Читать книгу: «Elduria - Runa oder das Erwachen», страница 3

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Auf der Straße

Runa hat ihr silbernes Geldstück tief im Rucksack, in einer geheimen Tasche verborgen. Sollten sie auf ihrer Wanderung von Strauchdieben überfallen werden, dürfen sie die Münze nicht finden. Sie denkt kurz an die Viererbande, die vor sieben Jahren ihre Habe durchsucht hatte. Heute könnten sie erfolgreich sein.

Ein Silberstück stellt einen nicht zu verachtenden Reichtum dar. Sein Wert entspricht hundert Kupferstücken, die jeweils für eine Mahlzeit im »Fuchs und Gans« zu zahlen sind. Mit dem Geldstück kann sie grob gerechnet die Nahrung für etwa sieben Wochen bezahlen. Sie bezieht automatisch Dragon in ihre Rechnung mit ein, da sie bei ihm noch nie Geld gesehen hat. Bis heute Morgen galt das genauso für sie. In dem Gasthaus erhalten sie schließlich keine Entlohnung in Münzen für ihre Arbeit. Die besteht vielmehr aus Essen, Unterkunft und Kleidung. Gelegentlich bekommen sie zusätzlich ein Geschenk, einen großen Apfel oder einen kleinen Kuchen. Dazu zählt das Buch über die Insel der Drachen, das Kaytlin Runa zum zehnten Geburtstag geschenkt hatte. Die Wirtin wollte sich mit dieser außergewöhnlichen Gabe für die in fast fünf Jahren geleistete Arbeit des Mädchens bedanken.

Sobald die Kinder in Merion und Elduria dieses Alter erreichen, werden sie als Jugendliche bezeichnet. Sie beginnen ihr erstes Ausbildungsjahr. Die Lehrjahre sind je nach Berufsrichtung unterschiedlich lang, laufen aber in der Regel über drei Jahre. Wenn die erfolgreich abgeschlossen sind, gelten die dann mindestens Dreizehnjährigen als Erwachsene, mit allen Rechten und Pflichten.

Runa hat ihre Schritte automatisch in die Richtung gelenkt, aus der sie fünfjährig nach Homarket gekommen war. Sie vermutet, dass sie in ihrem ehemaligen Heim auf Hinweise stoßen wird, die bei der Suche nach Atropaia helfen werden. Sie überlegt noch einmal kurz, ob sie sich im Rathaus nach dem Aufenthaltsort von Owain erkundigen soll. Was sollte das aber bringen? Sie vermutet inzwischen, dass er ihre Amme in höherem Auftrag gefangen genommen haben wird.

Sie hatte sich vor ihrer Rückkehr von dem Amtsgebäude auf dem Marktplatz bei Umstehenden erkundigt, wer denn dieser Owain ist. Sie erinnert sich, erstaunte Blicke geerntet zu haben.

»Warum willst du das wissen?«, lautete eine leise Gegenfrage.

»Du musst vorsichtig sein. Du hast sicher auch gesehen, dass eine der Zinnen beinahe seinen Sohn getötet hat.« Der zweite Befragte hatte offenbar nicht mitbekommen, dass sie das Leben Brendans gerettet hat. Doch das erwiderte sie nicht.

»Warum sollte es gefährlich sein, sich nach ihm zu erkundigen?«

»Nun ja«, druckste der Mann herum, »nicht jeder mag ihn. Fragen könnten der Beginn zu einem Anschlag wie soeben sein.« Mit diesen unklaren Worten drehte er sich um und hastete davon.

