Читать книгу: «Elduria - Runa oder das Erwachen», страница 2

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Ein Missgeschick

Runa hat von Pulmoria den Auftrag bekommen, auf dem Markt frisches Gemüse und möglichst ein oder zwei Bund rote Zwiebeln zu kaufen. Die Köchin will für das Mittagessen ein bei den Gästen des Wirtshauses beliebtes Gericht bereiten. Was es ist, hat sie dem Mädchen nicht verraten, obwohl dieses etwas ahnt. Mit dem großen Korb am Arm läuft es Richtung Zentrum des Örtchens. Es beeilt sich, weil die Luft noch kühl und die Sonne soeben erst aufgegangen ist. Runa weiß aus Erfahrung, mit Bewegung wird ihr schnell warm werden. Die Straße führt nicht besonders steil den Hügel hinab, trotzdem wird sie den Weg zum Markt leichter hinter sich bringen. Auf dem Rückweg wird sie dagegen nicht mehr hüpfend unterwegs sein, was nicht nur an dem dann gefüllten Korb liegen wird.

Runa erinnert sich plötzlich an den Morgen, an dem sie vor sieben Jahren kaum in der Lage war, dem Straßenverlauf nach Homarket zu folgen, obwohl die größte Strecke hangabwärts verlief. Lediglich das letzte Stück führte wieder aufwärts. Heute wird sie sich nicht so quälen müssen. Sie wischt die Erinnerung fort und wirft einen Blick in die Runde. Runa findet diese Region mit der hügeligen Landschaft heimelig. Sie wirkt ganz anders als das Waldgebiet, in dem Paias Häuschen steht. Dort ist für die ersten Jahre ihre Heimat gewesen. Das Haus steht auf einer großen Lichtung, doch der umliegende Wald erschien ihr seltsam bedrohlich. Das lag nicht an den Bäumen an sich, sondern mehr an den unbekannten Geräuschen, die daraus zu ihr herüberklangen. Dass der dichte Forst einen nicht zu verachtenden Schutz für sie und ihre Amme bot, wird sie noch verstehen lernen. Im Nachhinein wundert sie sich, dort nie ungezwungen mit fremden Kindern in Kontakt gekommen zu sein.

Es ist nicht so, dass sie in Homarket viel Zeit ohne Arbeit verbringen konnte. Bevor sie ihre Ausbildung zur Hilfsköchin begann, musste sie von morgens bis abends Tätigkeiten im Haus verrichten. Sollte sie damit fertig gewesen sein, und draußen herrschte noch einigermaßen helles Licht, durfte sie mit anderen Kindern spielen. Doch das war eher selten der Fall. Außerdem rümpften die Mädchen der Nachbarschaft gerne ihre Nasen, sobald Runa in ihre Nähe kam. Es lag keinesfalls daran, dass sie sich nicht wusch oder schmutzige Kleidung trug, sie war sauberer als die meisten von ihnen. Nein, der Grund war einfach, dass sie arbeiten musste, um im Wirtshaus geduldet zu werden. Die Nachbarkinder konnten dagegen von früh bis spät spielen. Ihr Arbeitsleben begann erst, als sie das zehnte Lebensjahr vollendet hatten.

Da Runa sozusagen nichts anderes kennengelernt hatte, war sie über die wenigen arbeitsfreien Momente froh. Dazu zählte sie auch die Aufgabe, Besorgungen auf dem Markt zu erledigen. Genaugenommen hatte sie dabei nicht frei, doch ihre für den Einkauf benötigte Zeit ließ sich nur grob kontrollieren. Deshalb rannte sie meistens auf dem Weg den Hügel hinab, obwohl sie damit Gefahr lief, zu stolpern. Mit zwölf Jahren geschah das zwar nicht so schnell wie mit fünf, aber es ist nicht unmöglich. Und genau das passiert jetzt.

