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9

Er zog den Zettel aus der Hosentasche und prüfte die Hausnummer, um sicherzugehen, dass er an der richtigen Adresse war. Mit zusammengekniffenen Augen musterte er den alten Kasten und den zugewachsenen Vorgarten. Sein Auftrag war es, die Büsche zurückzuschneiden und den Grünmüll abzutransportieren. Der Lohn war nicht üppig. Aber er hatte Glück gehabt, den Job bekommen zu haben, und er würde ihn gut machen. Er brauchte das Geld. So dringend. Vor einem Monat war er nach Bonn zurückgekehrt. In die Stadt, in der er geboren war. Und die er vor zwei Jahren verlassen hatte in der festen Absicht, sein Leben und eine neue Weltordnung woanders aufzubauen und nie mehr zurückzukehren.

Er drückte die Klingel der Erdgeschosswohnung.

Das Erste, was ihm an der jungen Frau, die die Tür öffnete, auffiel, waren die nackten, gebräunten Beine. Und die langen, glänzenden Haare.

Lange Haare, an denen sie die kreischenden Frauen hinter sich her durch den Staub schleiften.

„Ich soll den Vorgarten in Ordnung bringen.“ Er vermied es, ihr in die Augen zu blicken, trat von einem Bein auf das andere.

„Perfekt! Kommen Sie, ich zeige Ihnen, was zu tun ist und wo die Gartengeräte stehen.“ Ihre Stimme klang wie bunte Glasmurmeln, die gegen Sand gerieben wurden. Und sehr vertraut.

„Gilda?“

„Ja...?“ Sie musterte ihn, suchte in seinen Augen nach dem Wiedererkennen.

„Hassan. Von Facebook. Wir sind ewig befreundet. Und haben dieselben Partys besucht.“

„Hassan ...“

Er spürte ihren Blick auf seinem Gesicht, sah, wie die Erinnerung in ihr dämmerte.

„Sorry, klar, Facebook. Ich glaube, ich war damals mit jedem in Bonn befreundet. Aber das haben ja alle so gemacht. Jetzt benutzte ich es fast gar nicht mehr. Ich weiß noch, die Partys in der Stadthalle. Und Karneval. Aber du bist ... erwachsen geworden.“ Ihr Lächeln war freundlich und ohne Arg.

Er erwiderte nichts.

Doch er war ihr dankbar, dass sie sich so zurückhaltend ausdrückte. Er wusste, wie er aussah. Und es war nicht die Narbe, die dunkelrot seine Stirn in der Mitte spaltete, die den nachhaltigsten Eindruck machte. Es waren seine Augen. Die mehr gesehen hatten, als ein einzelner Mensch ertragen konnte. Gilda hatte recht, er war erwachsen geworden. Seine Seele war in den zwei Jahren so gealtert, dass sie nur noch nach Ruhe dürstete.

„Wir haben uns lange nicht gesehen.“ Sie strahlte ihn an. Neugierig. Fragend.

Er zuckte die Schultern. „Ich bin ins Ausland gegangen. War einige Zeit weg.“

„Es ist gut, etwas von der Welt zu sehen. Das habe ich auch gemacht. Ich habe auf Ibiza gejobbt. Das war eine tolle Zeit. Wo warst du?“

Gleißende Sonne, zerstörte Häuser, kein Ort, an dem man Urlaub machte. Eine Welt mit anderen Regeln, anderen Machtverhältnissen, ein anderer Planet.

„Bin ein bisschen rumgekommen.“ Er konnte darüber nicht reden, schaute zur Seite.

„Davon musst du mir unbedingt mal erzählen. Komm mit.“ Sie legte eine Hand auf seinen nackten Arm.

Er zuckte zurück, als hätte er einen Stromschlag erhalten, doch sie schien sich nichts dabei zu denken. Lächelnd winkte sie ihm zu, ihr zu folgen, und lief vor ihm auf einem schmalen, von Büschen zugewucherten Weg um das Haus herum in den Garten.

„Heute scheint der Tag der früheren Freunde und Bekannten zu sein. Eben war meine Schulkameradin Merve bei uns. Die habe ich auch ewig nicht gesehen. Die kanntest du doch auch, oder? Erinnerst du dich an sie?“ Gilda lächelte ihm über die Schulter gewandt zu.