»Wundere dich nicht über ihn«, raunte ihr ein älterer Mann zu. Der musste die Unterhaltung mitbekommen haben, obwohl der andere fast nur geflüstert hatte. »Er wurde bereits mehrfach verhaftet und mit fehlgeschlagenen Attentaten auf Owain in Verbindung gebracht. Seitdem verhält er sich möglichst unauffällig.« Runa schlug sich erschrocken die Hand vor den Mund. Würde sie jetzt doch noch ins Gefängnis geworfen werden? Der Ältere lächelte sie beruhigend an. Er deutete ihre Reaktion richtig. »Keine Sorge. Fast alle hier haben gesehen, dass du diesem arroganten Brendan das Leben gerettet hast. – Sein Vater Owain ist der Anführer der Palastgarde und Oberbefehlshaber der Kriegstruppen von Elduria und Merion. In diese Position stieg er vor sieben Jahren für einen besonderen Dienst auf, den er unserer Herrscherin geleistet hat.« Weitere Fragen stellte das Mädchen vorsichtshalber nicht, auch wenn ihr der freundliche, ältere Mann nicht gefährlich zu sein schien.

Runa will lieber Hinweise in Atropaias Haus suchen, anstatt im Rathaus nachzufragen. Zumal sie nicht einmal weiß, wonach sie sich erkundigen soll. Direkt nach ihrer Amme zu fragen, würde sicher erfolglos bleiben. Sie schüttelt vehement den Kopf und erntet damit einen erstaunten Blick Dragons. Sie schaut ihn an, doch der Junge hält es nicht für nötig, den Grund des Kopfschüttelns zu hinterfragen. Wenn das Mädchen es wichtig findet, wird es ihn schon in seine Gedanken einbeziehen, ist er offenbar überzeugt.

Runa wiederum rätselt über ihren schweigsamen Gefährten. Warum wollte er sie unbedingt begleiten? Sie haben außerhalb der Arbeit keine gemeinsame Zeit verbracht. Wieso meint er dann, dass sie seine Hilfe benötigen könnte? Dabei hatte sie nicht einmal erwähnt, was sie vorhat. Sie weiß es ja selbst nicht genau. Und jetzt läuft er im Gleichschritt neben ihr, den Blick forschend voraus, aber immer wieder zu den Seiten und rückwärtsgerichtet. Das fällt ihr auf, sobald sie die Häuser hinter sich gelassen haben. Sollte er Gefahren vermuten, die dort auf sie lauern könnten? Vereinzelt kommen ihnen Menschen zu Fuß und auch der eine oder andere Reiter entgegen. Besonders dann, wenn die Pferde vorbei sind, dreht sich der Junge häufig nach hinten. Es sieht so aus, als irritierten ihn die leiser werdenden Tritte.

Von Homarket folgt ihnen offensichtlich niemand, obwohl Dragon gerade das zu erwarten scheint. Weshalb sollte das auch geschehen? Runa schreckt zusammen, als er bei einer dieser Aktionen stolpert. Der Junge versucht, sich an ihr festzuhalten, und stößt sie dadurch nach links in den Straßengraben. Er faucht erschrocken, bittet sie aber nicht einmal um Entschuldigung. Sie bemüht sich, in dem hohen Bewuchs des Grabens Halt zu finden, um herauskrabbeln zu können. Unter Schnaufen beschwert sie sich bei ihm.

»Du wolltest mich doch vor Schwierigkeiten bewahren. Mist. Jetzt schau dir nur an, wie ich hier heraufkommen soll.« Sie hält ein dickes Büschel langes Gras in der Hand. Sie hatte es herausgezogen, als sie sich beim Hochklettern daran festzuhalten versuchte.

Doch Dragon reagiert nicht auf sie, schaut nicht einmal zu ihr hinab. Sein Blick ist zum Ort zurück gerichtet.

»HALLO! HIER bin ich. Hilf mir sofort heraus. Ich will mich nur ungern beklagen, aber meine Schuhe werden dem Wasser nicht lange standhalten!« Doch der Junge reagiert immer noch nicht. Er steht etwas vorgebeugt Richtung Homarket und scheint zu lauschen. Runa bemerkt, dass er nickt. Dann macht er einen Satz und landet neben ihr im Graben. Er hat dabei nicht genau achtgegeben oder den Sprung falsch berechnet. Er kommt zu nahe zu dem Mädchen an und versetzt ihm dadurch einen Stoß. Nur mit Mühe kann es verhindern, der Länge nach in den Kanal zu fallen. Obwohl es heute ein sonniger Tag ist, hätte Runas Kleidung viel Zeit benötigt, um wieder zu trocknen. Dadurch wäre ihre Wanderung zum Haus im Wald erheblich verzögert worden. Sie stemmt die Fäuste in die Seiten und blitzt Dragon an. »Bist du immer so tollpatschig? Wenn das ein Versuch werden sollte, mir aus dem Straßengraben zu helfen, mache ich das lieber allein. Du bringst es fertig …« Sie erschrickt. Der Junge zieht sie neben sich an die Böschung und presst eine Hand auf ihre Lippen. Gleichzeitig hält er einen Finger vor seine.

