stand er auf, nahm seinen Mantel von der Stuhllehne, warf ihn sich über und strebte mit agilen und federnden Schritten dem Ausgang zu. Kleine, von dem frühen Aufbruch überrascht, versuchte, ihm zu folgen, verlor ihn aber jenseits der beleuchteten doppelflügeligen Glastür aus den Augen. Du darfst auf keinen Fall seine Aufmerksamkeit erregen. Du bist ganz normal auf dem Weg zu deinem Auto! Er bremste seine Schritte, kramte in der Jackentasche nach den Autoschlüsseln und sah sich draußen auf dem Parkplatz um, während sich hinter ihm ein Flügel der schweren Glastür mit einem Winseln langsam schloss und die Geräuschkulisse des lauten Stimmgemurmels in der Halle zu einem stillen Herbstabend herunterreduziert wurde, bis schließlich nur noch das Rauschen der Blätter in den Bäumen zu hören war.

Doch der andere schien von der Dunkelheit verschluckt. Kleine blickte sich um. Vorsichtig. Einige Augenblicke vergingen. Dann schlug eine Wagentür zu, startete irgendwo ein Motor, Autoscheinwerfer erhellten Pflastersteine und weitere parkende Fahrzeuge um das anfahrende Auto herum. Kleine sah einen BMW etwa 50 Meter entfernt aus einer Parklücke und in Richtung Ausfahrt gleiten. Ein schwerer M7 Touring, ein wuchtiges Gefährt, scheinbar fabrikneu, dunkle Lackierung. Teuer. Frankfurter Kennzeichen! Kleine merkte sich die Buchstaben- und Zahlenkombination und ging wieder zurück in die Halle, die sich nun auch leerte. Bergmann. Er war fast sicher! Und – er saß nicht selbst am Steuer. Auf dem Fahrersitz hatte der Journalist auch aus der Entfernung die Umrisse einer Frau erkannt. Lange, zum Pferdeschwanz gebundene Haare. Kleine zog sein Mobiltelefon aus der Tasche. Mit wenigen Klicks fand er bestätigt, was er vermutet hatte – und zog tief die Luft ein: Der Mann war tatsächlich Thomas Bergmann.

Maria Vanderwalde hatte alle Hände voll zu tun. Das sah Kleine bereits, als er bei seiner Rückkehr in die Halle an der Garderobe im Eingangsbereich vorbeiging. Stefan Emde musste sich gar nicht bemühen, die junge Geologin am frühen Fortgehen zu hindern. Sie war im Epizentrum interessierter Zuhörer, die Auskünfte über mögliche Umweltschäden im Falle einer neuen Inbetriebnahme der Erzgrube haben wollten. Ein berechtigtes Interesse, fand Kleine. Oft diskutiert in diversen Berichten der lokalen Presse, nicht wenige machten sich, vielleicht sogar zu Recht, Sorgen. Viele der älteren Bewohner von Adorf konnten sich noch gut daran erinnern, dass das Erz in den fünfziger Jahren mit einer kleinen Güterbahn abtransportiert wurde. Die Trassen von damals gab es schon lange nicht mehr, neue Schienen würden verlegt werden müssen. Dort, wo früher die Transportwege waren, lagen heute Gärten und Häuser. Doch Kleine bemerkte, dass die junge Frau mit dunkler, ruhiger Stimme jedem Fragenden eine offenbar zufriedenstellende Antwort gab. Doch, doch, es gebe heute auch modernere Umweltvorschriften. Sicher, die würden und müssten ja auch bei so einem Projekt berücksichtigt werden. Nein, sie sei dafür keine Ansprechpartnerin, ihr Gebiet seien lediglich die geologischen Möglichkeiten, aber sie könne gerne einen Fachmann dafür im zuständigen Ministerium …Kleine wandte sich ab. Das würde noch etwas länger dauern. Er sah stattdessen André Grimmelmann etwas abseits sitzen. Zwei Fraktionsmitglieder standen rechts und links des Stuhls, auf dem er saß. Der Öko-Weltenretter hatte beide Arme über der Brust verschränkt und blickte mit trotzigem Blick auf den Kunststoffboden, während seine beiden Parteifreunde auf ihn einredeten. Wohl doch etwas über das Ziel hinausgeschossen, dachte Kleine.

