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Читать книгу: «Zweiundsiebzig», страница 5

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13

Nachdem Nico die Detektei verlassen hatte, hatte sich Gilda wieder in die Arbeit vertieft. Die Enttäuschung, dass er Laura nicht gesehen hatte, hatte sie ihm deutlich angemerkt. Was dachte er sich eigentlich? Glaubte er ernsthaft, dass er eine Chance bei ihr hatte? Aber es war rührend, dass er die Recherche-Tour übernommen hatte. Aus welchen Beweggründen auch immer.

Von außen wurde ein Schlüssel ins Schloss gesteckt, dann stand Justin vor ihrem Schreibtisch, den Schulrucksack lässig über die Schulter gehängt.

„Hey, what's up, Bro?“ Gilda streckte ihm die Faust entgegen, er tippte leicht mit seiner dagegen.

„Läuft“, antwortete er cool.

Justin war dreizehn, ein magerer, hoch aufgeschossener Junge in Hochwasser-Jeans und mit linkischen Bewegungen. Das Gesicht trug bereits die kantigen Spuren des Erwachsenwerdens, doch das treuherzige Lächeln und die Grübchen waren die eines Kindes. Seine Familie interessierte sich nicht für ihn. Der erwachsene Bruder ging seinen eigenen Weg, die meist alkoholisierte Mutter kümmerte sich in lichten Momenten nur um den Stiefvater oder um Hausfreunde, die ihr etwas zusteckten, wenn sie nett zu ihnen war.

Marek hatte Justin im Zusammenhang mit dem ersten Fall angeheuert, um bei einer Observierung zu helfen. Und er hatte den Job gut gemacht. Seitdem hatte der Junge in der Detektei eine Art Zuhause gefunden.

„Ist Marek da?“, stellte Justin die Standardfrage.

Er bewunderte den Detektiv, doch vor allem genoss er es, in dessen Abwesenheit das Büro zu benutzen und Counterstrike zu spielen.

„Nein, du hast freie Bahn.“ Sie zwinkerte ihm zu.

„Cool, dann lege ich gleich los. Die anderen sind bestimmt schon im Team-Speak und warten.“

„Hohoho“, bremste Gilda. „Wie sieht es mit den Hausaufgaben aus? Und schreibst du nicht bald eine Mathe-Arbeit?“

Sie hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, mit ihm zu lernen, weil sie sich für ihn verantwortlich fühlte und gleichzeitig davon profitierte. Wegen einer unbehandelten Legasthenie hatte Gilda es mit Mühe bis zur Mittleren Reife gebracht. Die Eltern hatten sie nicht gefördert, sie vertraten die Ansicht, dass Mädchen vor allem im Haushalt ihre Stärken nutzen sollten. Das hatte sie verletzt. Sie war deshalb gleich nach dem Schulabschluss von zu Hause fortgegangen, hatte sich ins freie Leben gestürzt und mit Jobben durchgeschlagen. Sehr zur Enttäuschung ihrer Familie, die sie als Unterstützung für das Restaurant eingeplant hatte.

Erst als Gildas Vater ernsthaft erkrankte, war sie nach Bonn zurückgekehrt.

Barbara, die damals mit ihrem Mann zu den Stammgästen des Lokals gehörte, hatte ihr den Job bei Laura vermittelt. Seitdem hatte sich ihr Leben verändert. Die Arbeit in der Detektei machte ihr Spaß und hatte ihr das Selbstvertrauen gegeben, mit der Abendschule anzufangen, um das Abitur nachzumachen. Da war es eine gute Übung für sie, mit Justin die Hausaufgaben zu machen.

„Wir haben nichts auf. Und gelernt habe ich schon.“ Justin sah unschuldig aus wie ein Engel.

Gilda runzelte misstrauisch die Stirn, nickte dann aber gnädig.

Strahlend verschwand er in Mareks Büro, kurz darauf hörte sie ihn die Calls an die Team-Kameraden brüllen. Belustigt setzte sie gegen den Lärm die Kopfhörer auf und wandte sich dem Computer zu.

Lauras Sorge, dass sich ein Fremder ins Firmennetz stehlen, in den Dateien umsehen und ihr auf die Schliche kommen könnte, hielt sie für übertrieben. Trotzdem ging es ihr nicht mehr aus dem Kopf. Sie wollte sichergehen, dass alles in Ordnung war. Für die Recherche-Touren außerhalb der Legalität nutzte sie zwar immer den privaten Laptop, das Dark-Net oder fremde WLANs, doch man konnte nie wissen. Einen guten Hacker, der sich nur umsah, entdeckte man nicht durch Zufall. Man musste gezielt nach ihm suchen.

