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Fallstudien in der Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen

Fallstudien in der Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen

In der Aus- und Weiterbildung werden Fallstudien als didaktische Methode eingesetzt. In der konkreten Anwendung lehnen sie sich aber an die Fallstudien als Forschungsansatz an. Als didaktische Methode in der Bildung von Lehrpersonen werden sie von Bastian und Helsper (2000) so begründet:

Für die Förderung der individuellen Professionalität bedarf es der Stärkung zweier Wissenstypen: Neben dem bislang eindeutig dominierenden Fachwissen, dem bislang eher drittrangigen erziehungswissenschaftlichen Theoriewissen und dem sich zumeist unter beruflichen Sozialisations- und Initiationszwängen weitgehend naturwüchsig aufschichtenden methodischen und didaktischen Handlungs- und Erfahrungswissen bedürfen Lehrerinnen und Lehrer vor allem eines kasuistischen, reflexiven Fallwissens, das mit Theoriewissen vermittelt ist, sowie eines (berufs)biographisch selbstreflexiven, selbstbezüglichen Wissens. (Bastian und Helsper 2000, 182)

In der Fallbearbeitung sehen Bastian und Helsper die Möglichkeit, erfahrungsnahes Praxiswissen mit theoretischem Erklärungswissen zu verbinden. Auch in anderen grundlegenden Studien zur Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen wird die Fallarbeit als wichtige methodische Arbeitsweise benannt. So werden im Bericht «Standards für die Lehrerbildung: Bildungswissenschaften», beruhend auf dem Bericht einer Arbeitsgruppe (Terhart et al. 2002, KMK 2004a), unter den didaktisch-methodischen Ansätzen für die Vermittlung bildungswissenschaftlicher Inhalte folgende als relevant erachteten Aspekte genannt: «Situationsansatz, Fallorientierung, Problemlösestrategien, Projektorganisation des Lernens, biographisch-reflexive Ansätze, Kontextorientierung, Phänomenorientierung» ([KMK] Kultusministerkonferenz 2004b). Im Beschluss von 2014 wurde die Liste ergänzt mit Praxisorientierung und Forschungsorientierung (KMK 2014). Situationsansatz, Fall- und Praxisorientierung, Problemlösestrategien, Kontextorientierung und Phänomenorientierung sind methodische Prinzipien, die alle in der Fallstudienarbeit zum Zuge kommen. In der Studie zu Standards in der Lehrerbildung postulieren Oser und Oelkers als optimale Verarbeitungstiefe von Ausbildungsinhalten eine systematische Verknüpfung von Wissen, Handeln und Reflektieren, indem die angehenden Lehrpersonen theoretisches Wissen erwerben, Übungen durchführen und Praxissituationen reflektieren (Oser 1997; Oser und Oelkers 2001). Eine solche Verknüpfung lässt sich unter anderem durch Fallstudienarbeit erreichen.

Vorgehen bei der Fallstudienarbeit

Vorgehen bei der Fallstudienarbeit

Fallstudienarbeit gehört zum Ausbildungskonzept der Universität Zürich für zukünftige Lehrpersonen an Maturitätsschulen. Die Autorin hat als Lehrstuhlinhaberin für Gymnasialpädagogik zusammen mit dem Autor über viele Jahre das Pflichtmodul für Diplomstudierende angeboten. Anders als bei der Fallstudienarbeit im Schulunterricht lehnen wir uns dabei an eine elaborierte, einem Forschungsverfahren ähnliche Vorgehensweise an. Dennoch soll mit der Fallstudienarbeit nicht der Anspruch erhoben werden, dass die angehenden Lehrpersonen durch die Fallstudien befähigt würden, Fallstudien als Forschungsmethodik anzuwenden. Ziel ist der Erwerb von theoretisch fundiertem Fallwissen durch die genaue Analyse von Unterrichtssituationen, welche die Studierenden aus ihrer Praxis einbringen. Der Umfang und die Tiefe der Analyse soll angehenden und neu im Beruf stehenden Lehrpersonen einen guten Einblick in lösungsorientiertes Bearbeiten von Praxisproblemen geben. Eine Fallanalyse als Forschungsstudie würde deutlich darüber hinausgehen (vgl. z. B. Kyburz-Graber 2016).