„Klar.“

„Bist du in Kontakt mit ihr? Und mit Yasin?“

„Nein. Du bist die Einzige, die ich, seit ich wieder hier bin, getroffen habe.“ Er wehrte einen Zweig ab, der auf ihn zuflitschte, ohne den Blick von ihrem Po in den knappen Shorts zu wenden.

Frauen, die sich nicht verhüllten, die den Blickkontakt suchten. Alles Huren, die zu ihrem eigenen Besten aufgegriffen werden mussten. Und bei denen es nicht zählte, was man ihnen antat.

Er presste die Faust an die Stirn, um den Gedanken zu verscheuchen. Gilda war ein nettes Mädchen, er hatte sie immer respektiert. Gemocht. Sie war nicht so.

Keine Frau war so.

Sie drehte sich zu ihm um und lächelte. „Im Schuppen findest du alles, was du brauchst: Gartenscheren, Rechen und Besen. Vielleicht sogar Handschuhe.“

Er trat in die geöffnete Tür des Gartenhäuschens und sah sich um. Geräte, ein Grill, Säcke mit Erde, alles im wilden Durcheinander. Sein Blick blieb an der Axt hängen. Er griff danach, ohne es zu wollen. Seine Finger umschlossen das glatte Holz des Stils, glitten automatisch in Position.

Und katapultierten seine Gedanken in die Vergangenheit zurück.

10

Gilda holte den Laptop und ging durch die Küche auf die kleine Veranda. Im Vorgarten konnte sie Hassan hören, der mit der Heckenschere die Büsche stutzte. Hätte er ihr nicht gesagt, wer er war, hätte sie ihn nicht wiedererkannt. Dieser verschlossene, düstere Mann mit den traurigen Augen hatte keine Ähnlichkeit mit dem Jungen, der gerne lachte, Unsinn im Kopf hatte und ständig redete. Er wirkte, als wäre er in eine Zeitmaschine gestiegen, die ihn in den Jahren seiner Abwesenheit um ein ganzes Leben hatte altern lassen.

Die Sonne schien grell, doch das Vordach und die dichte Krone des mächtigen Walnussbaums spendeten angenehmen Schatten. Sie setzte sich in den knarzenden Korbstuhl, streifte die Sneakers ab, stemmte die nackten Füße gegen das Geländer und startete die Suche nach Yasin. Laura hatte illegale Abkürzungen bei der Computerrecherche zwar untersagt, doch dieser Fall gehörte sicher zu den Ausnahmen. Yasin war im Prinzip ein Freund und seine Schwester hatte sie beauftragt.

Niemand würde sich beschweren.

Im Postfach seines Mail-Accounts sprangen ihr Nachrichten der schwulen Dating-Seite GayDarling ins Auge. Hatte sie es doch gewusst. Sie klickte auf eine Mail, folgte dem Link und sah sich seinen Account an. Yasin war ein hübscher Kerl, dementsprechend viele Anfragen hatte er erhalten. Auf den Fotos, die er veröffentlicht hatte, posierte er in engen Boxer-Shorts und Sonnenbrille.

Das war wesentlich mehr Kleidung, als die Interessenten, die ihm geschrieben hatten, auf ihren Bildern trugen.

Etwas Weiches strich kitzelnd unter ihren nackten Beinen entlang und ließ sie hochschrecken: Der schwarze Nachbarskater war auf die Veranda gekommen und wollte Aufmerksamkeit. Vermutlich, um im Schatten ein bisschen zu dösen, auf jeden Fall aber, um eine Leckerei abzuholen. Gilda stellte den Laptop auf den verschnörkelten Metall-Tisch. Das verrostete Ungetüm stammte noch von den Vormietern und an vielen Stellen war die Farbe abgeplatzt. Sie hatte es schon längst entsorgen wollen, aber Laura war dagegen. Sie hatte gewitzelt, dass es keinen Unterschied zu einem teuren Shabby Chic Designer Möbel gab. Gilda schlüpfte in ihre Sneakers, umrundete das Haus und sah nach Hassan, der im Vorgarten einen großen Haufen aus Zweigen und Ästen zusammengerecht hatte. Sein T-Shirt klebte an seinem Körper und der Schweiß lief ihm das Gesicht hinunter. Er arbeitete wie ein Verrückter und war so vertieft, dass sie mehrmals seinen Namen rufen musste, bis er sie bemerkte.