»Pst!«, ist alles, was er sagt. Das Mädchen will protestierend auffahren und ihn zur Rede stellen. Doch die Kräfte des Jungen sind größer als ihre. Er drückt sie rücklings ins hohe Gras. »Gefahr!«, zischt er ihr leise ins Ohr.

Runa fragt sich nicht nur, woher die in der Nähe des Örtchens kommen sollte, sondern auch, woraus er das folgert. Dann erstarrt sie.

»Strauchdiebe?«, flüstert sie, erhält aber keine Antwort. Wenn ihr Begleiter schärfere Augen als sie hat, wen hat er dann wohl gesehen? Sind seine Sinne besser ausgeprägt als ihre? Jetzt hört sie lauter werdenden Hufschlag. Es klingt nach mindestens zwei oder drei Pferden, die sich rasch nähern. Reiter sind für diese Region des Landes nicht ungewöhnlich, obwohl die meisten Menschen zu Fuß gehen. Manche nutzen auch Kutschen, doch die Reise in ihnen kostet so viel wie ein üppiges Essen. Inzwischen lauschen beide angestrengt. Werden die Pferde hier anhalten und die Reiter in den Graben schauen? Sollten sie die Fußgänger verfolgen, könnten sie diese von ihrer erhöhten Position aus dem Sattel bereits von Weitem gesehen haben. Doch Runa kennt keinen Grund, weshalb ihnen jemand auf den Fersen sein könnte. Das Knarren des Ledergeschirrs der Pferde ist jetzt ganz nah und dem Mädchen fällt plötzlich eine Möglichkeit ein.

Sollte die Rettungsaktion für Owains Sohn die Ursache sein? Dann würde sie vermutlich für eine Verbündete eines Attentäters gehalten. Möglicherweise war der nette, ältere Mann sogar ein Spion, der seine Information über ein neugieriges Mädchen unverzüglich ins Rathaus getragen hat. Sie hatte sich nicht mehr umgesehen, als sie den Marktplatz verließ. Das wäre also durchaus möglich!

Runa fragt sich, ob sie jetzt genauso krankhaft misstrauisch wie der andere Mann auf dem Platz wird. Der hatte sich nur vorsichtig geäußert. Falls der Freundliche sie dagegen ausgehorcht haben sollte …?

Dragon nimmt seine Hand von ihrem Mund, fordert aber gleichzeitig durch Gesten, ruhig zu bleiben. Der Hufschlag hat ausgesetzt. Sollten die Reiter schon weiter weg sein? Runa hat nicht genau darauf geachtet. Sie verändert die unbequeme Lage etwas, doch sie bleibt dicht an die Böschung gedrückt. Der Junge nickt ihr zu und deutet mit Zeigefinger und Daumen ein ok an.

Das Mädchen fasst mit ihrer rechten Hand an den linken Unterarm. Dort ist nicht das manchmal auftauchende warme Gefühl, sondern ein kaltes, leicht schmerzhaftes Kribbeln zu spüren. Es gleicht dem Empfinden, wenn tausend Stecknadeln gleichzeitig hineingedrückt werden würden. Wird das durch ihre aktuelle Lage verursacht? Es könnte sein, dass ihr Arm bis soeben gequetscht und der Blutkreislauf abgedrückt war. Dann würde das jetzt ungehindert strömende Blut dafür verantwortlich sein. Passt das zu einem Gefühl der Kälte, oder ist das auszuschließen? Runa legt die Stirn in Falten. Sie weiß nicht, wie sie das sonst erklären sollte. Dragon hat ihre Bewegung genauestens verfolgt. Er hält sich bereit, ihren Mund erneut zu verschließen, falls sie etwas sagen, womöglich sogar schreien möchte.