Emde sprach gerade mit einem der alten Kumpel der Zeche. Wilhelm Klee, ein immer noch rüstiger Senior, dem man die 86 Jahre nicht ansah. Wie die junge Geologin hatte auch der alte Steiger die Angewohnheit von Menschen übernommen, die sich dort verständlich machen müssen, wo es laut ist: Er sprach mit sehr klar akzentuierter, lauter Stimme – dafür aber mit dem für Außenstehende kaum verständlichen Dialekt der Nordhessen: „Ich saach noch zu dem: Mak de Deure too …“ Etwas verstand Kleine von der Sprache, die man nur noch von wenigen alten Menschen auf der Straße oder in Geschäften hörte und die auch sein eigener Vater gesprochen hatte. Er stellte sich zu den beiden dazu und bemerkte, wie Klee sofort aus Höflichkeit ins Hochdeutsche wechselte: „Aber da hatte der Wind sie schon zugeblasen, und dann hatten wir den Salat.“ Der alte Mann wandte sich Kleine zu. „Guten Abend, Herr Kleine.“ Kleine erwiderte den Gruß. „Was sagen Sie denn zu dem Grimmelmann? Der hat sie doch nicht mehr alle, oder?“ Klee musterte ihn interessiert. Kleine zuckte mit den Schultern. „Jeder so, wie er meint, das machen zu müssen.“ Der alte Mann nickte, auch wenn seine blassblauen Augen verrieten, dass er sich mehr Kommentierendes von dem Journalisten erhofft hatte. Irgendeine Meinung, die er heute am späteren Abend bei der Pflichtdiskussionsrunde mit seiner Frau vor dem heimischen Kachelofen übernehmen konnte. Und die würde, Kleine konnte sich das gut vorstellen, zwar nicken, aber kaum von ihrer Strickliesel aufblicken. Daher nahm Klee den Faden selber auf. „Man kann ja vom Lieberknecht einiges Böses gedacht haben. Aber wenn man dem mal begegnete, war der eigentlich ganz in Ordnung, so ein Ende hat der jedenfalls nicht verdient.“ So ein Ende hat wohl keiner verdient, dachte Kleine und wunderte sich ein weiteres Mal, wie trocken der Mord aufgenommen wurde. Der alte ehemalige Steiger wandte sich an den Kriminalbeamten. „Was macht denn eigentlich dein Garagenbenz?“ Kleine konnte sehen, dass Emde die Bezeichnung Garagenbenz gar nicht gefiel. Dessen Ziel war es ja immer noch, den Oldtimer bis zum Jahresende flott zu machen. „Falsche Frage, ganz falsche Frage. Ein neuer Tacho müsste her, Schläuche im Motorraum auch, das taugt alles nicht mehr. Und strenggenommen müsste auch der völlig abgewetzte Schaltknauf erneuert werden.“ Klee schien zu verstehen. „Die Gembecker haben das Auto ja auch nicht unbedingt als Sonntagswagen gehalten. Der musste richtig was leisten.“ Emde atmete tief durch. „Wenigstens ist der Wagen innen gründlich gereinigt und riecht nicht mehr wie ein Ackerschlepper.“ Kleine schaltete sich ein: „Aber wo wir gerade von Autos reden: Wie kommen Sie denn eigentlich gleich nach Hause“, fragte er den alten Mann, bevor dieser sich in weiteren Elegien erging. Er wusste gar nicht, ob Klee noch selbst Auto fuhr, doch irgendwie musste er an diesem Abend die vier Kilometer von Wirmighausen hierhergekommen sein. Dessen Augen blitzen auf. „Ich rufe meine Rosel an. Die holt mich dann ab. Ich habe doch so etwas hier …“ Er kramte in der Innentasche seines uralten und abgewetzten Tweedsakkos und zog vorsichtig einen Gegenstand heraus. Emde