„Unglaublich, Hassan. Das sieht ja schon fast fertig aus. Du hast ein ganz schönes Tempo vorgelegt.“

Er richtete sich auf und kniff die Augen gegen die Sonne zusammen, als er sie ansah. Ihr Lob schien ihm nichts zu bedeuten. Seine Miene blieb unbewegt, er wartete ab.

Gilda malte mit dem Schuh Linien in den Kiesweg. „Ich wollte dich fragen, ob du etwas zu trinken möchtest. Cola oder ein Wasser?“

Er schüttelte den Kopf. Sein Blick wich ihr aus. Warum wollte er sie nicht ansehen? Früher hatten sie herumgealbert, Witze gemacht.

Was war geschehen, dass er sich so verändert hatte?

Gilda verharrte einen Augenblick unschlüssig, dann gab sie sich einen Ruck, machte kehrt und ging durch den Garten in die Küche. Dort füllte sie ein Schälchen mit verdünnter Milch und stellte es der Katze hin, die maunzend um ihre Beine strich. Sie bückte sich und strich über das seidige Fell.

„Du freust dich wenigstens, wenn ich dir eine Erfrischung anbiete. Nicht wie dieser komische Hassan. Irgendwas stimmt nicht mit dem“, murmelte sie vor sich hin. Dann griff sie sich ein Wasser und den Notizblock und setzte sich wieder auf die Terrasse.

Yasins Account war eine wahre Fundgrube. So wenig Kontakte er im richtigen Leben zu haben schien, so viele hatte er im Internet.

Die Plattform-Nutzer verwendeten natürlich nicht die richtigen Namen, doch das bereitete Gilda kein Kopfzerbrechen. Es würde ihr nicht schwerfallen, sie herauszufinden. Die Fantasie bei der Namensgebung schien grenzenlos, genauso wie bei der Beschreibung der eigenen Vorzüge. Auch die Fotos schienen häufig geschönt, wenn nicht sowieso nur das vermeintlich einzig wichtige Körperteil abgebildet war.

Sie musste schmunzeln.

Immerhin war es den schwulen Männern wichtig, sich von der besten Seite zu präsentieren. Sie hatte bei den Internet-Recherchen genügend Bilder ungepflegter Hetero-Männer gesehen, die sich aus dem ungünstigsten Winkel geknipst hatten und trotzdem überzeugt waren, ein Gottesgeschenk für jede Frau zu sein. Wenigstens konnte man sie um ihr Selbstbewusstsein beneiden.

Gilda sah sich die Chatverläufe an. Yasin hatte nur wenigen überhaupt geantwortet. Sie war überrascht, wie schnell es zur Sache ging und wie schonungslos offen. Meist kam nach dem ersten Hallo bereits eine Aufzählung der Vorlieben und die Frage nach dem Wann und Wo.

Sie verspürte eine gewisse Erleichterung, dass ihr früherer Schulkamerad die Treffen anscheinend abgelehnt hatte. Er hatte sich in der Schule zwar als harter Kerl gegeben, aber sie hatte immer gespürt, dass er sehr sensibel war. Hoffentlich fand er jemanden, der ihn wirklich mochte und ihn nicht nur ausnutzen wollte.

Ein Mann, der sich LifeGoals78 nannte, war besonders hartnäckig. Er hatte immer wieder nachgefragt, Yasin bedrängt und Penisbilder geschickt. Ein Nein schien er nicht zu akzeptieren. Yasin hätte ihn blockieren sollen. Der Kerl war wirklich aufdringlich. Gilda ging auf sein Profil. Er schien die harte Gangart zu bevorzugen. Er war tätowiert, die Fotos zeigten ihn in schwarzen Lederhosen, Bikerboots und nacktem Oberkörper oder ganz ohne Kleidung. Aber immer ohne Gesicht. Sie notierte sich seinen Nutzernamen und schickte den Befehl an den Printer auf ihrem Schreibtisch, um die Fotos zu drucken. Sie würde später nach ihm suchen. Dann wechselte sie zurück zu Yasins Profil und blockierte den Stalker.