»Wo steckt das Mädchen?« Die Frage wird nur leise gestellt, trotzdem hören die zwei in ihrem Versteck sie deutlich. Ein kribbelnder Schauer läuft Runa den Rücken hinab.

»Ich meinte, vorhin eine Bewegung gesehen zu haben. Das muss genau hier gewesen sein.« Die Stimme kommt von einem anderen Mann.

»Bist du sicher? Mir ist nichts aufgefallen«, antwortet ein dritter. »Du könntest das auch mit Krähen verwechselt haben. Die suchen überall am Wegrand nach Nahrung. Sie durchwühlen mit Vorliebe die Pferdeäpfel, wie du hinter uns sehen kannst.«

»Nein, ich irre mich nicht. Lasst uns absteigen und auf beiden Seiten im Graben nachsehen!« Die Pferde schnauben und das Knarren der Sättel verheißt nichts Gutes. Schritte nähern sich. Dragon und Runa drücken sich so tief wie möglich in den Bewuchs der Böschung.

»Hier sind Spuren im Gras!« Das erklingt nicht von dort, wo sie die Straße verlassen haben, doch höchstens wenige Meter entfernt.

»In diesem Graben auch!« Die Stimme ist leiser, kommt demnach von der anderen Seite.

Zeitgleich mit einem Platschen ertönt ein lauter Fluch. Der stammt von einem der Reiter, der das Nass unter dem hohen Gras übersehen hat. Jetzt erklingt das aufgeregte Kreischen eines Fasans, der sich offenbar dort im Grün verborgen hatte. Das ist keine zehn Meter von ihnen entfernt. Gleichzeitig tritt der Vogel seine Flucht nach oben an und landet kurz darauf dicht vor den Versteckten. Das Tier bemerkt sie sofort und flattert erneut erschrocken hoch. Das schön gezeichnete Gefieder schillert in den frühen Sonnenstrahlen und Wassertropfen fallen glitzernd von dessen Füßen herab. Hoffentlich schreibt keiner der Reiter dem Verhalten des Tiers eine größere Bedeutung zu!

»Hast du jetzt den Grund für deine Beobachtung entdeckt?« Die lachende Stimme gehört dem dritten Mann. Er hat den Sattel offenbar nicht verlassen. Runa stellt überrascht fest, dass die Sprechweise sie an Gwydion erinnert. Der wollte sie nach dem Vorfall vor dem Rathaus in Homarket festnehmen, als sie das Leben Brendans gerettet hatte. Sie weiß wegen ihrer Erkundigungen, dass er Wachtmeister und ein Vertrauter Owains ist. Das seltsame Gefühl, seine Stimme zu kennen, hatte sie bereits vorhin gehabt, jedoch nicht weiter beachtet. Sollten die Reiter unter seiner Leitung nach ihr suchen? »Lasst uns weiterreiten!«, fordert er sofort darauf.

»Ich hatte recht«, murrt der Mann im Graben und kommt näher. Er will offenbar die Böschung schräg hinaufgehen. Hoffentlich erblickt er die Versteckten nicht zufällig. Doch die Gefahr geht vorüber. Die Sättel knarren, als sich die Reiter hineinschwingen. Sie schnalzen mit der Zunge und die Pferde setzen sich in Bewegung. Der trommelnde Hufschlag des Galopps entfernt sich schnell.

Runa und Dragon atmen auf. Sie warten vorsichtshalber noch einige Minuten, bevor sie die Böschung hinaufkrabbeln. Erst nachdem sie sich überzeugt haben, dass weit und breit kein Reiter zu sehen ist, richten sie sich erleichtert auf.

»Danke!« Das Mädchen weiß, nur das feine Gehör des Jungen hat sie davor bewahrt, gefangen zu werden. Es kennt zwar nicht den Grund, weshalb die Reiter nach ihm suchen. Dass sie es tun, ist ohne jeden Zweifel aus dem Gehörten zu folgern.