Runas Kopf fährt nach links, als aus einer Seitenstraße lautes Kreischen zu ihr herüberschallt. Sie wendet ihren Blick dorthin. Befindet sich ein Mädchen in Gefahr? So hört es sich jedenfalls an. Ihre suchenden Augen entdecken ein kleineres Kind, das mit von sich gestreckter Hand auf etwas deutet. Das ist der Augenblick, in dem Runa völlig unerwartet ins Straucheln gerät. Hätte sie nach vorn geschaut, wären ihr die ausgestreckten Beine eines Bettlers aufgefallen, der in zerlumpter Kleidung am Straßenrand sitzt. Dessen erboster Ausruf mischt sich mit ihrem kurzen Wehklagen, denn sie ist mit den Knien aufgeschlagen.

»Kannst du nicht aufpassen, wohin du trittst? Dummes Balg!«

Runa reibt sich die Knie. Es sieht nicht so aus, dass sie sich etwas gebrochen hat, und die Haut ist zum Glück auch nicht abgeschürft. Der leichte Schmerz der Prellung wird vermutlich bald vergessen sein.

»Entschuldigung. Ich war abgelenkt.« Sie richtet sich auf. »Kann ich helfen?« Sie hat das erbettelte Geld bemerkt, das um den Almosensammler herum verstreut liegt. Sofort beginnt sie, es aufzulesen.

»Untersteh‘ dich, davon etwas zu behalten!«

Runa blickt zweifelnd zum Bettler. Sie ist überzeugt, die Stimme bereits einmal gehört zu haben. Wie zur Bestätigung kriechen einige Strähnen von kupferroten Haaren unter einem schäbigen Tuch hervor, das um den Kopf geschlungen ist.

Im ersten Moment will sie erbost erwidern: »Wieso sollte ich dir Geld klauen, Katie? Du hast es sicher unter falschem Anschein erbettelt. Oder konntest du ein Kind verkaufen?« Doch das verkneift sie sich. Es ist offensichtlich, die inzwischen junge Frau hat sie nicht wiedererkannt. Da ist es besser, es bleibt so. Anstatt weiterzusuchen, wirft sie Katie die aufgeklaubten Geldstücke in den Schoß.

»Ich könnte genauso gut sagen, du bist selbst schuld! Warum setzt du dich auch an diese Stelle, an der viele Leute vorbeimüssen?«

Der Kopf der Bettlerin ruckt in die Höhe. Sollte sie Runa trotz ihres inzwischen veränderten Äußeren doch erkannt haben? Nein. Es ist vielmehr so, dass sie nicht mit dieser Entgegnung gerechnet hat. Ihre Augen schleudern Blitze, aber sie zögert, sich zu erheben. Dann würde den Umstehenden klar werden, dass ihre lahmen Beine nur vorgetäuscht sind. Stattdessen versucht sie, mit einer der zwei Krücken nach dem Mädchen zu schlagen. Doch das weicht geschickt aus und hebt seelenruhig seinen Korb auf. Dann geht es langsam einige Schritte zurück. Runa beachtet die am Boden Sitzende nicht mehr, sondern läuft in die Straße hinein, aus der das Kreischen erklungen war. Sie hofft, dass ihre Hilfe dort willkommener ist.

Inzwischen stehen drei Knaben neben dem Mädchen, das vorhin so heftig geschrien hat. Sie reden auf das Kind ein, das nur wenige Jahre jünger als Runa zu sein scheint. Ihre geringere Körpergröße deutet jedenfalls darauf hin. Doch es lässt sich offenbar nicht beruhigen.

»Nein, das ist ein Drache. Macht ihn tot!«

»Die gibt es aber nicht!«

»Und wenn, müsste er riesengroß sein.«

»Flügel sind auch nicht zu sehen. – Das kann kein Lindwurm sein.«

»Das ist egal!«, beharrt die Kleine. »Macht ihn tot! Schlagt mit einem Stock drauf.«

Jetzt mischt sich Runa ein. An manchen Abenden hat sie in Büchern gelesen, die sie aus der kleinen Sammlung der Wirtin ausleihen durfte.

»Wenn du meinst, ein Drache wäre mit einem Stock zu erschlagen, dann versuche es nur selbst. Denke aber daran, dass diese Wesen Feuer spucken können. Sollte der Lindwurm deine Absicht bemerken, wird er dir eine Feuersbrunst entgegenschleudern. Falls wir Pech haben, könnte er aus Rache vermutlich anschließend den gesamten Ort zerstören und auch uns töten. Willst du das?«

Weit aufgerissene Augen starren sie an.