Es fühlte sich gut an.

Sie lehnte sich in ihrem Gartenstuhl nach hinten und streckte die Arme. Der Kater, der nach dem Genuss des Schälchens Milch auf der Holzbank geschlafen hatte, tat es ihr nach, machte einen Buckel und gähnte ausgiebig.

Gilda rief wieder den Mail-Account auf und scrollte durch die Nachrichten. Doch sie fand nichts mehr, was von Interesse war. Sie schloss den Laptop, strich dem Kater über den weichen Kopf und ging zurück an ihren Schreibtisch.

Aus dem Drucker ragten die Papiere mit den Torso-Bildern. Gilda zog sie heraus und legte sie zur Seite.

Dann googelte sie die Adresse der Schreinerei. Sie lag in Lannesdorf, in der Nähe der Sportanlage. Die große Moschee war nicht weit davon entfernt.

Sie konnte am Nachmittag bei der Schreinerei vorbeischauen und dann nach dem Treffpunkt des Gebetskreises suchen.

11

Es klingelte an der Tür.

Gilda sah auf die Uhr. Sie hatte zwei Stunden konzentriert am Stück gearbeitet, Laura hatte sich während der ganzen Zeit nicht blicken lassen.

Ob Barbara noch bei ihr im Büro war?

Mit ausgestrecktem Arm beugte sie sich nach vorn, betätigte den Türöffner und angelte nach der Klinke der Wohnungstür. Sie hörte die Haustür aufspringen, Schritte hallten durch das Treppenhaus. In der Tür erschien ein schlaksiger Mann in weißem T-Shirt und Jeans, ein freches Lächeln im Gesicht.

„Nico!“ Gilda grinste. „Wir dachten schon, du wärst verschollen.“ Sie riss das Blatt, auf dem sie herumgekritzelt hatte, vom Notizblock ab, zerknüllte es und warf es ihm an den Kopf.

Er hatte mit der Attacke nicht gerechnet, der Papierball traf ihn mitten auf der Stirn.

„Spinnst du?“

Er bückte sich nach dem Wurfgeschoss, um sich zu revanchieren. Doch Gilda war längst unter dem Schreibtisch in Deckung gegangen.

Sein Wurf landete auf dem leeren Stuhl.

„Alter, du musst echt an deinen Reflexen arbeiten. Jede Schildkröte ist schneller als du.“ Gilda krabbelte glucksend unter dem Tisch hervor.

Nico machte einen halbherzigen Versuch, sie zu schubsen, dann lachte er mit. „Jetzt chill mal. Begrüßt du alle Kunden so?“

„Nein. Nur Jungs, die sich bloß dann blicken lassen, wenn sie Croissants abstauben können.“

„Stimmt ja gar nicht“, er grinste breit. „Hast du denn welche?“

„Wusste ichs doch.“

Gilda hatte Nico bei dem Fall mit dem Totengräber, einem Mörder, der seine Opfer lebendig in fremden Gräbern verscharrt hatte, kennengelernt. Nico hatte damals versucht, von den Drogen wegzukommen, und war in ein Rehabilitationsprojekt geraten, das ihn fast das Leben gekostet hatte. Mit Lauras Hilfe hatte er fliehen können. Sie hatte ihn dabei unterstützt, neu anzufangen, ihm eine Wohnung und einen Job besorgt und eine Therapeutin gefunden.

Seitdem liebte er Laura.

„Was ist eigentlich mit dem Vorgarten passiert? Ich dachte schon, ich wäre an der falschen Adresse. Der Urwald ist weg.“

„Gut, oder? Ist Hassan denn schon fertig?“

„Ich habe keinen Hassan gesehen. Draußen ist niemand.“

„Dann ist er gegangen, ohne Tschüss zu sagen. Ein komischer Typ. Ich kenne ihn von Facebook und ein paar Partys, aber das ist ewig her. Da war er echt nett. Aber das hat er mittlerweile abgelegt.“ Gilda zog einen Flunsch. Dann breitete sich das Lächeln wieder auf ihrem Gesicht aus. „Und sonst, alles klar bei dir, Nico?“

„Ja, läuft.“ Nico strahlte. „Die Ausbildung ist ok und körperlich bin ich auch wieder in Form.“