und Kleine staunten Bauklötze: Es war ein nagelneues Smartphone. Eine Lotusblüte verriet den chinesischen Hersteller. „Neueste Generation, meine Herren. Mit Smarthome-Technik. Damit kann ich meiner Rosel von hier aus die Leselampe ausschalten, sehen Sie mal hier …“ Er tippte mit dem Lächeln eines Lausejungen auf ein Symbol auf der Oberfläche, ein Menü mit Schiebern öffnete sich. Doch Emde stoppte ihn und erklärte ihm, nun wieder in den heimischen Dialekt gerutscht, er solle seiner Frau mal nicht das Licht zum Lesen nehmen. Man könne ihn auch mit nach Hause nehmen, dann müsste er seine Frau nicht bemühen. „Vorher muss ich aber noch ein Wort mit der Geologin reden“, gab Kleine zu Bedenken, nickte hinüber zu Maria Vanderwalde und tippte wie zum Gruß an seine Stirn, bevor er sich der Gruppe um Vanderwalde zuwandte, die sich nun deutlich gelichtet hatte. Noch war die Frau in ein Gespräch mit einer Zuhörerin vertieft. Kleine sah, wie Visitenkarten getauscht wurden, dann sprach er sie an. „Dr. Vanderwalde?“ Sie blickte ihn über den Rand ihrer Brillengläser an, etwas überrascht. Offenbar hatte zuvor niemand der Gesprächspartner ihren akademischen Titel bemüht. „Kleine ist mein Name, ich bin …“ Sie kam ihm zuvor: „Journalist, ich weiß schon Bescheid.“ Maria Vanderwalde lächelte. Er stutzte, doch sie schnalzte tadelnd mit der Zunge. „Denken Sie, wir wären vom Mond, nur weil wir uns mit altem Gestein beschäftigen?“ Kleine fragte sich für einen Augenblick, ob die junge Wissenschaftlerin diese Schlagfertigkeit auf der Uni gelernt hatte oder ob es ein vielgenutzter Spruch für alle Fälle war. Aber woher zum Teufel wusste sie, wer er war? „Sie fragen sich gerade, woher ich weiß, wer Sie sind, richtig?“ Kleine nickte, sich seinem Schicksal ergeben fügend. „Nun, die Antwort ist ganz anders, als Sie denken. Ich habe vor einigen Jahren mehrere Berichte von Ihnen zum Braunkohletagebau in Garzweiler gelesen. Eigentlich sollten Sie als Journalist ja eine gewisse neutrale Position in ihrer Berichterstattung einnehmen, ist das nicht so?“ Kleine nickte erneut. Er erinnerte sich an diese Berichtsreihe und ahnte, worauf die Frau hinauswollte. „Nun, aber in diesem Fall haben Sie deutliche Sympathien mit den Einwohnern dieses Dorfes gezeigt – ich komme gerade nicht auf den Namen –“ Vanderwalde sah fragend zur Holzkonstruktion der Hallendecke. „... – und ihrem Bemühen um den Erhalt ihres Doms, dieser Kirche, die zwar kein Dom war, aber von allen dort so genannt wurde.“ Kleine sprang zur Hilfe herbei. „Sie meinen St. Lambertus in Immerath?“ Ihr Blick klärte sich. „Richtig, Immerath. Das war schon großes Kino, fand ich. Auch wenn es am Ende doch nichts genutzt hat, aber für einen Mann der Presse haben Sie richtig Herzblut in den Text gegossen. Irgendwann habe ich dann gehört, dass Sie den Dienst quittiert haben. Sich zurückgezogen haben an den Diemelsee. Als ich dann den Auftrag bekam, die geologischen Möglichkeiten hier auszuloten, habe ich mich wieder daran erinnert. Und Sie auch heu te Abend schon früh erkannt, Sie sehen kaum anders aus als auf dem Portraitfoto neben Ihrem Kommentar auf Seite zwei der Westdeutschen Gazette“.