Konzentriert analysierte sie die Zahlen von Prozessen. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Sie prüfte, wann Dateien und Festplatte zuletzt aktiv gewesen waren. Und hatte schließlich die bittere Gewissheit: Jemand war ins Netzwerk eingedrungen und hatte vor allem die Personal-Unterlagen unter die Lupe genommen.

In Gilda stieg kalte Wut auf.

Sie griff nach dem nächstbesten Kuli und pfefferte ihn an die Wand. Wie hatte sie so selbstgefällig sein können? Was sie fertigbrachte, war auch für andere kein Hexenwerk. Jeder Noob konnte die Anleitungen im Internet zum Hacken befolgen. Das war schon lange kein Geheimwissen mehr.

Sie knabberte an einem Fingernagel und dachte fieberhaft nach.

Laura würde einen Anfall kriegen.

Und bestimmt denken, dass es ihre Schuld war, dass sie gehackt worden waren. Aber sie konnte nichts dafür. Sie musste jetzt Ruhe bewahren und überlegen, was zu tun war.

Zuallererst würde sie den Hauptrechner putzen. Alle wichtigen Dateien jeden Abend offline stellen. Da hätte sie sich längst drum kümmern sollen.

Jetzt war es zu spät.

Immerhin war es ein Leichtes, die IP-Adresse des Hackers herauszufinden. Doch um wen es sich handelte, wollte sie erst heute Abend von zu Hause aus überprüfen. Sie durfte keinen Fehler mehr machen.

Gilda zog den Laptop aus dem großen Nylonrucksack, der unter dem Schreibtisch stand, und schaltete ihn ein. Hatte der Kerl auch ihre Privatdateien durchschnüffelt?

Er hatte.

Sie verwischte nach Recherchen immer sorgfältig alle Spuren, doch selbst kleinste, noch so unwichtig erscheinende Informationen konnten verräterisch sein, wenn jemand etwas Bestimmtes suchte. Der Eindringling hatte sich das Adressbuch angesehen. Damit besaß er die Kontaktinformationen ihrer Familienmitglieder und Freunde. Sie war ein offenes Buch für ihn.

Gilda packte wieder die Wut.

Sie sprang so heftig auf, dass der Stuhl nach hinten kippte und in die Tür des Wandschranks krachte. Ungeduldig riss sie sich das Headset herunter und stapfte in die Küche. Sie brauchte erst mal eine Cola, um herunterzukommen und dabei die Optionen zu prüfen.

Mareks Bürotür flog auf. „Alles in Ordnung? Bist du hingefallen?“

Justin sah mit den riesigen Kopfhörern aus wie eine besorgte Mickey Mouse. Eine Welle von Zärtlichkeit durchflutete sie. Sie lächelte beruhigend und fühlte sich schon viel besser.

„Alles ok, nichts passiert. Ich bin nur etwas zu schnell aufgestanden, da ist der Stuhl umgekippt.“

Justin kniff die Augen zusammen, dann nickte er, drehte sich um und verschwand wieder in seiner Gamerhöhle.

Gilda lehnte sie sich mit dem Glas in der Hand aus dem geöffneten Küchenfenster und starrte in den Rosenbusch, der direkt vor dem Fenster wucherte. Die Sonne schien warm, Bienen summten auf der emsigen Suche nach Nektar. Dieser Ort war ein Refugium, in dem sie sich sicher und aufgehoben fühlte. Doch der virtuelle Eindringling warf den kalten Schatten kommenden Unheils in das Idyll. Er verfügte über alle Informationen. Sie musste herausfinden, wer er war und was er im Schilde führte.

Die Situation war gefährlich.

14

Laura und Barbara hatten sich noch kurz unterhalten. Dann war die Pianistin mit der hastigen Entschuldigung, dass sie noch viel erledigen müsse, aufgesprungen und durch den Garten verschwunden.

Die Detektivin blieb an ihrem Schreibtisch zurück und widmete sich der Post. Die Rechnungen sortierte sie auf einen gesonderten Haufen, damit sie sie später prüfen konnte. Als sie nach der Tasse greifen wollte, stieß sie gegen den Stapel, die Papiere segelten vom Schreibtisch.

Dabei bemerkte sie, dass das Bild von ihrem Großvater, das sie mit ihm am ersten Tag ihres Studiums gemacht hatte, nicht an seinem Platz stand.

