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Er stieg aus und folgte dem vermeintlichen Starfotografen ins Foyer der Gerichtsmedizin. Er sah den jungen Mann dort in einer Sitzgruppe hocken und auf seinem Handy daddeln. Ein Youngster mit rasend machendem Restless-Legs-Syndrom. Muss jederzeit abchecken, was in seiner Community abgeht. Constanze Lieberknecht hatte sich nur einmal umgeblickt und den Ermittler grußlos gemustert wie ein lästiges Insekt. Nun schritt sie auf den Tisch zu, auf dem ihr ermordeter Mann lag. Mutmaßlich zumindest, korrigierte sich Emde. Die Leiche war von den Füßen bis zu den Schultern mit einem Tuch bedeckt, die Augenpartien waren dunkel unterlaufen und zeigten bereits sichtbare Spuren des Todes, der Bereich der schweren Kopfverletzung war unter einem OP-Tuch verborgen. Nach den strengen gesetzlichen Vorgaben war die Leiche an allen drei Körperhöhlen im Kopf, Brust- und Bauchbereich geöffnet worden. Den Anblick wollte man Angehörigen in der Regel ersparen. Constanze Lieberknecht blieb stehen und blickte auf den Toten herab. Sie schaut wirklich auf ihn herab. Emde spürte das, auch wenn er die Witwe nur von hinten sehen konnte. Die Blicke des Gerichtsmediziners, die er gut sehen konnte und die auch ihrerseits Kontakt zu ihm suchten, sprachen allerdings Bände. Die Temperatur im Raum schien durch die Anwesenheit der Witwe nochmals gefallen zu sein. Nach einem weiteren Augenblick wandte sich die Frau um, blickte Emde kurz und zornerfüllt an und ging zur Tür. Die Absätze ihrer Wildlederstiefel donnerten draußen ein Stakkato auf die Kacheln des Flurs, bevor die selbstschließende Tür wieder leise ins Schloss gefallen war. Emde, der verdutzt hinterher geblickt hatte, drehte sich nun zum Gerichtsmediziner um. Der zuckte mit den Schultern, während er ein grünes OP-Tuch über die komplette Leiche zog und den Verstorbenen so vollständig zudeckte. „Sie hat zumindest nicht gesagt, dass er es nicht ist, also ist er es.“ Er griff zu einem Klemmbrett, fingerte einen Kugelschreiber aus der Brusttasche seines Kittels und notierte etwas auf einem Formular. Emde nickte, er kannte das Prozedere für solche Fälle, das nicht so ganz den gesetzlichen Vorgaben entsprach. Lieberknecht war damit identifiziert, auch ohne ein theatralisches, tränenreiches „Er ist es“, wie man das ebenfalls aus Fernsehkrimis kennt. Emde trat an den Tisch. Ein weiteres Kopfnicken des Ermittlers. Der Mann gegenüber zögerte, verstand dann aber und entfernte noch mal das Tuch vom Kopf der Leiche. Emde pfiff leise, als er den mittlerweile dunkel umrandeten Krater in der Stirn sah. Wie viel Lieberknecht wohl noch mitbekommen haben mochte? Ob er gespürt hat, dass er ermordet wurde? Ein weiteres Nicken als Dank, dann folgte der Polizeibeamte der Witwe. Doch Emde sah draußen auf dem Parkplatz nur noch die Abfahrt der beiden. Irgendetwas im Verhältnis zwischen Constanze Lieberknecht und ihrem Mann war ganz und gar nicht so, wie es sein sollte und auch nicht so, wie sie es gestern versucht hatte, ihnen vorzugaukeln.

„Kinder, lasst uns mal zusammenfassen, was wir haben.“ Emde hatte seinen Bürostuhl hinter seinem Schreibtisch hervorgerollt. Seine Kolleginnen und Kollegen taten es ihm nach, nun saßen sie im Kreis zwischen ihren Tischen. Eigentlich wie eine Sitzgruppe in der Psychotherapie, hatte Emde immer wieder gedacht. Aber bei irgendeinem Fall hatten sie festgestellt, dass sie so am besten mit den Ermittlungen von der Stelle kamen. Keiner verbarrikadierte sich hinter einem Tisch oder Akten, keiner hatte etwas zu verbergen, Ideen und Vermutungen konnten frei geäußert werden. Irgendwann werfen wir uns sogar ein Wollknäuel zu. Emde musste immer wieder lächeln bei dem Gedanken daran, mit welchem Ernst sein Team an solche Gesprächsrunden herantrat. Neue im Team wurden schnell auf die Tradition eingeschworen. So war es auch jetzt. Seine ‚Neuen‘ aus Kassel gehörten schon fest dazu. Ohne jede Ränkespiele, was Emde wunderte. aber gleichzeitig auch freute. „Erstens: Lieberknecht ist identifiziert. Zweitens: Es war definitiv Mord von jemandem, der weiß, wie so etwas geht. Und auch, wie man danach spurlos verschwindet.“ Emde ging in Gedanken die Ermittlungsergebnisse der Tatortgruppe durch. Sie bestanden aus einem Wort. „Nichts“, hatte Meistermann ihm staunend berichtet. „Absolut überhaupt nichts.“