„Jetzt übertreib nicht.“ Spielerisch boxte sie in seinen flachen Bauch. „Du hast etwas zugelegt. Aber es könnte mehr sein. Und Muskeln sehe ich keine. Wie wäre es mal mit ein bisschen Sport?“

Er lachte, versuchte auszuweichen und wehrte ihre Hand ab. „Tu nicht so, als wärst du meine Mutter. Wir sind gleich alt. Von dir muss ich mir nichts sagen lassen.“ Dann verdüsterte sich sein Gesichtsausdruck für einen Augenblick, „und von meiner Mutter auch nicht.“

„Schon gut. War doch nur Spaß“, lenkte Gilda ein. Sie wollte keine schlechten Erinnerungen wecken.

Nicos Familie hatte ihn, als sie von seiner Drogensucht erfahren hatte, fallenlassen und ihm seitdem jegliche Unterstützung verweigert. Er behauptete zwar, dass ihm das nichts ausmachte, aber sie glaubte ihm nicht.

„Möchtest du einen Kaffee? Oder etwas Kaltes? Schoko-Croissants liegen auf dem Küchentisch. Noch habe ich sie nicht alle vernichtet.“

„Ist Laura da?“ Hoffnungsvoll sah er auf die geschlossene Bürotür.

„Ja. Aber Barbara ist schon seit Ewigkeiten bei ihr. Obwohl sie angeblich nur kurz Zeit hat. Ich weiß nicht, ob wir sie stören können. Es scheint wichtige Themen zu geben. Immerhin ist es nicht Marek, der so lange bei ihr hockt“, flachste Gilda.

Nicos Miene verfinsterte sich wieder.

Sie wusste, dass er auf Marek eifersüchtig war. Was sie in zweifacher Hinsicht absurd fand, denn erstens lief nichts zwischen Laura und Marek, obwohl es zwischen den beiden für alle anderen spürbar funkte, und zweitens hatte Nico natürlich keine Chance bei Laura. Aus so vielen Gründen, dass es keinen Sinn machte, überhaupt nur einen aufzuzählen. Doch es war erstaunlich, wie gleichgültig ihm das war.

Gilda zog Nico in die Küche, schenkte Kaffee ein und hielt ihm die Brötchentüte unter die Nase. „Los, Croissant gefällig.“

Sie setzten sich an das runde Tischchen und kauten einträchtig vor sich hin.

„Habt ihr einen neuen Fall?“

„Wir haben immer neue Fälle. Wir sind schließlich berühmt“, witzelte Gilda.

„Ich weiß. Aber irgendetwas Besonderes? Wieder einen Mörder? Oder irgendwelche Mafia-Verbrechen?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nichts dergleichen. Nur den üblichen Kram. Heute kam eine frühere Klassenkameradin von mir und bat uns, ihren Bruder zu finden. Darum werde ich mich gleich kümmern. Ich muss nach Lannesdorf in eine Schreinerei, seine Kollegen befragen. Außerdem suche ich dort nach einem Café, in dem sich sein Koran-Gesprächskreis trifft.“

„In Lannesdorf? Gibt es da Cafés? Ich habe mich dort mal mit einem Kumpel getroffen, aber wir haben nur eine ziemlich langweilige Kneipe gefunden.“

„Keine Ahnung. Zuerst gucke ich im Internet, dann fahre ich die Gegend um die Moschee mit dem Fahrrad ab.“

„Er ist Muslim?“

Gilda nickte. „Ja. Und er scheint in der letzten Zeit total religiös geworden zu sein. Seine Schwester befürchtet, dass er mit Radikalen in Kontakt steht. Außerdem hat sie Hinweise entdeckt, dass er, oder jemand, den er kennt, brisante Informationen hat. Mehr wissen wir noch nicht.“

„Brisante Informationen. Klingt irgendwie abgedreht. Was soll das denn sein?“

Gilda zuckte die Schultern und leckte Schokolade von ihrem Zeigefinger.