Die Studierenden, die sich für die Fallstudienarbeit als obligatorisches Modul einschreiben, haben alle anderen Ausbildungsmodule weitgehend abgeschlossen und bereits einige Erfahrungen mit Unterrichten gesammelt. Sie haben ein großes Praktikum in einem Gymnasium absolviert, manche von ihnen unterrichten auch bereits einige Lektionen pro Woche als Lehrbeauftragte an einer Schule. Alle Studierenden schreiben ein eigenes Fallbeispiel, dessen Länge durch ein Formular vorgegeben ist. Die Fallbeschreibung soll prägnant, klar, aussagekräftig und authentisch sein und keine Aussagen zu möglichen Lösungsansätzen machen. Der Fall soll schließlich mit einem treffenden Titel versehen werden.

Alle Fallbeschreibungen, die in diesem Buch vorkommen, stammen original von Studierenden. Wir verzichten darauf, in ihren Texten Korrekturen anzubringen, um die Originalität nicht zu beeinträchtigen. Aus dem Text geht teilweise hervor, ob es sich um eine Lehrerin oder einen Lehrer handelt. In der Analyse verwenden wir jedoch generell die Bezeichnung Lehrperson.

Die Vorgehensweise bei der Analyse vollzieht sich in den Kursen auf die Weise, wie wir sie in den 20 Fallanalysen präsentieren:

1.Was fällt auf? Das Fallbeispiel wird in diesem ersten Schritt beschreibend erfasst, nahe am Originaltext, jedoch paraphrasierend, mit Zitaten aus dem Text in Anführungszeichen, auffallende Formulierungen hervorhebend, möglichst nicht interpretierend. Dennoch finden sich in diesem ersten deskriptiven Schritt ab und zu Andeutungen von Interpretationen, die später in der vertiefenden Analyse wieder aufgegriffen werden.

2.Was ist das Problem? In diesem zweiten Schritt unternehmen wir den Versuch, auf der Basis der vorausgehenden Deskription, das zentrale Problem zu identifizieren. Es geht hier darum, das Problem zu verstehen. Die Problemformulierung sollte für die Leserinnen und Leser nachvollziehbar sein. Selbstredend gäbe es aufgrund der Fallbeschreibung mehrere Probleme zu formulieren, zum Beispiel auch aus der Perspektive von Lernenden oder weiteren in den Fall involvierten Personen. Wir identifizieren jeweils das als Problem, was aus der Sicht der jungen Lehrperson am dringlichsten erscheint, oftmals auch unter Einbezug der Befindlichkeit, die aus ihren Sätzen spricht.

3.Erklärungsansätze und Hintergründe Im dritten Schritt beleuchten wir verschiedene Aspekte der Problemsituation aus theoretischer Sicht, jedoch immer unter Bezug zum konkreten Fall. Es geht hier im Gegensatz zum ersten und zweiten Schritt darum, das geschilderte Geschehen zu erklären. Dieser dritte Schritt ließe sich beliebig ausbauen. Wir müssen allerdings berücksichtigen, dass wir mit dem Fallbeispiel einzig die Perspektive der betreffenden Lehrperson kennen. Einiges muss spekulativ bleiben. Wir beschränken uns in der Analyse auf das, was die Studierenden in den Kursen wichtig und besonders interessant fanden. Erst durch die genaueren Erklärungsversuche traten manchmal unerwartete Aspekte auf, mit denen die Fallanalyse theoretisch angereichert werden konnte.

4.Lösungsansätze Im vierten und letzten Schritt stellen wir Lösungsansätze dar, die sich sozusagen als Früchte aus den bisherigen Schritten, vor allem aber aus Schritt 3, ergeben. Bewusst sprechen wir hier von Lösungsansätzen, erstens weil es nicht die Lösung, sondern immer mehrere Möglichkeiten gibt und zweitens weil es sich nicht um fertige Lösungen handelt, die sich in der Praxis überprüfen lassen, sondern um Ansätze, die im konkreten Kontext weiterzuentwickeln oder anzupassen sind. Aufgrund der Schritte 1 bis 3 sollten die Lösungsansätze nachvollziehbar und plausibel sein, zugleich auch so konkret, dass weniger erfahrene Lehrpersonen daraus Vorgehensweisen für den eigenen Unterricht ableiten können.