»Aber …«, das Kind schluckt heftig, »… ich habe Angst!«

»Das kann ich verstehen. Ich fürchte mich auch manchmal. Besonders dann, wenn ich unerwartet einem gruselig aussehenden Tier begegne. Findest du diese Eidechse denn beängstigend?«

Das Kind nickt heftig.

»Es ist genau genommen eine Zauneidechse«, erklärt einer der Jungen. »Wenn man sie zu fangen versucht und erwischt sie am Schwanz, werfen sie den ab. Das machen sie, um ihr Leben zu retten. Sollte ein Vogel sie dort packen, können sie immer noch fortlaufen.«

Das kleinere Mädchen blickt erstaunt.

»Holt sie sich das Hinterteil später wieder, oder was geschieht damit?«

»Nein, das bleibt für immer ab. Die Eidechse benötigt anschließend viel Energie, um einen neuen Schwanz wachsen zu lassen. Aber das passiert.«

Das Kind hüpft aufgeregt und klatscht in die Hände.

»Dann pack sie am Hinterteil. Aus dem abgeworfenen Ende könnte ich mir eine Brosche anfertigen lassen. Sie glitzert so schön, als wären lauter Edelsteine auf der Haut verteilt.«

Runa fasst es nicht. Das Mädchen fordert aus Angst vor einem ihm unbekannten Wesen andere auf, es zu töten. Und jetzt sieht es darin die Möglichkeit, sich mit dessen Schönheit zu schmücken.

»Das werdet ihr bleiben lassen!«, herrscht sie die Jungen an, die bereits einen Schritt auf den Granitbrocken zu machen, auf dem die Zauneidechse hockt. Sie blitzt sie wütend an und stemmt die Fäuste in die Seiten. Aus dem Augenwinkel bemerkt sie, wie das kleine Tierchen in ihre Richtung schaut. Sie zuckt zusammen, als gleichzeitig der linke Unterarm warm wird und ihr ein Schauer über den Rücken rieselt. Warum erinnert sie das an Dragon? Dieses Mal greift sie nicht mit ihrer rechten Hand zum anderen Arm. Sie will ihre drohende Haltung nicht aufgeben. Die Jungen haben offenbar nicht damit gerechnet, dass sie sich zum Beschützer des Tierchens aufwirft. Sie murren, scharren mit den Füßen und drehen sich schließlich um. Im Weggehen knurrt einer von ihnen.

»Du willst dir den Schwanz wohl selbst …« Weiter kommt er nicht, denn Runa macht einen schnellen Schritt in seine Richtung. Sofort flüchtet er die Straße entlang, begleitet von den anderen. Das kleinere Mädchen steht immer noch neben dem großen Stein. Dessen Miene wirkt verschmitzt.

»Du willst dich selbst mit diesem glitzernden Teil schmücken, stimmt‘s?« Es plappert die Vermutung des Jungen nach. Es hat nicht erkannt, dass das keinesfalls Runas Absicht ist.

»Hau bloß ab!«, knurrt diese und hockt sich vor den Stein. Sie beobachtet fasziniert, dass sich das Tierchen von der Sonne wärmen lässt. Es bietet den Sonnenstrahlen den gesamten Körper. Sie weiß, dieses kleine Reptil bedarf der Zufuhr von Wärme, da es die nicht selbst erzeugen kann. Um aktiv sein und Beute fangen zu können, benötigt es genügend Beweglichkeit. Und die steigt mit zunehmender Wärmeaufnahme. Runa ist mit ihren Augen auf gleicher Höhe mit der Eidechse. Bei genauerem Betrachten wirkt diese tatsächlich fast wie ein Drache. Jedenfalls so, wie man sich diese Wesen vorstellt. Den Vergleich zu einem echten kann das Mädchen nicht anstellen, es hat noch nie einen gesehen.

Das Tierchen scheint seinerseits Runa genau zu fixieren. Es wendet den Kopf, so dass diese eines der gelblichbraunen Augen betrachten kann. Die dunkel wirkende Pupille ist weit geöffnet. Das Mädchen hat für einen kurzen Augenblick das Gefühl, als würde sie darin hineingesaugt werden. Es erblickt eine rötlichgelbe Flamme, die schneller größer wird.