Kleine sah etwas betreten zu Boden und ärgerte sich. Ärgerte sich, dass es aus Sicht der jungen Frau, die vielleicht eine allgemein vorherrschende Meinung widerspiegelte, bereits bemerkenswert war, wenn Journalisten „Herzblut“ in ihre Berichte einbringen. Ärgerte sich über ein plötzlich aufkommendes und altbekanntes Gefühl der Hilflosigkeit, dass tatsächlich die Proteste und Aktionen der Bewohner des ehemaligen Niederrheindorfes Immerath vergeblich waren. Ihr tatsächlich sogenannter Dom, ein wunderschöner Sakralbau aus dem späten 19. Jahrhundert, war schließlich den Abrissbaggern zum Opfer gefallen. Und mit ihm die Erinnerung von Generationen von Einwohnern, für die dieser Ort ein Zentrum des Glaubens gewesen war, die dort Taufen, Kommunion, Hochzeiten und Beerdigungen gefeiert hatten.

„Also, Herr Kleine“, nahm die Geologin den Faden wieder auf, „was kann ich für Sie tun?“ Kleine blickte sich kurz um, eine Angewohnheit, die er sich angeeignet hatte, wann immer er eine vertrauliche Frage stellen wollte. „Ich falle mit der Tür ins Haus, Dr. Vanderwalde, und es ist mir sehr ernst damit und schlussendlich könnte Sie das auch die Polizei fragen.“ Sie blickte ernst angesichts des plötzlich geänderten Tonfalls – Kleine meinte es wirklich ernst, das war ihr klargeworden. „Sie wollen mit mir über den Mord an Carl Lieberknecht reden?“ Vanderwalde wartete die Antwort nicht ab, auch ihre Worte hatten nun eine gänzlich andere Klangfarbe angenommen. „Ich habe dazu nichts zu sagen, es ist nicht mein Thema, ich habe keine Erkenntnisse.“ Sie atmete durch. „Und Sie sind auch nicht bei der Polizei.“

Merkwürdig, dachte Kleine, dass die Leute eine Mauer des Schweigens aufbauen, wann immer das Gesprächsthema in die Richtung des Mordfalls verlegt wird. Er schüttelte lächelnd den Kopf und startete einen neuen Anlauf. „Dr. Vanderwalde, richtig, ich bin nicht bei der Kripo. Aber ich mache mir meine Gedanken.“ Sie wartete ab. Aus einem Instinkt heraus spürte Kleine, dass er der jungen Wissenschaftlerin vertrauen konnte. Kleine blickte sich nochmals um, bevor er fortfuhr. „Sind Sie irgendwann einmal, nun sagen wir, ermutigt worden, Erkenntnisse, die Sie hier gewonnen haben, zugunsten irgendwelcher anderen Ergebnisse zu verändern? Wurden Sie dabei möglicherweise bedroht? Oder hat man Ihnen etwas in Aussicht gestellt?“ Er sah, wie der Ernst aus Vanderwaldes Blick wich und einer abgrundtiefen Empörung wich. „Erlauben Sie mal …!“, begann sie, doch Kleine hob beschwichtigend die Hand. Nichts für ungut. Er blickte sich erneut um. Besser man weiß, wer sich möglicherweise neugierig in Lauschdistanz gestellt hatte.