Wir hoffen, dass wir mit dem standardisierten Vorgehen Lehrpersonen anregen können, eigene Überlegungen zu den geschilderten Fallbeispielen anzustellen, zu vergleichen, nachzudenken, sich mit anderen auszutauschen und schließlich Situationen aus dem eigenen Unterricht in ähnlicher Vorgehensweise zu bearbeiten, allein, mit einem «kritischen Freund» (Altrichter und Posch, 2006), in Intervisions- oder Supervisionsgruppen, oder an Weiterbildungsveranstaltungen.


Abbildung 1: Vorgehensweise bei der Fallstudienarbeit. Unter der Frage «Was fällt auf?» wird der Fall zunächst beschreibend erfasst. Darauf aufbauend wird das zentrale Problem identifiziert, worauf sich die genaue Fallanalyse mit Erklärungsansätzen und Hintergründen anschließt. Daraus werden Lösungsansätze abgeleitet und anhand der Fallbeschreibung überprüft.

Literatur

Altrichter, H. und Posch, P. (2006). Lehrerinnen und Lehrer erforschen ihren Unterricht. Unterrichtsentwicklung und Unterrichtsevaluation durch Aktionsforschung. 4., überarbeitete und erweiterte Auflage. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

Bastian, J. und Helsper, W. (2000). Professionalisierung im Lehrberuf – Bilanzierung und Perspektiven. In: J. Bastian et al. (Hrsg.). Professionalisierung im Lehrerberuf. Von der Kritik der Lehrerrolle zur pädagogischen Professionalität. Opladen: Leske und Budrich. S. 167 –192.

Kaiser, F.-J. (Hrsg.) (1983). Die Fallstudie. Theorie und Praxis der Fallstudiendidaktik. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

Kaiser, F.-J. und Kaminski, H. (2011). Methodik des Ökonomieunterrichts. Grundlagen eines handlungsorientierten Lernkonzepts mit Beispielen. 4., vollständig überarbeitete Auflage. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

KMK Kultusministerkonferenz (2004a). Standards für die Lehrerbildung: Bericht der Arbeitsgruppe. www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/2004/2004_12_16-Standards_Lehrerbildung-Bericht_der_AG.pdf (26.10.2015)

KMK Kultusministerkonferenz (2004b, 2014). Standards für die Lehrerbildung: Bildungswissenschaften. http://www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/2004/2004_12_16-Standards-Lehrerbildung.pdf (26.10.2015)

Kyburz-Graber, R. (2004). Does Case-Study Methodology Lack Rigour? The Need for Quality Criteria for Sound Case-Study Research, as Illustrated by a Recent Case in Secondary and Higher Education. Environmental Education Research, 10 (1), pp. 53–65.

Kyburz-Graber, R. (2016). Case Study Research on Higher Education for Sustainable Development: Epistemological Foundation and Quality Challenges. In: M. Barth et al. (Eds.). Routledge Handbook of Higher Education for Sustainable Development. London: Routledge. pp. 126 – 141.

Oser, F. und Oelkers, J. (2001). Die Wirksamkeit der Lehrerbildungssysteme. Von der Allrounderausbildung zur Ausbildung professioneller Standards. Zürich: Rüegger.

Oser, F. (1997). Standards in der Lehrerbildung. Beiträge zur Lehrerbildung 15 (1), S. 26 – 37.

Stake, R. E. (1995). The Art of Case Study Research. Thousand Oaks, CA: Sage Publications.

Terhart, E. (2002). Standards für die Lehrerbildung. Eine Expertise für die Kultusministerkonferenz. http://alt.sowi-online.de/reader/lehrerausbildung/terhart_standards.htm. Originalpublikation unter: Zentrale Koordination Lehrerausbildung (ZKL–Texte Nr. 23). Westfälische Wilhelms-Universität Münster.

Wahl, D. (1991). Handeln unter Druck. Der weite Weg vom Wissen zum Handeln bei Lehrern, Hochschullehrern und Erwachsenenbildnern. Weinheim: Deutscher Studienverlag.

Wahl, D. (2013) Lernumgebungen erfolgreich gestalten. Vom trägen Wissen zum kompetenten Handeln. 3. Auflage. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

Weitz, B. O. (2000). Fallstudienarbeit in der ökonomischen Bildung. Hochschuldidaktische Schriften des Instituts für Betriebswirtschaftslehre der Universität Halle-Wittenberg. Beitrag 4/2000. (Siehe auch http://alt.sowi-online.de/methoden/dokumente/weitzfall.htm)

Whyte, W. F. (1955). Street Corner Society: The Social Structure of an Italian Slum. Chicago: University of Chicago.