Der Elfenwald

Noch bevor die Wanderer den Waldsaum erreichen, zieht dichter Nebel herauf. Runa drängt trotzdem, schneller zu laufen. Auch wenn sie nicht viel sehen können, eine Kutsche oder einen Reiter müssten sie frühzeitig hören. Dann käme ihnen der Dunst sogar zu Hilfe, da sie von Weitem nicht auszumachen sind. Und sie hätten Zeit, sich ein Versteck zu suchen. Das Ereignis mit den Berittenen hat dafür gesorgt, dass das Mädchen die ersten Kilometer mit klopfendem Herzen zurücklegt. In dem Moment, als es sich langsam beruhigt, zieht plötzlich Nebel aus den umliegenden Wiesen auf. Es wirkt auf sie nicht bedrohlich, auch wenn das zu dieser Jahreszeit außergewöhnlich ist. Dragons Verhalten verwirrt sie dagegen mehr. Der Junge bleibt alle paar Schritte stehen und schnüffelt. Warum macht er das? Runa wundert sich. Sie zieht ebenfalls prüfend die Luft ein. Jedoch leise, damit er sich nicht von ihr nachgeahmt und womöglich veralbert fühlt. Aber sie kann nicht die geringste Spur eines Geruchs erkennen. Lediglich die Zusammensetzung irritiert sie. Nebel besteht eigentlich aus Millionen feinster Wassertröpfchen, doch die scheint es nicht zu geben. Der Dunst wirkt seltsam trocken!

»Was ist los?«, fragt sie. Die Worte flüstert sie nur und wird in ihrem vorsichtigen Verhalten sogleich bestätigt.

»Zaubernebel!« Dragon hält einen Finger vor den Mund. Als Runa nachfragen will, schüttelt er schnell aber stumm den Kopf. Das Mädchen begreift sofort, es soll nicht sprechen. Dessen Gedanken kreisen umso heftiger.

Was meint Dragon mit Zaubernebel? Ist der Dunst durch einen Zauber hervorgerufen worden? Weshalb soll sie dann nicht reden? Werden ihre Stimmen nicht wie sonst durch den Nebel gedämpft, sondern bis zu dem Magier getragen, der ihn heraufbeschworen hat? Obwohl ihr Begleiter davon überzeugt zu sein scheint, bezweifelt das Mädchen das. Seit wann existieren denn in diesem Land Zauberer? Die kommen höchsten in Geschichten vor, oder nicht? Runa ist plötzlich unsicher. Sie denkt daran, was in dem Buch »Insel der Drachen« geschrieben steht. Wenn das der Wahrheit entspricht, gibt es überall Magier. Diese sind nicht immer den »normalen« Menschen wohlgesonnen. Manche von ihnen sind böse und streben nach der alleinigen Herrschaft über alle Wesen. Sie fasst für sich den Kern des Buches zusammen, während ihre Schritte unablässig nach vorn gerichtet sind.

»Auf der Insel lebten ehemals unzählige Drachen. Daher stammte auch ihre Bezeichnung. Die meisten dieser Wesen unterstützten die Elfen im Kampf gegen deren Feinde. In einem ersten Aufstand der Schwarzmagier, das sind böse Zauberer der Menschen, wollten diese die regierenden Königshäuser von Elduria und Merion vernichten. Das schlug fehl, weil die Landesfürsten Unterstützung von den Elfen und mit ihnen verbündeten Drachen bekamen.

Die bösen Magier konzentrierten daraufhin ihre Bemühungen gegen die Elfen. In den folgenden Auseinandersetzungen wurden viele der eigentlich friedliebenden Wesen getötet. Die Überlebenden zogen sich in Wälder in den verschiedenen Landesteilen zurück, die sie mit Zaubersprüchen vor Feinden schützten.

Zuvor übertrugen sie Zauberkräfte auf die meisten der Lindwürmer, die die Kämpfe gegen die dunklen Magier überlebt hatten. Sie sollten dadurch in die Lage versetzt werden, erste Angriffe der Schwarzmagier auf die Menschen zurückzuschlagen. Gleichzeitig hatten sie dadurch die Möglichkeit, über Gedankenverbindung Unterstützung durch die Elfen herbeizurufen.