Emde rieb sich die Stirn. Dass die Anwohner im nahen Heringhausen weder etwas gesehen, noch etwas gehört hatten, wunderte ihn nicht weiter. Häufig fiel den Leuten später noch etwas ein. Diese Informationen waren aber mit Vorsicht zu genießen, da oft die Wahrnehmungen von Nachbarn oder Bekannten mit hineingewoben waren. Was ihn aber ärgerte: Auch die Wabenüberprüfung der Mobilfunkanbieter hatte zu keinem nennenswerten Ergebnis geführt. Emde hatte in diese Abfrage viel Hoffnung hineingelegt: Zur Tatzeit am frühen Sonntagmorgen dürften nicht viele Mobilfunktelefone in den Netzen angemeldet gewesen sein. Aber alle Kontakte gehörten zu Nutzern, die am Diemelsee oder in der Umgebung gemeldet oder zumindest lückenlos nachverfolgbar waren, in der Mehrzahl Angestellte des Hotels am See. Ein weiteres Indiz dafür, dass sie es mit einem lautlosen Profi zu tun hatten. „Da kommen wir offenbar erstmal nicht weiter. Aber wir müssen darüber nachdenken, warum das Ganze auch wie ein Mord aussehen sollte. Also: Mord aus pädagogischen Gründen.“ Seine Leute lachten verhalten kurz auf. Emde ergänzte zunächst nicht, dass inzwischen eine Information über den Fall an das Landeskriminalamt gegangen war. Vielleicht kam von dort eine Idee, wo nach einem möglichen Täter zu suchen war. Ob einschlägige ‚Kunden‘ bekannt waren und wo sie sich gerade aufhielten. „Drittens: Seine Frau ist kalt wie ein Fisch und scheint beinahe nicht unglücklich, dass er abgetreten ist. Motiv? Irgendjemand eine Idee?“ Er blickte sich um. Gegenüber sah eine Kollegin auf. „Eifersucht?“ Emde schaute die Kollegin an. Sie sprach weiter. „Ich meine, können wir ausschließen, dass er fremdgegangen ist? Immerhin scheint ja auch die Frau über ausreichende Mittel zu verfügen, so jemanden zu casten.“ Vereinzeltes Nicken. Auch eine Idee, dachte Emde. Aber heuert man deswegen direkt einen Berufsmörder an? Trotzdem – er notierte diese Möglichkeit. Eifersucht. Er ließ etwas Platz für weitere Ideen zu diesem Motiv. „Was sonst noch?“ Eine weitere Stimme war zu hören: „Lieberknecht hatte konkrete Kenntnisse über irgendetwas, das irgendjemandem gefährlich werden könnte.“ Das war Bangert. Er hatte sich in die Informationen zum Thema Prospersoil eingelesen. „Und was könnte das sein?“, fragte Emde zurück. Tatsächlich hatten mehrere Kolleginnen und Kollegen die Ermittlungsakte, so dünn sie bislang auch war, genau studiert. Ja, Prospersoil war tatsächlich so etwas wie ein Enfant terrible in den Reihen der Rohstoffe erschließenden und fördernden Unternehmen. In mehreren Steueroasen rings um den Globus von Asien bis über die Cayman Islands, die Bermudas und den US-Bundesstaat Delaware wurden Steuersparmodelle hart an der Grenze der Legalität genutzt, doch nicht nur das. Emde hatte selbst mehrere Berichte gelesen, die den Rückschluss zuließen, dass mitunter auch mal mit den entsprechenden Mitteln nachgeholfen wurde, wenn wertvolle Rohstoffe in geschützten Arealen vermutet wurden. Wenn es sich nicht vermeiden ließ, wurde in nicht ganz befriedeten Regionen, etwa in afrikanischen Staaten oder deren Fragmenten, auch mal die Aufmerksamkeit nicht ganz der Demokratie verschriebener Regierungschefs, Warlords oder rivalisierender Rebellengruppen erkauft, wenn es der Sache nützte. Entsprechende Klagen wegen Korruptionsverdachts und Beteiligung an Waffenschiebereien und deren Finanzierung waren bei diversen Gerichten eingegangen. Und ja, Lieberknecht war durch seine Investitionen ein Teil dieser unglaublichen Erfolgsgeschichte. Doch das gehörte zunächst nicht zu diesen Ermittlungen. Noch nicht, dachte Emde und wusste intuitiv, dass er mit diesem unappetitlichen Teil der Geschichte des ermordeten Bankiers eigentlich nichts zu tun haben wollte – und doch irgendwann musste.