Whyte, W. F. (1996). Die Street Corner Society. Die Sozialstruktur eines Italienerviertels. Einführung von Peter Atteslander. Nachdruck der 3., durchgesehenen und erweiterten Auflage. Berlin: De Gruyter.

Yin, R. K. (2014). Case Study Research. Design and Methods. 5th edition. Thousand Oaks: Sage Publications.

Yin, R. K. (2012). Applications of Case Study Research. 3rd edition. Los Angeles: Sage Publications.

Unterrichtsplanung und -durchführung

Dieses Kapitel handelt von Aspekten des Unterrichtens, die mit der Planung, der konkreten Ausgestaltung und der Verbesserung von Unterricht zusammenhängen.

Im Fallbeispiel «Heterogene Klassenzusammensetzung» stellt sich die Englischlehrperson die Frage, wie sie es schaffen kann, den sehr unterschiedlichen Voraussetzungen der Lernenden in einer neu zusammengesetzten Klasse gerecht zu werden, ohne die einen zu überfordern und die anderen zu unterfordern. Vor allem geht es aber auch um ihre eigene Belastung in dieser Situation.

Im Fallbeispiel «Mündliche Beteiligung» möchte die Geschichtslehrperson einen Weg finden, um möglichst alle Lernenden für die mündliche Mitarbeit im Unterricht zu gewinnen. Mit dem Hinweis auf die Benotung der mündlichen Beteiligung erreicht die Lehrperson keine Verbesserung. Die Frage stellt sich, wie der Unterricht didaktisch so gestaltet werden kann, dass sich die Lernenden aus eigenem Interesse aktiv beteiligen.

Im Fallbeispiel «Verweigerung von vertiefter Arbeit» stellt die Englischlehrperson fest, dass es ihr nicht gelingt, den Lernenden die Bedeutung einer vertieften Auseinandersetzung mit dem literarischen Text näherzubringen. Auch hier stellt sich unter anderem die Frage, welches didaktische Arrangement für eine vertiefende Arbeit der Lernenden geeignet ist.

Mit dem Fallbeispiel «Trittbrettfahrer bei der Arbeit in Gruppen» kommen grundsätzliche Fragen der Gruppenarbeit im Unterricht zur Sprache. Für die Biologielehrperson erweist es sich als schwierig, Gruppenarbeit so anzulegen, dass alle Lernenden aktiv mitarbeiten und es keine Trittbrettfahrer gibt. Die Analyse der Situation zeigt Hintergründe und didaktische Möglichkeiten für das Arbeiten in Gruppen.

Im Fallbeispiel «Fachliche Vorbereitung» beschreibt die Geschichtslehrperson die Schwierigkeiten, die sich stellen, wenn sie trotz aufwendiger fachlicher Vorbereitung durch Fragen der Lernenden im Unterricht immer wieder an ihre fachlichen Grenzen stößt. Sie fühlt sich dadurch verunsichert und empfindet das Abschieben auf die nächste Stunde als unprofessionell. In der Analyse wird aufgezeigt, wie die Lehrperson mit den eigenen hohen fachlichen Ansprüchen umgehen kann.

Das Fallbeispiel «Klassenfeedback» zeigt auf, dass das Einholen von Feedback bei der Klasse zwar für eine stetige Verbesserung des Unterrichts unabdingbar ist, aber auch Selbstzweifel und Enttäuschung hervorrufen kann. Die Analyse zeigt Möglichkeiten für Feedbacks und der Ergebnisinterpretation auf, wie auch Wege, um gelassener, aber dennoch selbstkritisch mit Feedbacks umgehen zu können.

Im Fallbeispiel «Konflikt mit Lehrplan» wird die Frage aufgeworfen, ob die Mathematiklehrperson vom Lehrplan abweichen soll bzw. darf, wenn sie der Auffassung ist, dass der Lehrplan den aktuellen Anforderungen in einem Hochschulstudium nicht entspricht. Die Analyse zeigt die Rahmenbedingungen und den Spielraum in der Umsetzung eines Lehrplans auf, vor allem aber auch das notwendige fachliche Gespräch innerhalb der Fachschaft und der Fachkolleginnen und -kollegen.