Nachdenklich ließ sie den Blick wandern.

Es schien ihr, als wären auch andere Sachen nicht so, wie sie sie abgelegt hatte. Der silberne Kuli, den sie selten benutzte, lag schräg. Der Bücherstapel mit den antiquarischen Sherlock-Holmes-Ausgaben hatte nicht mehr dieselbe Reihenfolge, der Locher war ganz ans Ende des Tisches gewandert.

Irgendjemand hatte alles in die Hand genommen und woanders wieder hingelegt.

Gilda oder die anderen aus dem Team konnten es nicht gewesen sein. Sie wussten genau, wie sehr Laura es hasste, wenn etwas umgestellt wurde. Außerdem wirkte die neue Anordnung nicht unbeabsichtigt oder zufällig, sondern so, als sollte sie es bemerken. Als wollte ihr jemand die Botschaft senden, dass er da gewesen war. Dass er sich in ihrem Büro bewegt, an ihrem Schreibtisch gesessen, alle ihre Sachen berührt hatte. Sie riss die Schubladen auf, prüfte, ob etwas fehlte.

Doch alles war da.

Nur nicht am richtigen Ort.

15

Es wurde später Nachmittag, bis Gilda sich auf den Weg zu der Schreinerei machen konnte, in der Yasin angestellt war.

Laura war irgendwann aus dem Büro gekommen, mit gerunzelter Stirn und tief in Gedanken, und Gilda hatte überrascht festgestellt, dass Barbara schon lange gegangen war. Anscheinend hatte sie den Hinterausgang durch den Garten genommen. Auf ihre Frage hin, ob etwas vorgefallen sei, hatte Laura nur unverständlich vor sich hingemurmelt. Gilda war ihre geistige Abwesenheit ganz recht, so brauchte sie sich keine Sorgen zu machen, dass Laura ihr anmerkte, dass sie etwas entdeckt hatte.

Sie riss den Zettel mit der Adresse der Schreinerei vom Block, sprang auf und schwang sich die Handtasche über die Schulter. Laura erzählte sie, was sie vorhatte und wünschte ihr noch einen schönen Abend. Doch die schien kaum hinzuhören. Dann sah Gilda bei Justin rein. Der wollte wie immer nicht gestört werden und scheuchte sie mit einer genervten Handbewegung weg.

Im Vorgarten zerrte sie das Fahrrad aus einem Busch. Es hatte keinen Ständer und zum Anlehnen gab es nichts. Heute Morgen hatte der wild wuchernde Strauch den Drahtesel noch komplett verschlungen und so vor Dieben geschützt. Jetzt hatte ihm Hassan mit der Heckenschere eine akkurate Form verpasst und das Rad quasi aus ihm herausgeschnitten. Morgen würde sie wieder das Zahlenschloss benutzen müssen.

Sie schob das Rad auf den Bürgersteig und fuhr los.

Die Sonne schien noch heiß, aber es wehte ein angenehmer Wind. Sie trat kräftig in die Pedale, schaltete die Gänge hoch und flitzte durch die schmalen Straßen Rüngsdorfs. Die körperliche Anstrengung tat ihr gut und half ihr, das Unbehagen über den Hackerangriff abzuschütteln. Die wilde Fahrt wurde nur zweimal durch rote Ampeln unterbrochen, innerhalb weniger Minuten hatte sie ihr Ziel erreicht.

Die Schreinerei hatte einen großen Vorhof. Links befand sich ein Schuppen, mitten auf dem Platz stand ein roter, klappriger Transporter. Sie schob das Fahrrad am Auto vorbei, um zu dem Gebäude zu gelangen. Obwohl alle Fenster und Türen geschlossen waren, kreischten die Sägen mit empfindlicher Lautstärke. Offensichtlich wurde noch gearbeitet.

Sie lehnte das Fahrrad an die Hauswand, hier würde es ja wohl keiner klauen, und ging zum Eingang.

Die Tür war verschlossen. Das Schild mit den Öffnungszeiten informierte, dass Feierabend war. Gilda drückte die Klingel. Nichts. Kein Wunder, die Maschinen lärmten so laut, dass niemand das Schellen hören konnte. Sie wartete ab, bis das Sägen unterbrochen wurde, und klingelte Sturm.

Schritte näherten sich, aber von hinten.