Emde musterte eine weitere Kollegin interessiert. Nora Freese sah so aus, als wollte sie etwas sagen, schien aber noch nicht so ganz zu wissen, wie sie ihren Beitrag sortieren sollte. ‚Nofri‘, wie sie von allen genannt wurde, war ebenfalls von der Mordkommission aus Kassel abkommandiert. Für sie selbst eine Erleichterung, denn Nofri wohnte in Berndorf gleich um die Ecke und musste nun nicht jeden Morgen die Pilgerreise ins weite Kassel antreten. Und sie sprang ins Auge. Ihre lange Zeit kinderlosen Eltern – ihr Vater war immer noch Vertreter für Landmaschinen in Berndorf – hatten vor knapp 30 Jahren die Entscheidung getroffen, ein Mädchen unbekannter afrikanischer Eltern zu adoptieren. In einer sehr ländlich geprägten Region wie Nordhessen zur damaligen Zeit eine bemerkenswerte und eindrucksvolle Entscheidung. So ein Kind fiel auf. Und das tat Nofri bisweilen bis heute. Emde hatte schon gehört, dass sich bei Ermittlungen oftmals, trotz aller gepredigter Offenheit, bei vielen Befragungen Ressentiments ergeben hatten. Manchmal auch offener Rassismus. Die Leute – auch solche, die sich selbst als in keiner Weise von Vorbehalten gegenüber Menschen aus anderen Kulturräumen als dem mitteleuropäischen geprägt bezeichnen würden – sprachen lieber mit dem sichtbar aus heimischen Regionen stammenden Kollegen als mit einer afrodeutschen Beamtin. Sogar dann, wenn Nofri als Kommissarin einen höheren Dienstgrad besaß. Zudem wurde ebenso oft die Frage gestellt, ob denn die Kollegin „aus Afrika ein Praktikum bei der deutschen Polizei“ mache. Einmal war wohl auch das Wort ‚Negerin‘ gefallen. Meistens löste sich das alles auf, wenn Nofri begann, in dem in der Region heimischen Zungenschlag zu sprechen, den sie durch ihre Adoptiveltern perfekt beherrschte. Es war ja auch ihre Muttersprache. Aber das musste man den Leuten einhämmern! Emde hatte sie sofort gemocht. Sie brachte Ruhe ins Team und war durch ihr großes Allgemeinwissen eine Mitarbeiterin von unschätzbarem Wert.