Bevor das Feuer alles umhüllt, richtet sich Runa erschrocken auf. Die Turmuhr am Markt schlägt. Sie muss sich beeilen, wenn sie noch einigermaßen pünktlich zurück im Gasthaus sein will. Sie blickt kurz zum Granitbrocken zurück, doch die Eidechse ist verschwunden. Ihre plötzliche Bewegung hat das Tierchen offenbar verschreckt.

Das zweite Gesicht

Runa weiß nicht, weshalb ihr ab und zu unerklärliche Dinge widerfahren. Warum wiederholen sich manche Ereignisse, andere wiederum nicht?

Seit sie in die Augen der Eidechse geschaut hat, tauchen seltsame Bilder in ihrem Kopf auf. Sie zeigen Gewalt gegen Menschen, die ihr unbekannt sind. Die Örtlichkeiten, an denen die Szenen stattfinden, kennt sie genauso wenig. Sie wagt es nicht, darüber mit Pulmoria oder anderen zu reden. Auch wenn sie bereits lange im Gasthaus »Fuchs und Gans« lebt, fühlt sie nicht die gleiche Nähe und Vertrautheit zu dessen Bewohnern wie früher zur Amme. Sie befürchtet, von ihnen womöglich als Magierin bezeichnet zu werden und anschließend auf dem Scheiterhaufen zu landen.

Runa hat in Kaytlins Büchern von Hexen und Zauberern gelesen, und wie manche Menschen auf sie reagieren. Da die Wirtin nie Zeit hatte, mit dem Mädchen über das Geschriebene zu reden, weiß es nicht, ob das Tatsachenberichte oder Fantasie-Geschichten, also Märchen sind. Darin wird nicht nur von Elfen und Zauberern berichtet, sondern auch von Drachen und

Magiern.

Runa grübelt. Es heißt doch, Märchen hätten meist einen wahren Kern! Sollte sie demnach über schwache magische Kräfte verfügen? Woher sie die haben kann, ist ihr unerklärlich. Sie schlussfolgert trotzdem, so etwas wie das zweite Gesicht zu haben. Dieser Gedanke klingt so abwegig, dass sie ihn stets aus dem Kopf drängt, sobald er sich hervorwagt. Sie könnte die Wiederholung mancher Bilder auch einfach deshalb sehen, weil sie tatsächlich noch einmal stattfinden. Nach Tagen wäre es durch eine Doppelung der Ereignisse erklärbar, aber ist das innerhalb weniger Augenblicke möglich? Dann müsste der zeitliche Ablauf doch durch irgendetwas ins Stolpern geraten oder so ähnlich. Das ist zumindest Runas Erklärung.

Sie vermag Sekunden in die Zukunft zu schauen, das hat sie inzwischen herausbekommen. Warum das manchmal so ist, ein anderes Mal wiederum nicht, versteht sie nicht. Sie wagt nicht, darüber mit irgendjemand zu diskutieren. Sie wüsste auch nicht, an wen sie sich damit wenden sollte. Pulmoria interessieren keine anderen Themen als Rezepte für ausgefallene Gerichte. Und Dragon? Bei dem Jungen ist Runa unsicher. Er scheint ihr manchmal helfen zu wollen, reagiert auf Fragen dann wiederum mehr als verschlossen.

Die Wirtin Kaytlin wäre noch eine Möglichkeit. Sie hat das Mädchen kurzentschlossen aus den Fängen der Strauchdiebe befreit. Aber ist das ein Beweis, dass sie mit ihr über derart gefährliche Angelegenheiten diskutieren kann? Manchmal hat sie das Gefühl, für die Wirtin so etwas wie eine Tochter zu sein. Sie hatte beispielsweise völlig unerwartet ein Geschenk zu Runas Geburtstag. Es war eines ihrer Bücher.