„Wir haben geschlossen.“

Sie drehte sich um. Vor ihr stand ein schwarzer Mann mit Rastazöpfen bis zur Schulter. Er war gerade mal so groß wie sie und sehr schlank, fast grazil. Aber die Arme, die unter dem roten, mit Sägespänen bedeckten T-Shirt hervorkamen, waren muskulös. Er war gut in Form. Sein Alter konnte sie schwer schätzen. Es konnte alles zwischen zwanzig und fünfunddreißig sein.

Sie merkte, dass er sie musterte. Sein Blick wanderte über ihre Figur und blieb im Ausschnitt hängen.

„Grasshopper, ganz erwachsen. Siehst hot aus.“ Mit ebenmäßigen, weißen Zähnen strahlte er sie an.

„Abdou?“

„Klar, Baby. Hast du mich vergessen, ma belle?“

„Tut mir leid, aber du hast dich verändert“, lachte sie. „Früher war deine Frisur anders. Und nenn mich nicht Grasshopper. Den Namen habe ich immer gehasst.“

Sie waren bis vor ein paar Jahren Nachbarn gewesen, dann war seine Familie auf die andere Rheinseite gezogen. Aber sie hatte nie viel mit ihm zu tun gehabt. Er war einige Jahre älter als sie und hatte sie kaum zur Kenntnis genommen. Dies schien sich geändert zu haben.

„Wie geht es deiner kleinen Schwester?“

„Anisha? Good, good. Sie ist bald ready mit school.“

Gilda wusste, dass er perfekt Deutsch sprach. Er war in Bonn geboren. Aber seit er in der Pubertät seine „Black Identity“ entdeckt hatte, sprach er ein Kauderwelsch aus Deutsch, Französisch, Englisch und ein paar Brocken Wolof. Offenbar hatte er die Marotte beibehalten.

„Schön. Grüß sie ganz lieb von mir.“

„Ok. Heute Abend. Was willst du hier, Grasshopper? Ich meine: Baby? Vielleicht mit mir was trinken gehen? Ich arbeite nicht mehr lange, bald ready for take off.“ Sein Blick wanderte wieder ihren Körper hinauf und hinunter.

„Nein danke. Ich bin eine Freundin von Yasin. Ist er da?“

Sein Lächeln erstarb. „Freundin von Yasin? Er ist krank. Nicht da. Aber ich bin da, Baby.“

„Oh, das ist dumm.“ Sie ignorierte seine letzten Worte und versuchte, enttäuscht auszusehen. „Was mache ich denn jetzt?“

Er trat einen Schritt näher. „Ich kann dir helfen. Bin good friend mit Yasin.“

Sie lächelte. „Ich fürchte nein. Ich muss mit ihm persönlich sprechen. Er ist nicht zu Hause, deshalb dachte ich, ich könnte ihn hier finden.“

„Yasin ist schon ein paar Tage nicht da. Du bist nicht good friend, wenn du es nicht weißt“, fügte er augenzwinkernd hinzu.

„Ist der Chef da? Herr Nemez?“

„Nope.“ Er steckte die Hände in die Taschen der staubigen Latzhose und grinste sie an.

In diesem Augenblick bog ein älterer Mann um die Ecke. „Abdou, wo bleibst du? Denkst du, der Auftrag macht sich von allein?“

Gilda konnte das Lachen gerade noch unterdrücken, als sie Abdous enttäuschten Gesichtsausdruck sah.

„Sind Sie Herr Nemez?“

„Warum?“ Der Mann mit den dünnen Haaren und dem stattlichen Bauch im Karo-Hemd blieb stehen.

„Ich bin auf der Suche nach Yasin. Er arbeitet hier, richtig?“

„Yasin?“ Er zog sich die dicken Arbeitshandschuhe von den Händen und kam näher.

„Ja. Zu Hause konnte man mir nicht sagen, wo ich ihn finde.“

Nemez schaute seinen Mitarbeiter an: „Los, troll dich.“ Doch es brauchte noch einen Schubs gegen die Schulter, bis Abdou bereit war, zurück in die Werkstatt zu gehen.

„Yasin hat sich schon eine Weile nicht mehr blicken lassen. Ich habe keine Ahnung, wo er sich rumtreibt. Aber wenn du ihn findest, kannst du ihm ausrichten, dass er seine Sachen abholen kann. Ich brauche ihn nicht mehr.“ Zur Bekräftigung seiner Worte spuckte er auf den Boden.