Doch die ausgewählten Drachen verwandelten sich durch die Magie in deren erbitterte Gegner. Sie griffen sogar die wenigen nichtmagischen Brüder und Schwestern an, die den Elfen wie zuvor beistehen wollten. Der Anführer im nördlichen geheimen Wald vermutete, dass bei der Übertragung der magischen Kräfte etwas schiefgelaufen war. Doch das konnte nicht verhindern, dass sämtliche Drachen der Insel getötet wurden. Und auch von den Elfen sind nicht mehr viele am Leben.«

Runa hat in dem Buch keine Information darüber gefunden, wo diese Insel liegen soll. Über die Verluste der mit Magie ausgestatteten Lindwürmer wird nichts berichtet. Ob sie möglicherweise alle ausgerottet wurden oder sich auf die Insel zurückgezogen haben? Die Menschen in Homarket haben nie über Zauberer, Elfen und Drachen geredet. Vermutlich liegt das Geschehen schon viele Jahre zurück und ist darum aus ihrem Gedächtnis gelöscht. – Na, wohl nicht ganz. Das kleine Mädchen schien sich unbewusst vor Drachen zu fürchten. Sogar so heftig, dass es den Tod der Eidechse forderte.

Runa wird unsanft aus ihren Gedanken gerissen. Dragon hatte ihre Hand ergriffen und sie durch den Nebel geführt. Jetzt ist er unerwartet stehengeblieben. Sie stolpert gegen ihn. Nur mit Mühe unterdrückt sie einen Ausruf. Sie erinnert sich sofort an die Geste des Jungen und das Wort Zaubernebel. Doch der ist vor ihnen verschwunden. Der Dunst hat sich verzogen!

Dragon lächelt sie an und beantwortet ihre unausgesprochene Frage.

»Dunkle Zauber haben im Elfenwald keine Macht! Gehe nur einen Schritt unter das schützende Blätterdach dieser riesigen Buchen, und wir sind in Sicherheit!«

»Warum bleibst du dann hier stehen?«, will sie fragen, als ein heulender Ton immer lauter wird. Sie dreht sich erschrocken um und sieht, dass sich der Nebel direkt hinter ihr befindet. Sie meint, ihren Augen nicht trauen zu können. Der Dunst verdichtet sich und formt eine gewaltige Hand. Deren Finger öffnen sich und greifen nach ihnen.

»Mach schnell!«, fordert der Junge.

Runa weiß jedoch nicht, worauf er hinauswill.

»Was denn? Geh doch weiter!«

»Das geht nicht. Du musst vorausgehen und mich hineinführen. So, wie ich das im Nebel mit dir gemacht habe!«

Das Mädchen kraust die Stirn. Will er sie jetzt veralbern? Was soll an dem weißen Dunst schon gefährlich sein. Der wirkt zwar nicht wie ein normaler Nebel, weil er sich nicht so feucht anfühlt. Aber stellt er deshalb gleich eine Bedrohung dar? Dass er eine bestimmte Form annimmt, so wie diese Hand, ist andererseits schon seltsam. Welcher Windhauch sollte das verursachen? Daumen und Zeigefinger umfassen jetzt Runa und versuchen, sie zurückzuzerren. Sie spürt deren Druck, der eindeutig real ist. Doch Dragon hält dagegen. Er stößt einen drohenden Knurrlaut aus und zieht das Mädchen mit einem gewaltigen Ruck dicht neben sich.

»Jetzt mach endlich. Den nächsten Angriff kann ich möglicherweise nicht abwehren.«

Runa zögert nicht mehr. Betrachtungen über Dunst und dessen Gefährlichkeit kann sie auch anstellen, wenn sich der verzogen hat. Sie macht einen Schritt auf den Waldboden und bleibt erstaunt stehen. Woher kommen plötzlich die vielen Vogelstimmen? Es klingt so, als wollten sie das Mädchen begrüßen. Der Boden ist mit unzähligen Buschwindröschen bedeckt und wirkt wie im Frühling.