Tatsächlich war ihr Spitzname, der sich aus den Anfangsbuchstaben ihres Vor- und Zunamens zusammenzusetzen schien, mit großem Bedacht gewählt: Nofris gleichmäßige und schöne Gesichtszüge hatten tatsächlich eine nicht zu leugnende Ähnlichkeit mit dem Gesicht der ägyptischen Königin Nofretete. Emde ermutigte sie zu sprechen. „Nofri, du willst etwas sagen?“ Die junge Frau zögerte noch. Doch dann gab sie sich einen Ruck. „Ich denke, wir sollten in Erwägung ziehen, dass wir es vielleicht mit Wissen von größter Bedeutung zu tun haben.“ Emde lehnte sich zurück und wartete ab, was da noch kommen mochte. Wissen von größter Bedeutung. Er beneidete schon jetzt die Kollegen, die in Kassel ständig mit ihr zu tun hatten. Nofri sprach – und alle hingen an ihren Lippen, nicht zuletzt wegen ihrer äußerst gepflegten Wortwahl. Man konnte ihr gut zuhören. Auch, wenn sie sicherlich auch andere Saiten aufziehen konnte. Als Kind mit Landmaschinen groß geworden konnte sie zweifellos eine Wortwahl an den Tag legen, die der groben Natur des Profils eines Traktorreifens in nichts nachstand. „Wissen, für das getötet wird. Gehen wir davon aus, dass es sich um etwas handelt, für das man sich Schweigen mit viel Geld erkaufen kann, dann wäre Lieberknecht nicht ermordet worden. Trotz seiner Millionen, solche Typen neigen immer mehr zur Raffsucht. Sie hätten das irgendwie mit viel Geld unter sich ausgemacht. Außerdem müssen wir bedenken, dass die Tat an sich eine gewisse Strahlkraft hat.“ Sie machte eine Pause und trank einen Schluck Kaffee aus einem Becher, der für irgendein Musikfestival warb. ‚Jazz!‘ las Emde in reduzierter Bauhausschrift. Richtig, Nofri war ja Jazzhörerin, er hatte es schon von Bangert gehört. Vielleicht sollte er sie mal mitnehmen zu Kleine? „Wir haben hier also eine Person oder eine Personengruppe, die den einzigen Ausweg darin sieht, eine ohne jeden Zweifel große Summe zu investieren, damit Lieberknecht dieses Wissen, dass er besitzt, nicht weitergibt. Auf gar keinen Fall. Andere sollen sehen, dass die, die hinter dieser Tat stecken, vor so etwas nicht zurückschrecken. Und damit landen wir bei Hintermännern, die sich entweder gut tarnen und ihre Spuren gut verwischen können oder sich geografisch weit außerhalb der rechtlichen Handlungsmöglichkeiten der Bundesrepublik Deutschland befinden. Also in Staaten, mit denen die Bundesrepublik kein Rechtsabkommen über Strafverfolgung und Auslieferung hat.“ Bangert schmunzelte: „Also quasi ein Mord mit Aussicht.“ Gelächter durchlief kurz das Team angesichts dieser Anspielung auf eine einst beliebte TV-Krimireihe, die in der ländlichen Eifel spielte, aber in Wirklichkeit im Oberbergischen Land gedreht worden war. Doch Emde nickte. „Guter Ansatz!“ Er deutete auf die Ordner, die immer noch wie ein Bataillon Wachsoldaten in einer Reihe auf seinem Schreibtisch standen. „Da haken wir ein. Nofri, sehr gut. Wir müssen wissen, inwieweit Prospersoil solche Verbindungen haben könnte. Findet mir alles raus über mögliche Mitinvestoren aus Ländern, in denen der Hang zur Gewaltausübung möglicherweise etwas lockerer gesehen wird. Russland, der gesamte eurasische Bereich. Vielleicht auch Südamerika und Afrika.“ Emde stand auf. Es war bald Zeit, sich auf den Weg zum Termin mit Döhrenbach zu machen. „Das ist jetzt die wichtigste Zeit, Leute. Mit jeder Stunde werden die Spuren kälter. Wir müssen gucken, dass wir mit den Ermittlungen vom Fleck kommen.“

Kapitel 6

Der Weg nach Kassel, wo Prospersoil eine beeindruckende Niederlassung hatte, führte Emde durch das Twistetal und an Bad Arolsen vorbei in Richtung A44. Von dort sah er schon bald die Kasseler Berge links von der Autobahn in der Sonne des vorangeschrittenen Nachmittags in die Höhe ragen. Am Morgen vor seinem Termin in der Pathologie hatten sie noch eindrucksvoller gewirkt, als sich die tiefen Schatten zu ihren Füßen ausbreiteten und nur vereinzelte Sonnenstrahlen über die Bergrücken leuchteten. Er hatte Nofri kurzerhand gebeten mitzukommen, sie wiederum hatte sich ohne groß zu zögern mehrere Aktenmappen aus zwei Ordnern gezogen. Sie sprachen wenig auf dem Weg. Die junge Ermittlerin blätterte durch die Seiten, machte sich Notizen, recherchierte hin und wieder etwas über ihren Tablet-PC. „Dieser Pressesprecher …“ Sie suchte mit dem Finger schnipsend nach dem Namen. Emde half ihrem Gedächtnis nach: „Döhrenbach …?“

„Döhrenbach, ja. Was für ein Typ ist das, was hast du für einen Eindruck?“

Emde dachte nach. Er hatte nur kurz mit dem Mann gesprochen. Das allerdings hatte für einen ersten Eindruck gereicht. „Sehr sicher, sehr bestimmend. Eher unangenehm. Selbstverliebter Typ. Klang relativ jung.“ Sie nickte, ließ ihn aber nicht an ihren Gedanken teilhaben, sondern vertiefte sich wieder in die Unterlagen.