„Ist das nicht ein bisschen schnell geschossen? Es gibt bestimmt einen guten Grund, warum er verhindert ist.“

Nemez schaute sie mit schmalen Augen an. „Es gibt klare Regeln. Wer krank ist, hat sich abzumelden, und wer schwänzt, wird gefeuert. So einfach ist das. Denkst du, ich kann es mir leisten, lauter Faulpelze durchzufüttern, die mir die ganze Arbeit überlassen? Er ist draußen. Punkt.“

Gilda malte mit ihrem weißen Sneaker ein paar Striche in den staubigen Boden. Die Fläche war wohl mal mit Kies bedeckt gewesen, doch mit der Zeit war nur der festgetretene Untergrund übrig geblieben. Wie sollte sie weitermachen? Sie entschied sich für Offenheit:

„Yasins Familie macht sich Sorgen. Er ist seit ein paar Tagen nicht nach Hause gekommen und das ist ungewöhnlich. Ich arbeite für die Detektei Peters. Unser Auftrag ist es, Yasin zu finden.“

Nemez glotzte sie an. Sie wusste, was er dachte.

„Du bist Detektivin? Und du meinst, dass ich dir das abnehme?“

Wortlos fingerte sie eine Visitenkarte aus der Hosentasche und hielt sie ihm unter die Nase.

Mit seinen dicken, schmutzigen Händen nahm er sie entgegen und starrte eine Weile darauf. „Detektei Peters. Habe ich schon gehört. Habt ihr nicht diesen Mörder zur Strecke gebracht, der die Leute lebendig begraben hat? Wie hieß er noch?“

„Totengräber. Ja.“

„Ein Mädel wie du nimmt es mit so einem Perversen auf?“ Er schüttelte den Kopf.

Für einen Augenblick blitzte die Erinnerung auf. Der Mond, der Friedhof, das Gefühl, wie sie mit blutenden Fingern wie wahnsinnig in der kalten, harten Erde grub, um eines der Opfer zu retten.

Sie straffte den Rücken und hob das Kinn. „Ja. Wir konnten den Fall lösen. Zurück zu Yasin. Wie ist ihr Eindruck? Hat er sich in letzter Zeit verändert oder anders verhalten? War er bedrückt? Oder beunruhigt?“

Nemez gab einen verächtlichen Laut von sich. „Das ist hier kein Kindergarten und kein Sanatorium. Ich fühle meinen Mitarbeitern nicht jeden Morgen den Puls und frage, wie die Befindlichkeiten sind. Hier wird gearbeitet und fertig.“

„Also war er wie immer?“

Nemez zuckte die Schultern. „Vielleicht nicht. Er ist sehr religiös geworden. Trug plötzlich einen Bart, verzog sich ständig zum Beten. Er wollte dafür mein Büro nehmen, aber ich hab ihm gesagt, wenn er Privatsphäre will, soll er ins Scheißhaus gehen.“

Gilda hörte nur zu, trotzdem meinte er, sich verteidigen zu müssen: „Ist doch wahr. Soll ich hier überall Kapellen einrichten? Der eine ist katholisch, der andere Muslim, der Dritte macht Voodoo. Ist mir alles egal, aber sie sollen es zu Hause machen.“

„Kennen Sie seine Freunde?“

„Der Kerl hat Freunde? Nicht, dass ich wüsste.“

„Und unter den Kollegen?“

„Auch nicht.“

„Aber sie kommen gut miteinander aus?“

Nemez zuckte wieder die Schultern. „Im Prinzip schon. Yasin ist ein ruhiger Typ. Ganz verträglich. Nur Abdou kann er nicht leiden. Für Schwarze hat er nichts übrig.“

„Ich würde gern mit Yasins Kollegen sprechen.“

„Die sind schon lange weg. Wir haben seit vier Uhr Feierabend.“

„Und Abdou?“

„Den brauche ich für einen Sonderauftrag, der kann jetzt nicht. Aber du kannst morgen um halb zehn noch mal kommen. Da haben die Jungs Pause. Die werden sich sicher freuen.“ Die letzten Worte wurden von einem anzüglichen Lächeln begleitet.

Sie bedankte sich und ging zu ihrem Fahrrad.