»Dabei haben wir doch Sommer«, stellt sie voller Faszination fest.

»Du musst mich ziehen. – Nein, lauf nicht einfach los!« Dragons Stimme klingt drängend. Warum erkennt er denn nicht das Magische an dem Wald? Sie möchte nur ein oder zwei der Frühlingsblüher genauer betrachten. Hat er nicht selbst gesagt, dass dies ein Elfenwald ist? Dann ist er vermutlich verzaubert! Sie dreht sich zu dem Jungen zurück. Der kämpft offensichtlich mit der Nebelhand. Sie umschließt seine Beine und den Unterkörper. Während sie sich langsam nach oben schiebt, wird das Knurren aus Dragons Mund stärker. Aber das hält den Dunst nicht auf! »Runa, bitte!«

Was soll sie machen. Kann sie überhaupt etwas gegen diesen Zaubernebel ausrichten, der sich wie ein eigenständiges Wesen verhält? Kurzentschlossen macht sie die zwei Schritte zu dem Jungen zurück und will sich schon neben ihn stellen. Doch Dragon schüttelt den Kopf und hebt unter größter Anstrengung einen Arm, den er in ihre Richtung hält. »Ziehen!«, flüstert er mit schwacher Stimme. Runa weiß nicht weshalb, aber sie ahmt das Knurren des Jungen nach, greift seine Hand und zerrt daran. Ihre Kräfte sind offensichtlich zu gering, denn sie wird langsam zum Nebel hingezogen. Nur noch ein halber Schritt trennt sie von dem Gebiet vor dem Wald, wo Dragon steht. Was wird geschehen, wenn auch sie sich wieder dort befindet? Bisher konnten sie ungehindert hierher wandern. Warum soll das jetzt nicht mehr möglich oder sogar gefährlich sein?

»Zaubernebel!« Das hatte Dragon gesagt. Kann sie einen Gegenzauber sprechen? Sollte das Knurren ihres Gefährten genau das bewirken? Aber sie kennt keinen magischen Spruch. Zumal sie bisher nicht daran glaubte, dass es Magier in ihrer Welt gibt. Wenn das hier jedoch ein Elfenwald ist, existieren folglich auch Elfen. Dann könnte es genauso Zaubersprüche geben und Worte, die sie aufheben!

Während diese Gedanken in rasender Schnelle durch ihren Kopf jagen, stemmt sie sich mit aller Kraft gegen den unwiderstehlichen Drang, einfach nachzugeben. Warum nicht im Nebel von der Anstrengung ausruhen? Das wäre eine große Erleichterung. Ihre Anspannung lässt etwas nach. Dragon bemerkt das und schüttelt den Kopf. Runa schaut auf den Waldboden. Es trennt sie lediglich ein Viertelschritt vom Waldsaum. Wie kann sie gegen diese Zugkraft ankommen, was vermag zu helfen? – Magie! – Genau. Damit könnte es gelingen. Aber woher soll sie wissen, welchen Spruch sie anwenden muss.

»Abrakadabra« wirkt lediglich auf einer Bühne oder in Märchen, genauso wie »Simsalabim«. Hm. In dem Buch über die Dracheninsel gibt es einen Anhang, in dem Zaubersprüche aufgelistet sind. Ob die helfen könnten? Muss sie aber nicht zusätzlich magische Fähigkeiten besitzen?

Ein prüfender Blick zeigt, es trennt sie nur noch eine Handbreite von der Nebelwand! Dragon ist inzwischen komplett in den Dunst gehüllt.

»Jetzt mach schon, erinnere dich!«, ermahnt sich Runa. Ihre Augen gleiten in Gedanken die Liste nach unten. Dann stutzt sie. »Einen gesprochenen Zauber aufheben oder jemand anhalten, stoppen.« Sobald sie diese Zeile sieht, ist sie überzeugt, den notwendige Spruch gefunden zu haben! Obschon sie vor Anstrengung keuchen muss, bringt sie das magische Wort über ihre Lippen.