Sie erreichten das moderne Bürogebäude im westlichen Teil von Kassel nahe der Wilhelmshöhe etwa zehn Minuten später. Es beherbergte neben dem Explorationsunternehmen zwei Anwaltskanzleien, eine Unternehmensberatung und einen Landesverband für Immobilien. Der sehr alerte, blutjunge Mitarbeiter am Empfangstresen trug einen Anzug, der ihn reichlich schlaksig wirken ließ. Er ging eine Liste durch und schaute dann Nora Freese mit einer leichten Missbilligung an. „Ich habe hier nur einmal Emde …“, begann er seinen Satz unsicher und mit der brüchigen Falsettstimme eines jungen Erwachsenen. Emde drehte die Augen zur Decke. „Kommissarin Freese ist meine Assistentin in den Ermittlungen.“ Sein Ton ließ keinen Zweifel daran, dass er die Rückfrage des jungen Mannes für eine peinliche Entgleisung hielt und sie absolut daneben fand. Doch im gleichen Augenblick ärgerte er sich schwarz. Ermittlungen? Welche Ermittlungen? Dieser Bursche dürfte kaum wissen, was der Grund ihres Besuchs bei Prospersoil war. Nun wusste er es und würde es herumerzählen. Leute, die Prospersoiltypen haben heute Besuch von den Bullen bekommen! Doch, doch! Als Nora Freese mit einer elegant-fließenden Bewegung lautlos ihren Dienstausweis auf den Tresen legte, wurde der Mann vollends blass. Auch das würde er nicht für sich behalten können, eine African Queen, Alter, so etwas habe ich noch nicht gesehen! Ein Telefonhörer war plötzlich an sein Ohr gezaubert, auf einem unsichtbaren Telefon wurde eine Durchwahl gewählt. Nur zwei Minuten später öffneten sich vor ihnen die Fahrstuhltüren in den dritten Stock: Über einen geräumigen Flur mit dezenter Beleuchtung und Teppichboden mit tiefem Flor kam ihnen ein Mann etwa um die Dreißig in einem perfekt sitzenden, modisch-taillierten grauen Anzug und weißem offenen Hemd entgegen. Er hatte eher etwas von einem Startrompeter als von einem Büroarbeiter, dachte Emde und verfluchte sich zum zweiten Mal innerhalb weniger Minuten – er hätte Döhrenbach vorher googeln müssen! Aber offensichtlich schien dies tatsächlich der Sprecher von Prospersoil zu sein. Wie ein Schwert hatte er bereits zehn Meter zuvor seinen rechten Arm zum Gruß ausgestreckt und schien Emde zunächst gar nicht wahrzunehmen. „Frau Kommissarin Freese, es ist mir eine außerordentliche Freude …“ Das freundliche Lächeln erinnerte Emde an das Jungengesicht auf den Pappschachteln von Kinderschokolade. Es schien beinahe echt. Dann war er an der Reihe. „Hauptkommissar Emde. Willkommen bei Prospersoil. Nun, es sind tragische Umstände, die uns zusammenführen, aber was wir tun können, um Sie bei den Ermittlungen zu unterstützen, das wollen wir tun. Auch in unserem Interesse.“ Seine Hand, die vorher wie eine Waffe auf sie gerichtet war, wies ihnen nun den Weg den Gang hinunter.