„Egal, das werdet ihr schon herausfinden. Aber ein Koran-Lesekreis trifft sich sicher nicht in einem normalen Café, sondern eher in einem Vereinslokal für muslimische Männer. Bei uns im Nachbarhaus ist so ein Klub. Ich wollte da mal abhängen, habe es mir aber schnell wieder anders überlegt. Die waren nicht gerade geflasht darüber, dass ich mich zu ihnen setzen wollte. Wahrscheinlich lassen sie dich als Frau gar nicht rein.“

Gilda lachte. „Quatsch. In Deutschland sind Vereine bestimmt nicht erlaubt, die öffentliche Lokale betreiben, wo Frauen nicht zugelassen sind. Das wäre doch Diskriminierung.“

Nico zuckte die Achseln. „Keine Ahnung. Aber selbst wenn sie dich reinlassen, ist das kein guter Ort, wo du allein hingehen solltest.“

„Wer soll denn mitkommen? Du vielleicht?“

Die Frage war nicht ernst gemeint, doch er nickte.

„Warum nicht? Oder noch besser: Ich gehe allein und suche nach dem Café. Wenn ich es finde, frage ich nach dem Bruder deiner Freundin und wenn einer ihn kennt, können wir beide uns mit ihm treffen. Du kannst in der Zeit die Schreinerei unter die Lupe nehmen. Ist das ein Plan?“

Es klang verlockend, doch Gilda schüttelte den Kopf. „Das kann ich nicht annehmen. Du hast genug um die Ohren, außerdem bist du Zivilist. Ich kriege das schon hin.“

„Zivilist? Barbara hilft euch oft bei euren Fällen und arbeitet auch nicht hier. Sogar Justin unterstützt euch. Warum also ich nicht? Keine Widerrede. Ich mache das. Laura hat so viel für mich getan“, sein Gesichtsausdruck bekam etwas Schwärmerisches, „ich bin froh, wenn ich mich mal revanchieren kann. Das ist das Mindeste, was ich für sie tun kann.“

12

Nico machte sich direkt auf den Weg nach Lannesdorf. Er verzichtete auf den Bus und ging zu Fuß. Von Rüngsdorf bis zur großen Moschee war es zwar ein ziemliches Stück, aber das Wetter war schön, die Vögel zwitscherten und die Bewegung tat ihm gut.

Von den Drogen wegzukommen war hart gewesen.

Er war körperlich und seelisch völlig am Ende gewesen, ein Wrack, ein Zombie. Rückwirkend wunderte er sich, woher er die Kraft genommen hatte für den Entzug. Den Willen. Die Hoffnung, dass nach der Tortur ein besseres Leben auf ihn wartete. Doch er hatte es geschafft. Zwar gab es immer noch Augenblicke, in denen der Wunsch nach einem Schuss fast übermächtig wurde, doch sie wurden seltener. Und jetzt reichte der Gedanke an Laura, um die Versuchung, sich den Drogen zu ergeben, zu verscheuchen.

Sie war eine wunderbare Frau.

Wenn sie lachte, schlugen die Schmetterlinge in seinem Bauch Purzelbäume. Wenn sie ihn anschaute, schien sie bis in sein Innerstes zu sehen. Und sie roch so gut. Eine Mischung aus Honig, Erdbeeren, Schokolade und frischer Waldluft. Ein Duft, der ihn magisch anzog.

Er wollte seine Arme um sie schlingen und sie nie mehr loslassen.

Während er vor dem Bahnübergang darauf wartete, dass der Zug durchfuhr, hing er seinen Träumen nach.

Noch war es zu früh, sie zu fragen. Noch hatte er keinen Job und körperlich war er noch nicht hundertprozentig fit. Aber er arbeitete hart daran, etwas aus sich zu machen. Und wenn es so weit war, würde er ihr sagen, dass er sie liebte.

Die Schranken öffneten sich klirrend und klappernd, er überquerte die Gleise. Der Weg bis zum Sportpark Pennenfeld war nicht mehr weit. Es wurde Zeit, sich auf den Auftrag zu konzentrieren und die Umgebung genauer in Augenschein zu nehmen. Kein Café oder Vereinsheim. Er passierte ein Fitnesscenter und einen Baumarkt, dann erreichte er die Moschee.

Nico wanderte an der trutzigen Mauer entlang, vor der hüfthoch das Unkraut auf den Fußgängerweg wucherte. Weiß gestrichene Gitter waren in regelmäßigen Abständen in den Beton eingelassen. Das Minarett überragte kaum das Gebäude aus dunklem Glas und hell verputzten Wänden, sein goldenes Dach stach wie ein spitzer Hut in den sonnigen Himmel.