Der Kohlelieferant kommt genauso wenig infrage wie andere Lieferanten des Wirtshauses. Und die Kinder der Nachbarschaft? Nein, die hielten sich schon immer möglichst weit entfernt von ihr, wenn sie einmal mit ihnen spielen durfte. Fragen zu magischen Kräften und derartige Themen werden von dem Mädchen zwar erörtert, aber stets mit sich selbst.

Runa ist an diesem Morgen schon früh auf dem Weg ins Rathaus, das wie eine kleinere Ausgabe einer Burg wirkt. Sie soll dort im Auftrag der Wirtin eine Bescheinigung abholen. Sie erklimmt die Stufen zum Eingangsportal, als vor ihr feiner Sand und kleinere Bruchstücke vom Himmel auf das Podest vor dem Eingang fallen, kurz bevor ihnen ein großer Sandstein folgt. Er sieht aus wie eine der Zinnen. Warum der aus der Mauerkrone zu Boden fällt, wo er seit der Erbauung des Gebäudes sicher platziert war, ist ein Rätsel. Doch zu dessen Lösung hat das Mädchen keine Zeit, als sie einen Jüngling aus der Eichentür herauskommen sieht. Er ist einige Jahre älter als Runa und trägt teure Kleidung. Sie bemerkt verwundert, dass der Steinblock dort nicht mehr liegt, wohin er soeben gefallen ist. Sie schaut nach oben. Von den Zinnen rieseln erneut feiner Sand und kleinere Steinchen herab, nur dass sie dieses Mal direkt neben dem Untenstehenden auf dem Boden landen. Der beachtet das nicht, weil er soeben von hinten angesprochen wird und sich zum Sprecher im Inneren umdreht. Instinktiv gibt Runa einen lauten Warnruf von sich, stürmt vorwärts und stößt den jungen Mann zurück. Sie bemerkt den starken Luftzug, als direkt hinter ihr der schwere Steinquader auf den Boden kracht. Das Poltern und die Erschütterung lassen die auf dem Marktplatz vor dem Rathaus Anwesenden verstummen. Runa wischt sich hektisch den Staub aus den Augen. Konnte sie den Jüngling retten? Bis auf den ersten Überraschungsruf hört sie nichts von ihm. Ihre Knie und eine Schulter schmerzen. Sie muss sich dort beim Sturz auf den Untergrund verletzt haben. Doch das ist unwichtig! Bevor sie etwas zu sehen vermag, die Augen tränen vom eingedrungenen Staub, wird sie brutal hochgerissen.

»Wie kannst du die Frechheit besitzen und es wagen …? Weißt du nicht, dass es ein Verbrechen ist, Syr Brendan, den Sohn Owains, zu berühren? Und du wirfst ihn sogar um. Schau nur, wie du seine Kleidung ruiniert hast. Wachen, herbei!«

Runa erstarrt und hält den Atem an. Der Name Owain weckt eine verschüttete Erinnerung in ihr. Hieß so nicht der Befehlshaber der Männer, die Atropaia gefangen genommen und entführt haben? Sie bekommt heftiges Herzklopfen und ein Gefühl von Atemnot. Sollte sie endlich, nach sieben Jahren, die Spur zur Amme wiedergefunden haben? Das mag sie kaum glauben. Wenn der Sohn dieses Mannes hier ist, müsste Owain vermutlich auch hin und wieder hier sein. Warum sollte er ihr dann nicht aufgefallen sein? Sie ist in den vielen Jahren des Öfteren auf dem Markt gewesen, da hätte sie ihn doch wenigstens einmal sehen müssen!

Sie wird unsanft aus ihren Grübeleien gerissen, als sie von starken Fäusten gepackt und Richtung Eingang gestoßen wird.

»Bringt sie in den Kerker. Ich werde mich später um sie kümmern! Jetzt ist zu allererst der Zustand von Owains Sohn wichtiger!« Das spricht die gleiche Stimme wie eben, doch Runa vermag sie keinem Gesicht zuzuordnen. Kann das der Anführer der Männer von damals sein? So wie der letzte Satz formuliert wurde, vermutlich nicht. Selbst wenn sie es schaffen könnte, sich zum Sprecher umzudrehen, würde das nichts bringen. Ihre Augen tränen unablässig und verhindern einen klaren Blick. Sie auszuwischen vermag sie nicht. Ihre Arme und Hände werden von starken Fäusten festgehalten.