Die beiden Besucher wurden in ein nüchternes Besprechungszimmer geführt. Dort standen bereits mehrere Tassen, eine Kanne Kaffee und eine Schale mit Gebäck bereit. Die Wände zierten riesige Panoramafotos von Bohrinseln in stürmischer See, Grubenarbeitern mit rußgeschwärzten, verschwitzten Gesichtern, die im fahlen Licht der Helmbeleuchtung Kohle abschürften, einem Park mit Windkraftanlagen in einer Wüste und von einer Ölförderanlage, in deren Vordergrund ein Mann mit rot-weißer Kufiya auf dem Kopf und strahlend weißem ­Dischdasch zu sehen war. Genau nach Proporz ausgewählt und sehr beeindruckend, dachte Emde. See, Erde, Wind, Öl. Nordsee, Amerika und Persischer Golf, alles dabei. Döhrenbach griff nach einer Fernsteuerung. Lautlos schlossen sich die Lamellen der Jalousie vor der bodentiefen Glasfront, während sich die Raumbeleuchtung an der Decke langsam aufblendete. Weichfließendes, angenehmes indirektes Licht flutete aufwärts und füllte den Raum. Sie nahmen Platz. „Also …“, begann der Pressesprecher und faltete die Hände, als wolle er eine Beichte ablegen. „Über die Fakten wissen wir natürlich bereits, was in der Presse stand. Was also können wir für Sie tun und was können Sie uns sagen, wie Herr Lieberknecht verstorben ist?“ Täuschte Emde sich da oder nahm er gerade den Anflug von Nervosität wahr? Nein, er täuschte sich nicht, denn Nofri hatte es ebenfalls bemerkt und preschte bereits vor: „Herr Döhrenbach, was macht Sie denn gerade so nervös?“ Richtige Frage, denn der Pressesprecher zuckte kurz zusammen, fing sich dann aber mit einem Lächeln, das jede unverbindliche Kinderschokolade-Freundlichkeit verloren hatte. „Nervös? Ach was, das täuscht. Wer ist denn hier nervös?“ Er zögerte, war sich offenbar bewusst, dass er im Begriff war, auf ganz kurzen Beinen zu lügen, fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Dann entschied er sich für Offenheit. Zumindest für etwas, was er für den Augenblick dafür hielt. „Wissen Sie, Nervosität kann man das nicht nennen. Aber seitdem wir die Nachricht bekommen haben, dass Herr Lieberknecht einem, nun ja, kann man das so sagen? Mord?“ Emde nickte. Diese Tatsache war geklärt und konnte ruhig das Licht der Welt erblicken. „Nun … einem Mord zum Opfer gefallen ist, herrscht hier schon eine gewisse Unruhe. Wie Sie ja sicher bereits wissen, weil es eben im Internet ohne Probleme zu recherchieren ist, war Herr Lieberknecht sehr involviert in das Projekt der Wiederinbetriebnahme der Grube Christiane.“

Döhrenbach stoppte, blätterte in einigen Papieren und gab einen kurzen Überblick über das Projekt. Emde fiel auf, dass er die Streitigkeiten, die sich seit der ersten Erwähnung des Vorhabens in der lokalen Presse am Diemelsee abspielten, mit keinem Wort erwähnte. Auch nicht, dass es bereits zum Austausch verbaler Freundlichkeiten mit einigen Einheimischen gekommen war. „Tja, und auch dieser Standort hier in Kassel ist sehr eng mit dem Erfolg des Projekts verbunden.“ Emde machte sich Notizen, dann stoppte sein Kugelschreiber. „Heißt: Geht das Ding in die Hose, können Sie einpacken?“ Döhrenbach zögerte, nickte dann aber beinahe unmerklich. „Wie viele Jobs hängen da dran?“, fragte Emdes Kollegin. Der Pressesprecher überlegte kurz. „Wir sind hier knapp 25 Personen, hinzu kommen noch derzeit 13 Freelancer, die nicht fest zum Unternehmen gehören.“ Emde stutzte. Womit waren 38 Personen beschäftigt, wenn es nur um die Projektierung eines Vorhabens ging? Nora Freese hatte den gleichen Gedanken zur selben Zeit und stellte die Frage laut. Doch der Sprecher schien darauf vorbereitet. Er lächelte, als würde er eine Weihnachtsüberraschung bereithalten und zauberte aus einer bereitliegenden eleganten Ledermappe einen Organisationsplan des Unternehmens.

Was folgte, war eine Kurzeinführung in die Geschichte und Struktur von Prospersoil. Und wieder, dachte Emde, verkauft er uns das Unternehmen als absoluten Heilsbringer für die gesamte Menschheit. Sein Job, sein Territorium, dafür wird er bezahlt und verdient wahrscheinlich ein Gehalt, von dem er, Emde, als Hauptkommissar nur träumen konnte. „Und hier …“, Döhrenbachs Finger deutete auf ein kleines blaues Rechteck am Rande der Grafik, „hier befindet sich der Standort Kassel, gleichzeitig auch Sitz der hundertprozentigen deutschen Tochter von Prospersoil, der Prospersoil-Germany.“ Die beiden Ermittler beugten sich über die Darstellung und versuchten, einen nachhaltigen Überblick über das Unternehmen zu gewinnen. Was ihnen nicht gelang. Was Freese und Emde dagegen sahen: Niederlassungen, nicht nur, wie sie bereits wussten, an exotischen Orten, in denen man es mit der Steuererhebung nicht allzu genau nahm, sondern auch auf nahezu jedem Kontinent. Zu den Projekten zählte die Erschließung oder auch Rückerschließung von Gold- und Diamantminen in Südafrika, Gasfeldern in der Nordsee und in Sibirien. Es hatte eine Anfrage für Projektbetreuung bei der Erschließung eines Gasfeldes vor Zypern durch die Türkei gegeben. Richtig, darüber hatte Kleine mal etwas erzählt. Offenbar ein nicht ganz unstrittiges Thema dort unten, da das entsprechende Seegebiet weit vor der Küste verschiedener Staaten, unter anderem Israels und Libyens, lag. Diese Länder waren eben auch bereit, das Gebiet ihren Festlandsockeln anzuschließen, und die Sicherheit der Erdgasförderung dort draußen auf See und damit die Staatseinnahmen mit entsprechend ausgestatteten Marineeinheiten zu sichern und im schlimmsten Fall zu verteidigen. „Wir sind hier natürlich in der Hauptsache mit der Erzgrube am Diemelsee beschäftigt“, nahm Döhrenbach den Faden wieder auf. „Aber wann immer es um rechtliche Angelegenheiten anderer Projekte geht, die die Bundesrepublik Deutschland oder deren Interessen betreffen, kommen wir auch ins Spiel.“ Nofri sah auf. „Das heißt, Sie betreiben so eine Art Lobbyismus für diese Projekte?“ Döhrenbach nickte mit einem milden Lächeln, das jeder Buddhastatue Ehre gemacht hätte. „Ganz genau. Hier geht es mitunter um sehr, sehr große Summen und Projekte, die den langen Atem vieler Jahre brauchen.“