Er trat an das Eisentor, umfasste zwei Metallstäbe und starrte in den Innenhof. Eine gepflasterte Einfahrt, ein mit Wiesenschaumkraut zugewachsenes Areal, geschlossene Fenster.

Der Ort strahlte Vernachlässigung und Verlassenheit aus.

Nico wusste, dass hier noch bis vor Kurzem reger Betrieb geherrscht hatte. In der Akademie waren Kinder nach saudischem Lehrplan unterrichtet worden. Und in der Moschee hatten sich Gläubige aus dem ganzen Land zum Freitagsgebet zusammengefunden.

Und es waren nicht nur friedlich gesinnte Muslime gewesen, die dort gebetet hatten.

Schon vor Jahren hatte die Presse darüber berichtet, dass sich hier Radikale getroffen hatten. Die besorgten Bürger hatten Unterschriften gesammelt, doch die Stadt hatte lange Zeit merkwürdig zurückhaltend reagiert. Mittlerweile war die Akademie geschlossen und der Betrieb der Moschee eingeschränkt worden. Allerdings wirkte das Gelände auf Nico so, als fände hier gar nichts mehr statt. Niemand schien sich mehr zu kümmern, keiner war zu sehen.

Doch man hatte ihn bemerkt.

Plötzlich öffnete sich die Tür des Gebäudes, ein untersetzter Mann in zerknittertem Hemd, schwarzer Hose, ausgetretenen Sandalen eilte auf ihn zu.

„Was willst du?“

Nico wusste nicht, was er antworten sollte. Statt sich vorher eine Geschichte zurechtzulegen, hatte er nur an Laura gedacht. Unschlüssig trat er von einem Bein auf das andere.

„Ist die Moschee geschlossen? Hier wird wohl nicht mehr gebetet?“

Der Mann schaute ihn weiter mit zusammengekniffenen Augen an. „Manchmal. Nicht mehr oft. Bist du zum Beten gekommen?“

Nico schüttelte den Kopf. Er zog das Bild, das Gilda ihm gegeben hatte, trotzdem aus der Hosentasche.

„Kennen Sie Yasin Özgur?“

Der Mann warf einen abschätzigen Blick auf das Foto und zuckte die Schultern. Er stand jetzt direkt vor ihm, nur das Metallgitter trennte sie. Nico spürte seinen Atem, der nach Knoblauchwurst und Magensäure roch.

„Ich weiß nicht. Vielleicht habe ich ihn mal gesehen. Warum suchst du ihn?“

Der lauernde Blick verunsicherte Nico. Unwillkürlich trat er einen Schritt zurück. Bestimmt waren der Mann und seine Leute häufig irgendwelchen Anfeindungen ausgesetzt und deshalb misstrauisch. In Zeiten von IS, Al Qaida und Sprengstoffanschlägen auf Weihnachtsmärkte, Konzerte und U-Bahnen machten manche Mitbürger keinen Unterschied mehr zwischen gläubigen Muslimen und Islamisten.

Trotzdem fühlte Nico sich unwohl.

„Yasin ist mein Freund.“ Er merkte, wie unglaubwürdig er klang. Aber verdammt noch mal, er war kein Detektiv und nicht geübt darin, Leute auszufragen. Auch wenn ihm das Lügen nicht schwerfiel. In seinem Vorleben hatte er es darin zur Meisterschaft gebracht, allerdings war es dabei immer um das Beschaffen von Geld, nicht von Informationen gegangen.

„Freund“, wiederholte der Mann gedehnt. Er streckte eine schwielige Hand aus, um das Foto zu nehmen, doch Nico zog es weg.

„Gibt es in der Nähe einen Treffpunkt einer Gruppe, die gemeinsam den Koran liest?“

„Es gibt viele. Wir alle lesen den Koran.“

„Aber so eine Art Café? Oder ein Vereinsheim?“

Nico fühlte den forschenden Blick auf sich ruhen, es machte ihn nervös.

Warum war der Kerl so unheimlich?

Sein Gegenüber schien die Nervosität zu spüren.