Heterogene Klassenzusammensetzung

Titel Heterogene Klassenzusammensetzung

Fach Englisch

Schultyp Langzeitgymnasium

Klassenstufe 3. Klasse/9. Schuljahr

Klassengröße 27 und 25

Zusammensetzung der Klasse Gemischt

Besondere Umstände Gutes Klassenklima

Beschreibung des Falles


Ich unterrichte zum ersten Mal in meiner Laufbahn als Englischlehrerin zwei Probezeitklassen, wobei ich mit verschiedenen Problemen konfrontiert wurde. Die Klassen setzen sich aus 27 bzw. 25 Schüler/innen zusammen, die entweder bereits zwei Jahre Kantonsschule[1] hinter sich haben oder aber von der Sekundarschule zu uns stießen. Der Probezeitunterricht ist entsprechend den allgemeinen Richtlinien sehr intensiv; es sind zum Beispiel 4 – 5 schriftliche Arbeiten vorgesehen, die auf nur zwei Monate zu verteilen sind. Um Stoff für diese Prüfungen zusammenzubekommen, werden in kurzer Zeit relativ viele Inhalte behandelt, was die Schüler/innen natürlich fordert – und zum Teil eben auch überfordert.

Das Problem besteht darin, dass die Klassen ungemein heterogen sind: Es finden sich Schüler/innen, die muttersprachlich Englisch sprechen, klar im Vorteil liegende «Kantonsschüler/innen», die das System und die Aufgabenstellungen bereits in- und auswendig kennen, und ziemlich viele «Sekundarschüler/innen», die in den meisten Fällen hoffnungslos überfordert sind und starke Englisch-Defizite aufweisen.

Es muss hier erwähnt werden, dass das Klima in diesen Klassen wirklich als sehr gut eingestuft werden kann bzw. dass die Schüler/innen einander gegenseitig unterstützen und generell sehr motiviert und lernbegeistert sind. Dies zeigte sich auch dadurch, dass schwache Schüler/innen (und zum Teil auch deren Eltern) sich sehr schnell zu Beginn der Probezeit bei mir meldeten und um zusätzliche Unterstützung bezüglich des Englischunterrichts baten. Ich habe ihnen in der Folge verschiedene zusätzliche Aufgabenblätter mit oder ohne Lösungen verteilt, Kapitel aus zusätzlichen Lehrmitteln und/oder Wörterbüchern kopiert, Grammatikthemen während Pausen Einzelnen nochmals detailliert erläutert usw. Da die Probleme und Defizite individuell waren, mutierte diese Unterstützung bald zu aufwendigem Einzelcoaching. Wenn man die Größe der Klassen bedenkt, wird schnell klar, dass dies für die Lehrperson auf Dauer nicht machbar ist.

Auf der anderen Seite sind da im Unterricht noch die leistungsstarken/muttersprachlichen Schüler/innen, die eher unterfordert sind, da sie die zu behandelnden Themen zum Teil schon von der 2. Klasse her kennen oder aber fließend Englisch sprechen. Dies führt oft zu (zum Teil verständlichen) Unruhen. Ihnen ebenfalls zusätzliches, sie forderndes Material zu verteilen, liegt außerhalb der Lehrerkapazität und ermöglicht keinen normalen Unterricht mehr.

Anmerkung: Bei dieser Fallbeschreibung und allen folgenden handelt es sich um Originaltexte von Lehrdiplom-Studierenden.

Was fällt auf?


Die Englischlehrperson unterrichtet zum ersten Mal Englisch und muss gleich zwei Probezeitklassen übernehmen. Es begegnen ihr dabei «verschiedene» Probleme. Es handelt sich um große Klassen mit 27 bzw. 25 Schülerinnen und Schülern. Die Lehrperson beschreibt den Schultypus als Langzeitgymnasium, wobei aber offenbar auch Sekundarschülerinnen und -schüler nach dem 8. Schuljahr in die Klasse gekommen sind. Vermutlich handelt es sich um eine Schule, die sowohl ein Langzeit- als auch ein Kurzzeitgymnasium anbietet. Nach der 2. Klasse Langzeitgymnasium werden die Klassen neu zusammengesetzt, wobei in gewissen Profilen auch Lernende aus der Sekundarschule aufgenommen werden. Dies ist in der Regel in einem mathematisch-naturwissenschaftlichen Profil, einem neusprachlichen und in einem musischen Profil der Fall. Die Probezeit gilt nur für die Lernenden, die neu an die Schule gekommen sind bzw. die in der vorhergehenden Stufe nur provisorisch promoviert wurden. Die Englischlehrperson aber schreibt nichts über diese unterschiedlichen Ausgangssituationen für die Lernenden.