»Hoher Herr«, wagt sie, mit zitternder Stimme einzuwenden. »Ich wollte dem Jungen doch nichts Böses!«

»Du wagst es, ihn so zu nennen? Er muss von Normalsterblichen mit »Syr« und vollem Namen angeredet oder benannt werden. Und der lautet Brendan ap Owain. Für deine Ungebührlichkeit wirst du zehn Peitschenhiebe bekommen!«

Runa wird bereits vorwärtsgestoßen, als sich der junge Mann zu Wort meldet.

»Einen Moment, Gwydion. Du tust dem Kind Unrecht! Ich verdanke ihm vermutlich mein Leben. Schau nur, dieser mächtige Brocken ist von oben herabgefallen und dies Mädchen hat mich aus der Gefahrenzone gestoßen.« Er wendet sich ihr lächelnd zu. »Ich danke dir. Gibt es irgendeinen Wunsch, den ich dir erfüllen kann?«

Runa überlegt. Soll sie einem ersten Impuls folgen und nach Atropaia fragen? Könnte das erfolgversprechend sein? Ihr fällt in diesem Moment auf, dass er nicht sie anblickt, sondern auf ihr S-förmiges Mal starrt. Durch die rüde Behandlung der Wachen war der Ärmel heraufgerutscht und hatte es freigelegt. Sein starrer Blick lässt sie unwillkürlich von der Frage absehen.

»Nein. Ich freue mich, dir geholfen zu haben.« Das scharfe Einziehen der Luft kommt von Gwydion. Bevor der etwas zu äußern vermag, verbessert sich Runa. »Verzeihung. Ich wollte natürlich »Syr« sagen, Brendan ap Owain.«

Beim glockenhellen Lachen des jungen Mannes entspannt sich das Mädchen. Die Tränen haben den letzten reizenden Staub aus Runas Augen gespült. Deshalb erkennt sie, wie er sie mit gekrauster Stirn mustert. Bei seinen folgenden Worten verkrampfen sich sofort ihre sämtlichen Muskeln.

»Also ist dir mein Leben nichts wert, oder wie soll ich das sonst deuten?«

»So ist das nicht gemeint, Syr. Ich habe lediglich schnell helfen wollen und erwartete keine Gegenleistung.« Wird sie jetzt doch noch in den Kerker geworfen? Nicht, weil sie diesen hochnäsigen Sohn des Mannes gestoßen hatte, der ihre Amme entführen ließ. Sondern, aus dem nichtigen Grund, dass sie von ihm kein großes Geschenk fordert?

»Aha, dann nimm zum Dank dieses Silberstück.« Er nestelt mit hochgezogenen Augenbrauen und lächelnder Miene an seiner Geldbörse herum und reicht ihr das angekündigte Geldstück. Runa vermag nur mit Mühe die Frage zu unterdrücken, ob sein Leben von ihm so geringgeschätzt wird. Aber sie beherrscht sich und nimmt das Geld nicht. Es könnte ihr helfen, die Suche nach Atropaia fortzuführen. Sollte sie ihre Zunge nicht im Griff haben, käme sie womöglich doch noch ins Gefängnis. Von dort wären die Nachforschungen zu ihrer Amme unmöglich. Brendan lässt das Geldstück in ihre geöffnete Hand fallen und wendet sich an Gwydion. »Du musst sofort überprüfen lassen, ob das ein Attentat auf mich gewesen ist. Ich kann nicht glauben, dass eine der Zinnen ohne Nachhilfe herabstürzt.« Nach diesen Worten richtet er sich an die Wachen. »Ihr sorgt dafür, dass niemand ins Rathaus hinein oder herauskommt. Sichert auch den Hinterausgang.« An Runa verschwendet er keinen weiteren Gedanken. Seine Rettung durch ihr beherztes Eingreifen ist bereits in Vergessenheit geraten. Sie erstarrt erneut. Der Wortklang war fast ebenso hochmütig wie die Worte seines Vaters vor Jahren zu den Bewaffneten.