„Eins fällt mir doch noch ein: An dem Abend, bevor er verschwunden ist, haben ihn zwei Typen abgeholt. Die sahen ziemlich finster aus. Schwarze Haare, schwarze Bärte, Sonnenbrillen, schwarze Lederjacken. Und der eine hatte eine Tätowierung auf der Hand. Einen Löwen.“

16

Nico folgte dem unbefestigten Weg hinter dem Parkplatz und fand sich plötzlich vor einer Tür wieder, die in das Gemäuer eingelassen war. Darüber hing der Rest eines zerbrochenen Plastik-Schildes, auf dem nur noch „Kulturverein“ stand. Das Wort davor fehlte. An der Mauer war die Zahl Zweiundsiebzig aus Metall angebracht, vermutlich die Hausnummer. Sprayer hatten daneben das Wort Jungfrauen in rot verlaufenen Buchstaben an die Wand geschrieben. Der klägliche Versuch, das Wort mit Schwamm und Wasser zu entfernen, ließ es wie ein blutiges Massaker aussehen und hatte es noch auffälliger gemacht.

Ohne weiter nachzudenken, betätigte er die altmodische Klingel. Schlurfende Schritte näherten sich, durch den Türspalt sah ihn ein Mann mit runzligem Gesicht und Bart fragend an.

„Hi, ich bin Nico. Kann ich bei Ihnen einen Kaffee bekommen? Bitte?“ Aus alter Gewohnheit hatte er den Kopf schief gelegt, große Augen gemacht und ein treuherziges Lächeln aufgesetzt. Wie oft hatte er in seinen dunkelsten Zeiten die Leute so angebettelt.

Gelernt war gelernt.

„Hier?“

Der Mann wirkte unschlüssig. Es kam bestimmt nicht oft vor, dass Fremde klingelten, die auch noch erkennbar nicht-muslimisch waren. Nico schob sich unmerklich nach vorn. Der alte Mann wich vor ihm zurück, dann entschied er sich schließlich, Nico hereinzulassen. Er führte ihn durch den schäbigen Innenhof, in dem ein paar ramponierte Gartenstühle standen und viel Unkraut wuchs, zu einem kleinen Haus.

Im unteren Geschoss gaben große Fenster den Blick auf einen Raum mit vielen Tischen frei. Nico folgte dem Mann in das Vereinsheim und stellte überrascht fest, dass fast alle Plätze besetzt waren. Es waren bestimmt fünfundzwanzig bis dreißig Leute anwesend, alles Männer, die meisten bärtig, viele mit traditionellen Hemden bekleidet.

Er nickte schüchtern in die Runde. „Guten Tag.“

Einige Männer grüßten zurück, viele starrten ihn nur an.

Nico folgte dem alten Mann zu einem Ecktisch, ließ sich auf einen Stuhl fallen und sah sich um. Auf den Tischen lagen bunte Tischdecken, die Wände waren in einem freundlichen Zitronengelb gestrichen, an der Wand neben der Tür hing die gerahmte Fotografie einer Moschee.

Nico hatte schon beim Hereinkommen gesehen, dass Yasin nicht hier war. Aber vielleicht lohnte es sich, zu warten.

Eine laut diskutierende Gruppe junger Männer weckte seine Aufmerksamkeit.

Zwei von ihnen trugen schwarze Lederjacken und Sonnenbrillen, die übrigen waren mit Jeans und Hemden bekleidet. Sie gestikulierten wild, einige von ihnen waren vor Erregung sogar aufgesprungen. Nico verstand die Sprache nicht, aber die Situation beunruhigte ihn. Es war ihm nicht entgangen, dass sie immer wieder zu ihm herübersahen. Die Gruppe hatte sich so in Rage geredet, dass selbst die älteren Männer an den anderen Tischen die Gespräche unterbrochen hatten und hinübersahen. Der Mann, der Nico hereingelassen hatte, ging zu dem Tisch und zischte ein paar Worte. Was auch immer er gesagt hatte, es wirkte.

Ruhe kehrte ein.

Um die Blicke der Gäste zu vermeiden, starrte Nico durch das Panoramafenster in den Garten und überlegte, wie er weiter vorgehen sollte. Plötzlich stand der Mann, der das Café betrieb, vor ihm und stellte ein Glas mit Tee auf den Tisch. Er bedankte sich und zog die Aufnahme von Yasin hervor. „Kennen Sie diesen Mann?“

Der Alte schüttelte den Kopf, nahm das Bild trotzdem und studierte es. Dann schlurfte er zu der Gruppe junger Männer und warf ihnen das Foto auf den Tisch.

Das Gespräch verstummte schlagartig.

Obwohl keiner von ihnen das Bild berührte, hatte Nico den Eindruck, dass alle wussten, wer darauf abgebildet war.

Die beiden Lederjacken setzten ihre Sonnenbrillen ab und starrten ihn an.

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399
683,89 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
330 стр.
ISBN:
9783742750938
Издатель:
Правообладатель:
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