Den Probezeitunterricht beschreibt die Lehrperson als intensiv, weil 4 bis 5 Prüfungen in zwei Monaten durchzuführen sind. Für sie stellt sich die Aufgabe, genügend «Stoff für diese Prüfungen zusammenzubekommen», was bedeutet, dass sie in «relativ kurzer Zeit viele Inhalte behandelt». Sie spricht von einer Überforderung gewisser Schülerinnen und Schüler. Nicht ausgesprochen ist in dieser einführenden Beschreibung ihre eigene implizite Belastung, die sich in der Wahl der Formulierungen ausdrückt und die sie vermutlich auch als Überforderung erlebt.

In der Klasse sitzen muttersprachliche Schülerinnen und Schüler, ferner solche, die bereits zwei Jahre das Gymnasium besucht haben und das «System und die Aufgabenstellungen bereits in- und auswendig kennen» und «ziemlich viele ‹Sekundarschüler/innen›, die in den meisten Fällen hoffnungslos überfordert sind und starke Englisch-Defizite aufweisen». Die Ausdrucksweise der Lehrperson mit der «hoffnungslosen» Überforderung und den «starken Englisch-Defiziten» deutet darauf hin, dass die Lehrperson kaum Wege sieht, mit der Heterogenität der Klasse zurechtzukommen.

Im nächsten Abschnitt schreibt dann die Lehrperson über das «Klima» in den Klassen, das «wirklich als sehr gut eingestuft» werden könne. Wenn man sich als Leser oder Leserin wohl auch etwas darüber wundern mag, dass die Lehrperson ihren Eindruck über das gute Klassenklima nicht direkt zum Ausdruck bringt, sondern in indirekter, passiver Weise in der Form, dass das Klima als «sehr gut eingestuft» werden könne – als ob die Lehrperson die Zuständigkeit für die Einschätzung verallgemeinern möchte –, so ist doch festzustellen, dass das gute Klassenklima als eine wichtige Ressource für die Lösung der Probleme eingesetzt werden könnte. Die Schülerinnen und Schüler unterstützen «einander gegenseitig» und sie seien «generell sehr motiviert und lernbegeistert», eine Ausgangssituation, welche die Lehrperson als hilfreich erkennt. Zudem erwähnt sie auch das Interesse der Eltern an Unterstützungsmaßnahmen. Diese gewährt die Lehrperson durch zusätzliche Aufgabenblätter sowie Kapitel aus Lehrmitteln und Wörterbüchern. Unter Druck kommt die Lehrperson dann offenbar vor allem dadurch, dass sie einzelnen Lernenden Grammatikthemen während der Pausen «detailliert erläutert», was ein genaues Eingehen auf die individuellen Probleme und Defizite bedeutete, worauf «diese Unterstützung bald zu aufwendigem Einzelcoaching» mutierte. Auch im folgenden Satz nimmt die Lehrperson Distanz zu ihrer eigenen Erfahrung, indem sie schreibt, dass «dies für die Lehrperson auf Dauer nicht machbar ist».

In einem letzten Abschnitt schließlich schreibt die Lehrperson über die festgestellte Unterforderung der «leistungsstarken/muttersprachlichen» Schülerinnen und Schüler, was zu «zum Teil verständlichen» Unruhen führe. Wiederum folgert die Lehrperson auf distanzierte Weise, Material zu verteilen, das die betreffenden Lernenden fordern würde, liege «außerhalb der Lehrerkapazität» und ermögliche «keinen normalen Unterricht mehr». Die Lehrperson sucht eine Entschuldigung für das aus ihrer Sicht nicht zu lösende Problem, indem sie die Belastung generalisiert im Sinne von: Man kann von keiner Lehrperson erwarten, dass sie die Ressourcen hat, um auch noch den guten Schülerinnen und Schülern gerecht zu werden, und zudem wäre auch ganz grundsätzlich auf dieser Basis kein «normaler Unterricht» mehr möglich.