Das Mädchen wandert in Gedanken versunken zum Wirtshaus zurück. Es berichtet von dem Vorfall mit der herabgefallenen Zinne, ohne etwas von ihrem Eingreifen in das Geschehen zu verraten. Die Wirtin nickt und akzeptiert, dass sie heute die Bescheinigung vermutlich nicht bekommen wird. Ein eventueller Attentatsversuch wird eine längere Untersuchung erfordern, auch wenn es noch früh am Tag ist. Runa fragt, ob Kaytlin einige Minuten ihrer Zeit erübrigen kann.

»Das ist normalerweise kaum möglich. Da ich aber wegen der Verlängerung der Schankerlaubnis den Arbeitstag anders geplant hatte, kann ich dir kurzzeitig mein Ohr leihen. – Worum geht es denn?«

Runa muss nicht überlegen, wie sie anfangen soll. Sie hat sich darüber auf dem Heimweg Gedanken gemacht und will ihr Vorhaben nicht auf die lange Bank schieben.

»Kaytlin, du hast mich vor vielen Jahren hier aufgenommen. Dafür danke ich dir. Ich war damals fünf und hatte kurz zuvor meine Amme verloren. Das habe ich dir nie berichtet, da mir der Verlust zuerst zu nahe ging und später durch die tägliche Arbeit in den Hintergrund gedrängt wurde.«

»Aha. Ich hatte deiner damaligen Behauptung sofort geglaubt, dass du nichts mit diesen heruntergekommenen Jugendlichen zu tun hattest. Dass du mit ihnen verwandt sein solltest, konnte ich von Anfang an nicht glauben. – Dass du deine Amme verloren hattest, tut mir leid. Wie ist das passiert?«

»Es war die Folge eines Überfalls. Bewaffnete Männer drangen in unser Haus ein, aber das ist so lange her. Worum es mir geht, ist das: Ich glaube, eine Spur gefunden zu haben, die zu ihr führen könnte. Ich möchte mich beurlauben lassen, um das zu überprüfen.«

Runa schaut mit ihren großen, blauen Augen die Wirtin an. Etwas unwirsch streicht sie dabei Strähnen ihrer rotblonden Haare hinter die Ohren, weil sie ihr ins Gesicht fallen. Sie hat sich nicht zu Kaytlin auf die Bank gesetzt und steht deshalb vor ihr. Sich neben sie zu setzen wäre ihr ungehörig erschienen, ohne dazu aufgefordert worden zu sein. Für einen kurzen Augenblick erlebt sie erneut die Szene, in der sie sich vor Jahren zu Atropaia setzte, obwohl sie sich Sorgen um das erkrankte Kaninchen machte. Die Ereignisse laufen aufs Neue vor ihrem inneren Auge ab. Gleichzeitig mit dem Bersten der Tür klingt die Stimme der Wirtin in ihr Bewusstsein.

»… du willst wie lange fortbleiben?«

»Oh, Verzeihung. Ich habe soeben das Geschehen erneut durchlebt. – Das kann ich nicht vorhersagen. Ist es möglich, meine Ausbildung im Anschluss fortzuführen?«

Die Wirtin schaut sie prüfend an.

»Du bist sicher, wiederkommen zu wollen? Ich möchte nicht, dass du auf die schiefe Bahn gerätst. – Ich habe in den letzten Tagen die Rothaarige von damals in unserem Ort gesehen. Du weißt schon, die, die dich hierhergeschleppt hatte.«

»Das stimmt. Ich habe sie auch getroffen, ohne dass sie mich erkannt hat. Und das ist gut so. Sie heißt übrigens Katie. Nein, zu ihr möchte ich auf keinen Fall.«

»Das freut mich. Gut. Ich gebe dir auf unbegrenzte Zeit frei. Sobald du wieder heimkommst, kannst du die Ausbildung fortsetzen. Ich unterrichte Pulmoria.«

Beim Wort »heimkommen« spürt Runa einen Stich in der Brust. Auch wenn sie sieben Jahre hier gelebt hat, fühlt sie anders. Ihr Heim befindet sich im Wald!