Emde räusperte sich. „Nun, Herr Döhrenbach. Ich hätte jetzt eine Frage an Sie, die Sie sicher aus den meisten Fernsehkrimis kennen: Was glauben Sie, wer hätte ein Motiv, Carl Lieberknecht tot sehen zu wollen? Und wem könnte es recht sein, wenn das Ganze auch wie ein Mord aussieht? Immerhin wurde ihm zuvor schon mal Gewalt angedroht.“ Emde spürte, wie Nofri neben ihm begann, leicht mit dem feuerverzinkten Stahlrahmen des edlen Mies van der Rohe-Stuhls zu wippen. Der Pressesprecher überlegte und schürzte die Lippen, schüttelte zunächst den Kopf, schien sich dann aber an etwas zu erinnern und etwas sagen zu wollen. Doch noch hielt er damit zurück. Emde wurde ungeduldig. Baute sich der Mann eine Antwort zurecht? „Nun?“, hakte der Ermittler nach. „Wissen Sie …“ Der Pressesprecher holte tief Luft, bevor er weitersprach. „Diese Bedrohungsgeschichte damals, die Sie angesprochen haben, die hat Herrn Lieberknecht schon sehr zugesetzt. Wenn das eigene Leben so unmittelbar bedroht wird.“ Emde nickte. Er hatte diese Geschichte damals aus zweiter Hand von Kleine gehört, der mit in der Ratssitzung gesessen hatte. Grimmelmann. Grimmelmann der Öko. Grimmelmann, der große Friedensfürst, der kein Leben auf der Welt vernichten wollte. Niemals. Aber auch: Grimmelmann, der Vater eines schwerbehinderten Sohnes. Grimmelmann, der Familienchef, der niemals etwas im Leben tun würde, was seine Familie alleine im Regen stehen lassen würde. Nun, in dieser Situation sind ihm allerdings die Nerven durchgegangen. Grimmelmann hatte Lieberknecht angeschrien und schien sich kaum noch fangen zu können. Die Sitzung, die bis dahin eher unspektakulär verlaufen war, musste abgebrochen werden. Grimmelmann wurde beiseite genommen, seine gesamte Fraktion hatte auf ihn eingeredet und versucht, ihn zu beruhigen. Emde konnte sich die Szene kaum vorstellen. Wahrscheinlich war neben den vielen Worten der ausgestreckte Zeigefinger das Bedrohlichste gewesen, was Grimmelmann zu bieten hatte. „Was meinen Sie mit schon sehr zugesetzt?“, fragte Freese. Döhrenbach sah sie verständnislos an. „Wieso fragen Sie das? Sie waren vielleicht noch nie in einer vergleichbaren Situation, Frau Freese.“ Er lehnte sich zurück, schnaubte und schüttelte – Verständnislosigkeit signalisierend – den Kopf. „Mein Chef sah sich unmittelbarer Waffengewalt ausgesetzt. So etwas bleibt hängen. Da wacht man nachts auf, geplagt von Albträumen.“ Döhrenbachs Stimme nahm leicht an Lautstärke zu. „Sind Sie schon einmal mit einer Waffe bedroht worden?“ Emde stutzte und sah überrascht von seinen Notizen auf. Unmittelbare Waffengewalt? Mit einer Waffe bedroht worden? Da stimmte doch etwas nicht. Wer so von einer Waffe sprach, meinte damit sicherlich kein Küchenmesser. Grimmelmanns Zeigefinger war gewiss auch keine Waffe. Und was war mit unmittelbarer Waffengewalt gemeint? Grimmelmann übt doch keine unmittelbare Waffengewalt aus! Freese schüttelte ebenfalls unmerklich mit dem Kopf, während Emde sich auf seinem Stuhl aufrichtete. Er warf seiner Kollegin einen schnellen Blick zu, der sie ermahnen sollte, zu schweigen. „Herr Döhrenbach. Hören Sie mir jetzt gut zu.“ Seine Stimme war ganz ruhig und klar, er sah dem Pressesprecher fest in die Augen. „Sprechen wir hier von derselben Situation? Der Ratssitzung und dem verbalen Angriff durch den Fraktionschef der Grünen am Diemelsee, Herrn André Grimmelmann?“ Er wartete kurz ab. „Oder ist Herr Lieberknecht zu einem anderen Zeitpunkt ein weiteres Mal bedroht worden. Vielleicht sogar mit einer Schusswaffe?“ Er schaute den Pressesprecher fragend an und zog dabei die Augenbrauen nach oben. Für eine endlos scheinende Zeitspanne war das leichte Rauschen der Lüftung das einzige Geräusch, das zu hören war. Döhrenbach sah ihn fassungslos an, sich selbst ohne jeden Zweifel bewusst werdend, dass er eine unglaubliche Dummheit begangen hatte und ohne jedes Wenn und Aber erkennend, dass die anderen das auch bemerkt hatten. Sein Blick ließ keine andere Deutung zu. Ihm war deutlich anzusehen, dass er einen Ausweg suchte. Du Idiot! dachte Emde, schon ahnend, welchen Verlauf das weitere Gespräch nehmen wurde. Typen wie Döhrenbach würden niemals eine Schwäche einräumen. Die Klappe war zu. Der Sprecher hatte das Sprechen aufgehört.