Die distanzierenden, von ihrer Person wegweisenden Formulierungen sind zusätzliche Hinweise darauf, wie groß die Belastung für die Lehrperson ist und wie sie versucht, die Verantwortung für das nachvollziehbare Ungenügen von sich zu weisen und der Situation insgesamt anzulasten.

Was ist das Problem?

Die Lehrperson beschreibt eine Probezeit-Situation im Englischunterricht, in der sie eine große Stofffülle mit vielen Prüfungen unterbringen muss, um die notwendige Notengrundlage für begründete Beurteilungen der Lernenden schaffen zu können. Es handelt sich um zwei Klassen, in denen die Schülerinnen und Schüler aufgrund von verschiedenen Herkunftsschulen unterschiedliche Vorkenntnisse im Fach Englisch mitbringen. Zudem sind sie unterschiedlich vertraut mit dem «System» der Schule. Diese Situation führt bei den einen Jugendlichen zu Überforderung, bei den anderen zu Unterforderung. Die Lehrperson selbst lässt in der Beschreibung der Situation erahnen, dass sie stark überfordert ist, versucht sie doch vor allem mit individuellen Beratungen am Rand der Lektionen möglichst vielen Bedürfnissen gerecht zu werden. Die Unterforderung der leistungsstarken Schülerinnen und Schüler, die zu Unruhen während des Unterrichts beiträgt, belastet die Unterrichtsstunden. Dies führt zum bedeutsamen Problem, dass die Lehrperson es als unmöglich erachtet, einen «normalen» Unterricht umsetzen zu können.

Das zentrale Problem des Fallbeispiels kann daher mit folgenden Fragen umrissen werden:

–Wie kann die Lehrperson eine leistungsmäßig heterogene Klasse (während der Probezeit) so unterrichten, dass sie den Bedürfnissen aller Lernenden gerecht werden kann?

–Wie kann die Lehrperson vermeiden, sich selbst dabei zu überfordern?

Erklärungsansätze und Hintergründe

Probezeit

Die Lehrperson schreibt im Fallbeispiel, dass der Probezeitunterricht entsprechend den Richtlinien sehr intensiv ist und die Schülerinnen und Schüler gefordert bzw. teilweise überfordert sind.

Angesichts des großen Stoffdrucks neigen Lehrpersonen dazu, den Unterricht an einem fixen Programm auszurichten. Dadurch möchten sie gewährleisten, dass sie die Fülle an Inhalten in der vorgegebenen (Probe-)Zeit vermitteln können und somit die Grundlage für begründete Beurteilungen geschaffen wird. Sie verzichten dabei eher auf vielfältige Methoden und vergeben damit die Möglichkeit, auf unterschiedliche Leistungsvoraussetzungen eingehen zu können.

Die Lernenden selbst sind mit einer großen Menge von unbekanntem, zu verarbeitendem Stoff konfrontiert: Erstmals fahren viele Schülerinnen und Schüler mit dem Zug zur Schule, essen am Mittag auswärts, kommen in eine neue Klasse mit unbekannten Gesichtern und haben für jedes Fach andere Lehrpersonen mit verschiedenen Grundsätzen und Eigenheiten, die es zu erkennen und zu berücksichtigen gilt. Die Probezeit weist daher mehr Anforderungen auf als ‹bloßes› Lernen von Fachinhalten und das Bestehen von Prüfungen.

Heterogenität und ihre Ursachen

Die Lehrperson schreibt im Fallbeispiel, dass das Problem in der Heterogenität der Klassen liegt.

Heterogenität im pädagogischen Sinne beschreibt die lernrelevante Unterschiedlichkeit der Schülerinnen und Schüler. Diese Unterschiedlichkeit kann sich im Geschlecht, der Familienstruktur, unterschiedlicher sozialer, religiöser und kultureller Herkunft, der Bildungsnähe des Elternhauses oder der Sprache ausdrücken.

In der Primarschule und der Sekundarstufe I ist Heterogenität die alltägliche Herausforderung für Lehrpersonen. Bezüglich der kulturellen Heterogenität führt das Bundesamt für Statistik seit 1990 eine Statistik, die aufzeigt, dass insgesamt gesehen die kulturelle Heterogenität der Klassen in der obligatorischen Schule zugenommen hat, wenn auch nicht auf allen Bildungsstufen bzw. in allen Schultypen im gleichen Ausmaß (siehe Homepage des Bundesamts für Statistik; Bildungssystemindikatoren).