„Dr. Vanderwalde“, redete er sie zum dritten Mal und bewusst mit ihrem akademischen Abschlussgrad an, „ich war mir schon zuvor sehr sicher, dass ihre Antwort dreimal Nein lauten würde.“ Wie in der biblischen Verleugnung des Jesus durch seinen Jünger Petrus, durchfuhr es ihn. „Aber es kann sein, dass genau dies passieren wird: Dass Sie gebeten oder gar auf andere Weise gezwungen werden könnten, Ansichten, Meinungen, Beobachtungen und Erkenntnisse zu färben. Ich möchte Sie bitten, wenden Sie sich in diesem Fall an die Polizei. Machen Sie keine Kompromisse.“ Kleine drehte sich um und wies mit dem Kopf hinüber zu Emde, der immer noch mit dem alten Steiger sprach. „Hauptkommissar Emde dort drüben leitet die Ermittlungen. Wir sind befreundet. Ich weiß offiziell nichts über den Ermittlungsstand und er verletzt auch nicht das Dienstgeheimnis, indem er mir irgendetwas darüber mitteilt“, was allerdings eine glatte Lüge ist, „aber als Journalisten sind wir auch immer berufsmäßig neugierig. Ich mache mir Gedanken über diesen Mordfall und sehe, dass da einiges nicht zusammenpasst. Und ich glaube, eine Ahnung zu haben, welche Entwicklung die ganze Sache nehmen könnte.“ Vanderwalde nickte, etwas unsicher, wie Kleine sah. Weiß sie mehr, als sie sagt? Oder hat sie einfach Angst, weil sie mich für einen Psychopathen hält? Kleine ging aufs Ganze. „Hier …“ Er nahm einen Zettel aus der Sakkotasche und kritzelte seine Handynummer auf das Papier. „Lassen Sie uns einen Deal machen. Unter der Nummer erreichen Sie mich, wenn Ihnen etwas auffällt, das Ihnen nicht ganz koscher vorkommt, aber Sie nicht zur Polizei gehen wollen.“

Sie nahm den Zettel zögernd. Es war eigentlich ein Kassenbon aus einer Buchhandlung in Korbach. Ihr Blick war immer noch eine Mischung aus Abscheu und Verärgerung. Kleine hatte keinerlei Vorstellung, wie sie auf seine plumpe Bitte reagieren würde. Aber vielleicht würde es irgendwo etwas lostreten. Würde Unsicherheit stiften. Wer unsicher war und eine unerwartete Planänderung vornehmen musste, machte vielleicht Fehler. Und Fehler machten sich irgendwann bemerkbar und hinterließen Sollbruchstellen in jedem noch so ausgeklügelten Plan. Langsam sah sie auf das Papier, sah die Nummer, drehte den Bon um, las den Preis und den Artikel, den er damals gekauft hatte. Prompt bekam Kleine seine verbale Ohrfeige: „Schön zu wissen, dass Sie Tom Clancy lesen. Tom Clancy!“ Ihre Stimme war deutlich von Spott geprägt, als sie den Namen, künstlich einen amerikanischen Akzent imitierend, in die Länge zog, als würde sie Kaugummi kauen. „Ich hätte Ihnen ehrlich gesagt mehr zu getraut. Aber Männer scheinen auf diesen Militaria-Kram zu stehen.“ Kleine blickte wie bloßgestellt zu Boden und entschied sich dann für die Flucht nach vorne. Er zuckte mit den Schultern und lächelte, als wäre er bei einem harmlosen Streich erwischt worden. „Manchmal ja.“ Tatsächlich hatte er den Clancy verschenkt, als Emde sein Faible für Spionagethriller entdeckt hatte. Ein guter Einstieg in ein nicht einfaches Genre, hatte Kleine sich gedacht. Und war ‚Jagd auf Roter Oktober‘ nicht auch als Film ein Meisterwerk?

Nachdem sie Wilhelm Klee in der höher am Hang gelegenen Straße vor dessen Haus abgesetzt hatten, berichtete Kleine seinem Freund von dem Gespräch mit der Geologin. Emde war nicht gerade begeistert. Die Kripo hatte noch keinen Kontakt zu der jungen Frau aufgenommen, weil sie bislang keinerlei Anhaltspunkte hatte, dass der Mord irgendetwas mit der Grube zu tun hatte. Dabei verschwieg Kleine, dass er im Vergleich dazu sogar praktisch die Tür eingetreten hatte, bevor die Polizei auch nur – in dieser Symbolik bleibend – höflich geklingelt hatte. Doch er hatte seine Gründe. Gute Gründe. Dass er dem Unbekannten, in dem er Thomas Bergmann vermutete, hinterherspioniert hatte, verschwieg Kleine ebenfalls. Er wollte keine falschen Vermutungen in die Welt setzen.