»Ich packe meine Sachen zusammen und bin dann gleich weg.«

»Komm vorher bitte kurz zu mir. Ich lasse dir von der Köchin etwas Proviant einpacken.«

Runa rennt ins Dachgeschoss hinauf. Sie muss nicht lange entscheiden, was sie mitnehmen möchte. Sie besitzt eine wetterfeste Jacke und einen Rucksack. In den packt sie ihr Ersatzoberteil, eine Strickmütze und das Buch, das sie von der Wirtin zum zehnten Geburtstag bekommen hat. Es handelt von den Bewohnern eines unbekannten Landes, das als »Insel der Drachen« bezeichnet wird. Ein Paar Ersatzschuhe hat sie nicht. Da sie als Hilfsköchin viel auf den Beinen ist, bestehen ihre Schuhe aus festem, aber bequemen Leder. Sie sind zwar relativ neu, werden hoffentlich trotzdem auf der vermutlich längeren Wanderung keine Blasen an den Füßen hervorrufen. Sie schaut sich mit etwas Wehmut in dem kleinen Zimmer um und eilt dann die Treppe hinab. In der Gaststube bleibt sie erstaunt stehen. Nicht nur Pulmoria steht dort neben Kaytlin, Dragon hat offenbar auch von ihrer Absicht erfahren.

»Kann … soll ich …?« Das Mädchen wundert sich sehr, dass er stottert. Sonst redet er zwar nie viel, doch das hat sie bisher nicht bemerkt. Sie hat den Eindruck, dass er mit dem ringt, was er sagen möchte.

Runa spürt, wie sich ihre Brust zusammenzieht. Die Trennung von Atropaia geschah mit Gewalt und sie hatte keinen Einfluss darauf. Doch jetzt will sie freiwillig ihr bisheriges Leben hinter sich lassen. Und offensichtlich nicht nur das. Es gibt hier gleichzeitig drei Menschen, denen sie offenbar nicht gleichgültig ist. Die dicke Köchin wischt sich einige Tränen aus den Augen. Sie umarmt das Mädchen und drückt ihm ein Esspaket in die Hand, das in ein Leinentuch gewickelt ist.

»Pass gut auf dich auf!«, schluchzt sie fast. Sie dreht sich um und stürmt nach nebenan in die Küche. Runa packt das Paket in den Rucksack.

»Hier sind noch zwei Äpfel. Die magst du doch so gern.« Kaytlin schnieft etwas, aber lediglich eine Träne verirrt sich in deren Augen.

»Ich danke dir«, antwortet Runa mit einem Kloß im Hals. Sie hatte nicht erwartet, diese Abschiedsgabe zu bekommen. Sie liebt die Apfelsorte, die einen süßsäuerlichen Duft abgibt und lange haltbar ist.

»Kann ich … mitkommen?« Dragons hellbraune Augen sind direkt auf das Mädchen gerichtet. Er schaut sie eindringlich und bittend an. »Für dich ist es draußen viel zu gefährlich. Du weißt nicht …« Er verstummt, setzt aber noch einmal an. »Ich könnte dir helfen, wenn du mich lässt.«

Runa fühlt bei seinem Anblick nicht zum ersten Mal eine unerklärliche Wärme im linken Arm und ein Kribbeln, das über ihren Rücken rieselt. Sie zögert. Meint er das Angebot ernst? Dann müsste er wie sie die Ausbildung zum … Das Mädchen stutzt. Welchen Beruf erlernt er eigentlich? Darüber hat sie sich bisher nie Gedanken gemacht. Er ist immer im Gasthaus und oft in ihrer Nähe gewesen. Sollte er keine Lehrstelle gefunden oder einen anderen Grund haben, keinen Beruf zu erlernen? Sie denkt kurz daran, dass er sich manchmal ungeschickt anstellt, um nicht tollpatschig zu sagen. Das geschieht jedoch nur dann, wenn er ihr schnell helfen will.

»Wenn du dir sicher bist, gerne. Wann bist du reisebereit?«

»Sofort.« Sein zufriedenes und zuversichtliches Lächeln lässt sie innehalten.

»Wie das? Hast du nichts mitzunehmen und musst niemandem Bescheid über deine Absicht geben?«

»Nein.« Mehr sagt er nicht. Die Wirtin nickt zur Bestätigung, dass sie damit einverstanden ist.

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