Gymnasiallehrerinnen und -lehrer, wie auch die Lehrperson im Fallbeispiel, gehen noch oft von einer Homogenität der Lernenden aus. Die Schülerinnen und Schüler bringen jedoch auch auf der Sekundarstufe II stets individuell unterschiedliche Voraussetzungen mit und haben verschiedenartigen Lernbedarf. Auf kognitive Aspekte bezogen bedeutet dies, dass sich die Heterogenität in vier unterschiedlichen und lernrelevanten Bereichen ausdrücken kann: (1) Wissensbasis, (2) Intelligenz, (3) Motivation und (4) Metakognition (Rossbach und Wellenreuther 2002). Auch die Lehrperson nennt im Fallbeispiel Gründe für die heterogenen Leistungsvoraussetzungen: unterschiedliche Vorbildungen in Primar- und Sekundarschulen oder in den ersten Klassen des Langzeitgymnasiums; neu zusammengesetzte Klassen in bestimmten Fächern; außerschulisch erworbene Fähigkeiten usw. Diese unterschiedlichen Leistungsvoraussetzungen beziehen sich v. a. auf die Wissensbasis und sind insbesondere in den Sprachfächern bekannt, weil Schülerinnen und Schüler unterschiedlich lange Vorbereitungszeiten mitbringen. Zudem gibt es immer mehr Jugendliche, die eine andere europäische Muttersprache als Deutsch (z. B. Englisch) haben und damit Vorteile im Sprachunterricht genießen.

Ein gutes Klassenklima und Motivation als optimale Voraussetzungen

Die Lehrperson schreibt, dass das Klima in diesen Klassen sehr gut ist, dass die Schülerinnen und Schüler einander unterstützen und generell sehr motiviert und lernbegeistert sind. Somit zeichnen sich die Klassen nicht nur durch Heterogenität bezogen auf die Wissensbasis aus, sondern auch durch Homogenität hinsichtlich der Motivation und des ‹Teamgeistes›. Die Homogenität bezogen auf die Motivation und das Klassenklima bietet ideale Voraussetzungen, einen für alle Beteiligten gewinnbringenden Unterricht zu gestalten. Dabei muss aber die Heterogenität (mindestens bezogen auf die Wissensbasis) der Klasse berücksichtigt werden: Aufgabe der Lehrperson als Pädagogin ist es, Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichen Neigungen, Fähigkeiten, Stärken und Schwächen idealerweise gleichermaßen anzusprechen und in den Unterricht einzubinden. Dies setzt ein vielfältiges und flexibel variierbares Methodenrepertoire voraus, welches die Klasse als Ganzes wie auch die Leistungsgruppen und die Lernenden als Individuen anspricht und fördert.

Wie geht die Lehrperson mit Heterogenität um?

Die Lehrperson schildert, dass die zusätzliche und individuelle Unterstützung für die schwächeren Schülerinnen und Schüler zu einem aufwendigen Einzelcoaching außerhalb des regulären Unterrichts «mutiert», welches auf Dauer nicht aufrechterhalten werden kann. Inwiefern die Lehrperson individualisierende Methoden (siehe Lösungsansätze) im Unterricht selbst einsetzt, um die Heterogenität (zumindest stellenweise) aufzufangen, kann aufgrund der Fallbeschreibung nicht festgestellt werden.

Die Lehrperson schreibt, dass sie die schwachen Lernenden zusätzlich unterstützt, hingegen die leistungsstarken/muttersprachlichen Lernenden nicht entsprechend fördern kann. «Dies führt oft zu Unruhen», schreibt die Lehrperson. Keinesfalls darf es sein, dass die leistungsstarken Schülerinnen und Schüler nicht entsprechend ihrer Fähigkeiten unterrichtet werden und das Augenmerk ausschließlich auf Leistungsschwächere gerichtet wird. Sowohl leistungsstarke als auch leistungsschwache Lernende haben ein Anrecht darauf, entsprechend ihren Voraussetzungen innerhalb des Unterrichts gefördert zu werden (individualisierender Unterricht; siehe Lösungsansätze).

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373 стр. 6 иллюстраций
ISBN:
9783035504316
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