„Interessierst du dich dafür, was im heiligen Koran steht?“

Nico zuckte die Achseln, dann nickte er schnell.

„Ich kann dir ein Exemplar geben. Du liest mal darin und dann kommst du vorbei. Hier gibt es Menschen, die sich gerne mit dir darüber unterhalten. Augenblick.“

Ohne eine Antwort abzuwarten, ging der Mann in das Gebäude und erschien kurz darauf mit einem Buch, das er Nico in die Hand drückte.

„Danke.“ Nico sah verlegen auf das grüne Taschenbuch.

Geschenke anzunehmen fühlte sich ungewohnt an und fiel ihm schwer. Selbst wenn es sich bei dem Präsent um Werbung handelte.

„Vielleicht komme ich mal wieder vorbei. Mal sehen.“ Er nickte, lächelte, winkte, dann wandte er sich um und ging. Zuerst langsam, dann immer schneller.

Er war froh, wegzukommen.

An der Kreuzung sah er sich um. Hinter ihm befanden sich die Moschee und der Sportpark, geradeaus und rechts begannen die Wohngebiete. Linker Hand erstreckte sich das Gewerbegebiet, in dem sich große Discounter bis zur Bahnlinie aneinanderreihten.

Nach kurzer Überlegung entschloss er sich, zuerst in dieser Richtung zu suchen.

Er startete mit der rechten Straßenseite, studierte Firmenschilder und Klingelbeschriftungen und wartete geduldig an den Einfahrten der Parkplätze, wenn Einkäufer mit ihren Autos vor ihm einscherten. Zehn Minuten später war er am Bahnübergang angelangt, vor dessen heruntergelassenen Schranken sich eine längere Schlange gebildet hatte. Nico hatte hier auch schon viel Zeit mit Warten verbracht. Die Deutsche Bahn schien der Ansicht zu sein, Hochziehen zwischen den Zügen koste nur unnötig Geld. Deshalb nahmen viele Autofahrer größere Umwege in Kauf, um die Wartezeiten zu vermeiden, oder fuhren gleich woandershin.

Nico wechselte die Straßenseite und schlenderte zurück. Sein Eifer ließ nach. Schon auf dem Hinweg hatte er gesehen, dass es dort keine Cafés gab. Einige Meter vor ihm bog eine Gruppe Männer mit bärtigen Gesichtern auf den Parkplatz eines Discounters ein. Die meisten waren in Jeans und Shirt gekleidet, doch zwei trugen die langen, luftigen Gewänder, die vor allem bei Wüstenklima gute Dienste leisteten. Sie waren etwa in seinem Alter, sahen weder rechts noch links und einige trugen Bücher unter dem Arm.

Nicos Interesse war geweckt.

Er folgte ihnen zwischen den parkenden Autos hindurch, vorbei am Eingang des Supermarktes. Hinter dem Gebäude tat sich eine weitere Parkfläche auf. Die jungen Männer überquerten gemessenen Schrittes den Platz und verschwanden in einem schmalen Weg, der beidseitig von Mauern eingefasst war. Nico schaute sich um.

Warum hatte er plötzlich so ein mulmiges Gefühl?

Um ihn herum packten Familien ihre Einkäufe in die Autos oder schoben Einkaufswagen zurück. Nichts deutete auf Gefahr hin. Warum stellte er sich jetzt so an?

In seinen Drogenzeiten hatte er die übelsten Orte aufgesucht und war vor nichts zurückgeschreckt, um an den nächsten Schuss zu kommen. Doch damals waren die Alarmsirenen im Inneren von der Sucht gedämpft worden. Und nicht immer war es gut gegangen. Manche Erlebnisse hatte er nur durch den Rausch verdrängen können.

Und bis heute vermied er es, die Erinnerungen hochkommen zu lassen, so hartnäckig seine Therapeutin auch versuchte, sie auszugraben.

Doch früher hatte er außer seinem armseligen Leben im Dreck nichts zu verlieren gehabt. Heute gab es so viel, was ihm wichtig war, wovon er träumte, worauf er hoffte. Er schüttelte das unangenehme Gefühl ab. Er musste es machen. Er wollte herausfinden, wohin die jungen Männer gingen.

Er tat es für Laura.

399
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9783742750938
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