„Dieser Idiot“, schimpfte auch Nofri noch, als bereits die ersten Hinweisschilder der Autobahnabfahrt nach Marsberg auftauchten. „Was ist das für ein Pressesprecher, der sich so dermaßen derbe verquatscht! Ich fasse das nicht.“ Emde ließ den Fortgang des Gesprächs noch einmal Revue passieren. Nein, nein, es musste ein Irrtum sein, hatte Döhrenbach weiter laviert. Nein, niemals sei Herr Lieberknecht zu einem anderen Zeitpunkt als damals in der Ratssitzung bedroht worden. Sicherlich hätte sich da das Ermittlerduo verhört oder seine Mimik missinterpretiert. Nein, natürlich würde er, Döhrenbach, jetzt die Wahrheit sagen. Er wüsste auch nicht, von was er Anderem gesprochen haben sollte als der Situation während der Ratssitzung. Doch, doch, das Unternehmen Prospersoil Germany trauere um seinen Aufsichtsratsvorsitzenden und großen Anteilseigener. Es gebe natürlich seitens des Unternehmens keinerlei Ideen, wer für das Verbrechen verantwortlich gemacht werden könnte, noch gäbe es irgendwelche Hinweise, welche Hintergründe der feige Mordanschlag an so einem hoch geschätzten Herrn haben könnte. Lieberknecht, so schloss dessen Sprecher, würde nun betrauert und vermisst, ein Nachfolger müsste gefunden werden, der diese Lücke auffüllte. Man hätte bereits erste Sondierungen gemacht und jemanden im Visier, doch die Fußstapfen, nun, sehen Sie, die Fußstapfen, sie sind doch arg groß. „Erstaunlicherweise hat er sich ja dann doch noch ganz gut gefangen“, sagte Emde. Der Pressesprecher hatte wieder auf sein Territorium zurückgefunden und die Ermittler dann kalt abgeduscht. Nofri nickte. Döhrenbach hatte schließlich auf seine sichtbar teure Uhr geschaut, ein mächtiger Armbandwecker mit blinkender Lünette und Lupe für die Datumsanzeige, und sich entschuldigt. „Termine, wissen Sie? Wir haben noch mehrere Meetings gleich im Anschluss“. Er hatte sich sogar das „Schönen Feierabend für Sie“ nicht verkneifen können, als sie sich verabschiedeten. Und schon war die Gestalt im smart-fit-geschnittenen Anzug den Gang entlang gerauscht. Die Fahrstuhltür ging auf und die Ermittler fuhren hinab ins Foyer. Kein Anschluss mehr unter dieser Nummer.

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9783942672870
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