»Inhibeo, Inhibeo, INHIBEO!«, schreit sie. Doch der Erfolg bleibt aus. Warum klappt das nicht? »Weil du nicht zaubern kannst!«, schießt ihr die Antwort durch den Kopf. Das will und kann sie nicht akzeptieren. Es liegt vermutlich daran, dass sie den Zaubernebel nicht aufgerufen hat und ihn deshalb auch nicht beenden kann. Welcher Spruch könnte stattdessen helfen? Ihr Auge ist blicklos auf die drohende Gefahr gerichtet. Es trennt sie kaum ein Millimeter von dem Nebel. Sie durchforstet erneut die Liste der Zaubersprüche.

»Könnte eine Feuerzunge helfen, die in eine Zielrichtung geschickt wird?« Sie muss sich beeilen und besinnt sich nicht lange. Sie spricht das entsprechende Wort. »Lasair!« Doch auch das bleibt ohne Erfolg. Das könnte daran liegen, dass sie nicht auf den Nebel zeigen kann. Ihr linker Fuß hat die Linie bereits überschritten und Runa merkt, wie ihre Kräfte erlahmen. Der zweite Fuß rutscht über den Waldboden, dessen erdiger Geruch in ihre Nase steigt. Bei ihrer Suche nach Atropaia hat sie das nicht bemerkt. Da regnete es schließlich wie aus Kannen.

»Ich hab’s«, jubelt sie auf. »Regen! Am Ende der Liste, in der letzten Zeile, steht doch ein Spruch, mit dem Regen aufgerufen oder ein Schwall Wasser auf ein Ziel geschickt werden kann.« In diesem Moment rutscht der zweite Fuß über den Waldrand hinaus. Noch im Vorwärtsstolpern brüllt das Mädchen laut: »Uisge!« Das Wort wiederholt es immer wieder und stoppt auch nicht, als es bereits bis auf die Haut durchnässt ist.

»Es ist genug!« Dragon blickt sie erleichtert und ernst an. Runa lacht befreit, vermag es offensichtlich nicht zu stoppen. Sie tanzt sogar etwas in dem immer noch fallenden Regen und patscht wie ein Kleinkind durch die sich bildenden Pfützen. Muss sich der Junge Sorgen machen, dass sie verrückt geworden ist? Dass sie zaubern kann, wusste er bisher nicht. Ganz sicher ist er jedoch nicht. Weshalb schaute sie ihn sonst so an, als durchschaue sie ihn? Er wischt die Gedanken beiseite. Das zu klären hat noch Zeit. »Du musst mich in den Elfenwald ziehen«, fordert er eindringlich. »Irgendein Magier steckt hinter dem Nebel. Und das ist sicher keiner, der dir Gutes tun will! Er wird inzwischen wissen, dass sein Versuch, dich festzuhalten, fehlgeschlagen ist. Entweder er versucht etwas anderes, oder die drei Reiter erscheinen in Kürze hier. Wenn wir erst im Wald verschwunden sind, werden sie unserer Spur nicht mehr folgen können. Der Regen wird sie fortgewaschen haben.«

»Dann komm mit mir. Du siehst doch, der Schritt über die Waldgrenze ist ganz leicht.« Runa macht einen und schaut auffordernd zu ihm zurück.

»Aber nicht für mich. – Ich erkläre es dir später. Jetzt mach schon!« Der Junge hebt seinen Arm Richtung Mädchen. Bis in den Bereich der Bäume kommt er nicht. Runa blickt ihn verständnislos an. Doch endlich erfasst sie seine Hand und führt ihn über die unsichtbare Grenze in den Wald.

Die Vogelstimmen verstummen, dafür sind ein Raunen und Ächzen zu hören, das vorhin noch nicht vorhanden waren. Ein heftiger Wind faucht durch die Zweige der großen Bäume und schüttelt sie. Haare wirbeln durcheinander. Hellgrüne Blätter werden abgestreift und segeln zu Boden. Sobald Runa und Dragon einen weiteren Schritt machen, verstummen die Geräusche und der Wind legt sich so schlagartig, wie er gekommen ist.

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