In seiner Hütte angekommen tastete er sich zur Küche durch, ohne das Licht einzuschalten. Bleiche Helligkeit aus der geöffneten Kühlschranktür floss in den Raum, als er sich eine Flasche Bier aus dem unteren Fach nahm, den Bügelverschluss mit einem lauten Ploppen öffnete und den Inhalt der Flasche durstig in einem Zug trank. Kleine dachte nach. Der jähe Schuss leichten Alkohols mit Hopfen und Hefe tat ihm gut und beruhigte ihn auf einen Schlag. Es war fast schon sein abendliches Heimkehrritual. Aber eine tiefe Unruhe blieb und ließ sich nicht so rasch vertreiben. Fast schien es ihm, als hätten unbekannte Mächte am Diemelsee begonnen, in einem Spiel die Fäden zu ziehen, das für die Einwohner der Region sehr viel Unheil bereithalten würde. Ihm ging durch den Kopf, was ihnen der alte Bergmann Wilhelm Klee gesagt hatte, als sie ihn auf der Rückfahrt von Adorf gefragt hatten, was er denn davon halten würde, wenn eines Tages in seiner alten Grube wieder Erz gefördert würde. „Das wäre doch sicher toll für dich, was, Willi?“, hatte Emde gefragt. „Wenn so ein Lebenswerk von jüngeren Händen erfolgreich weitergeführt wird.“ Klee hatte vorne sitzend aus dem Autofenster gesehen und still gelächelt. Dabei wirkte er weise und verschlossen wie der Dalai Lama, hatte Kleine gedacht. Das wäre keine gute Idee, lautete schließlich die Antwort des alten Mannes. „Das würde unserer Barbara nicht gefallen.“ Während Kleine im Rückspiegel Blickkontakt mit Emde suchte und sich noch fragte, wer gemeint war, denn schließlich hieß Klees Frau ja Rosalinde, von allen nur Rosel genannt, fiel ihm ein, dass der Alte die heilige Barbara meinte, die Schutzpatronin der Bergleute. „Die würde das nicht gut finden. Eine Grube, die so lange Zeit verschlossen ist, soll man nicht mehr öffnen. Das gilt für Gräber wie für Bergwerke. Es bringt nur Unheil. Über wie unter Tage.“

Kleine öffnete sich das nächste Bier. Er musste an ein Versprechen denken, dass er vor vielen Jahren an einem weit entfernten Ort gegeben hatte. Er musste an Bergmann denken. Dessen selbstsichere Art, die Dinge stets unter Kontrolle zu haben, das undurchsichtige Lächeln hatte sich in Kleines Erinnerung gefressen wie ätzende Säure. Ihn fröstelte immer noch angesichts der Erinnerung und der Worte des alten Steigers.

Einige hundert Meter Luftlinie entfernt hatte Emde inzwischen vorsichtig die Haustür geöffnet. Der Klang einer chinesischen Guzheng, einer Art Zither, drang aus dem Wohnzimmer. Susanne war offenbar mit ihrer Yogaübung beschäftigt. Dazu hörte sie gerne diese Art von Musik. Für den Hauptkommissar nichts weiter als Asia-Imbiss-Beschallung. Die Jungen schliefen sicher schon. Aus den Zimmern die Treppe hinauf vernahm er keinen Mucks. Ein kleines Nachtlicht, in eine Steckdose über der Fußleiste gesteckt, verbreitete dort oben ein rötlich-warmes Leuchten. Er blickte auf die Uhr. Es war mal wieder viel zu spät geworden. Er ging in die Küche, in der es nach einer Hühnersuppe duftete. Tatsächlich war noch etwas davon da. Während das aromatische Gericht auf dem Herd stand und Wärme annahm, blickte er aus dem Fenster den Hang hinauf in den dunklen Wald. Tag zwei und sie kamen in diesem Fall nicht voran. Verdammt! Emde schüttelte missbilligend den Kopf.

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