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Prostitution und Drogen
16. Januar Die Arbeit mit drogengebrauchenden Prostituierten gefällt mir. Ich bereue den Wechsel der Praktikumsstelle nicht. Ungünstig ist jedoch, dass sich seither mein Essverhalten verschlechtert hat. Im Schnitt sind’s nun zwei bis drei Rückfälle pro Woche. Ursache: Hier steht noch mehr Futter rum. Demnach mampfen meine Kolleginnen und ich rund um die Uhr. Hoffentlich pendelt sich demnächst ’ne Reduzierung ein. Phasen, in denen es weniger zu tun gibt, bin ich ebenfalls ausgesetzt. Immerhin bieten sie die Möglichkeit, Kontakt zu den Klientinnen aufzunehmen, weil wir innerhalb der Schichten durchgehend geöffnet haben. Ich scheine gut von den Besucherinnen angenommen zu werden. Im Weiberteam bemerke ich hin und wieder Zickenkrieg, sobald die Damen unterschiedlicher Meinung sind oder sich nicht besonders gut leiden können. Als Außenstehende kommt es mir manchmal so vor, als wenn sie der betonten Wichtigkeit eines respektvollen Umgangs nicht gerecht werden. Vordergründig sind sie aber nett, humorig und mütterlich fürsorglich. Ich fühl mich wohl in der heimeligen Atmosphäre. Das Begegnungscafé erinnert an ein gemütliches Wohnzimmer. Zu den Angeboten zählen unter anderem die Nutzung eines Konsumraums, medizinische Versorgung, Vermittlung in weiterführende Behandlungen (Therapie und Substitution), Aufklärung zu safe use und safe sex, aufsuchende Straßensozialarbeit (Straso) und Freizeitliches (Gesellschaftsspiele, Ausflüge, Zeitung- und Buchlesen, Raum zum Entspannen und Ausschlafen). Meine Tätigkeiten bestehen bislang aus: Frühstücks- und Abendbrotbuffetzubereitung, Ausgabe von Kosmetika und Handtüchern fürs Duschen, protokollieren der Tagesereignisse, aufräumen, klönen, zuhören, mitfühlen, trösten, erkennen besonderer Verhaltensauffälligkeiten und überall abrufbar sein. Darüber hinaus kann ich mich kreativ austoben und die Klientinnen zum Basteln motivieren. Die Frauen, die hierherkommen, sind zwischen zwanzig und vierzig Jahre alt. Recht jung also, was ich tragisch finde. Ihre Anliegen könnten individueller und vielseitiger nicht sein. Probleme, Fragen oder Themen wie Mode, Beziehung, Trennung, Scheidung, Schwangerschaft, Verhütung, Krankheiten, Menstruation, Schulden, Entzug oder einfach nur das Bedürfnis nach Hilfe beim Bettenbeziehen. Es entwickeln sich spannende, erschütternde, traurige und lustige Gespräche. Auf der Straso darf ich in ein paar Wochen mitlaufen. Es gibt Früh-, Spät- und Wochenenddienste. Besonders abends und nachts ist der Trubel groß, weil dann am meisten „angeschafft“, aber auch vor der Polizei, die permanent Bußgelder verhängt, geflüchtet wird. Die hiesige Straßenprostitution im Sperrbezirk in der Nähe der Drogenszene ist nämlich eine Ordnungswidrigkeit. Zu meinem Schutz muss ich mich demnächst gegen Hepatitis A und B impfen lassen. Dass jede meiner Kolleginnen in ihrer jahrelangen Berufslaufbahn mindestens einmal von ’ner Nadel gestochen wurde, bereitet mir ein mulmiges Gefühl, obwohl sich keine von ihnen mit HIV ansteckte. Die Wahrscheinlichkeit liegt bei circa 0,3 Prozent. Sicherheitshalber erhielt ich eine kurze Einführung, wie man sich im Fall X zu verhalten hat. Es war komisch, so nah mit den benutzten Spritzen in Berührung zu kommen. Die Klientinnen können ihr zu entsorgendes Besteck eins zu eins gegen neue, sterile Tanks und Kanülen verschiedener Dicke und Länge tauschen. Dafür legen sie ihr Zeugs auf den Stahltisch oder schmeißen es direkt in die vorgesehenen Container und erhalten zusätzliches Zubehör – Einweglöffel/Pfännchen, Filter, Ascorbinsäure, Alkoholtupfer und Pflaster. Ich fasse die gebrauchten Spritzen zwar, wenn überhaupt, nur mit Latexhandschuhen an, nichtsdestotrotz muss ich mich an die Handhabung und das Tropfen des Bluts auf die Ablage gewöhnen. Die Frauen sollen den Konsumraum, in dem sie ihre mitgebrachten Substanzen injizieren, schniefen oder paffen (Heroin vs. „Shore“ auf Folie/„Blech“ rauchen, Kokainsalz-Natriumhydrogencarbonat-Gemisch als Crack/„Stein“ in der Pfeife), nutzen, um unter Beaufsichtigung einer Sozialarbeiterin oder Krankenschwester eine Überdosis und Infektionen zu vermeiden. Weil mir „Fixerstuben“ bereits aus anderen Stellen bekannt sind und ich hautnah beim Pumpen dabei war, weiß ich, womit ich in etwa zu rechnen habe. Entgegen dem, was man aus Filmen kennt, ist bei den wenigsten ein „Trip“ zu bemerken. Viele konsumieren in erster Linie, um ihre schmerzhaften Entzugserscheinungen zu lindern. Bei etlichen sind die Venen so stark verhärtet, dass sie sich in Lende, Oberschenkel, Fuß, Hand oder Hals stechen müssen. Wirklich abschreckend ... Unseren Besucherinnen dienen die Drogen darüber hinaus als Strategie, Ängste und Erinnerungen zu kompensieren und die „Hurerei“ erträglicher zu machen. Wie gerät man überhaupt in die Falle von Drogen und Prostitution? Wirklich alle, die uns aufsuchen, wurden in ihrer Kindheit oder im weiteren Verlauf ihrer Biografie Opfer von sexuellem Missbrauch. Die Hälfte ist wohnungs- und erwerbslos, ohne Schulabschluss oder Ausbildung und stark traumatisiert. Es mag sein, dass belastende Lebensereignisse (Vernachlässigung, Verwahrlosung, erfahrene Gewalt, Abhängigkeit in der Familie, Heimunterbringung und Beziehungsabbrüche) Drogensucht begünstigen. Der regelmäßige Konsum ist kostspielig und kann, muss aber nicht, in die Sexarbeit führen. Bis ich hier angefangen habe, hatte ich ein total anderes Bild von Prostituierten im Kopf. Und zwar das der gepflegten, aufreizenden, „selbstbewussten“ Professionellen im Rotlichtmilieu, die für das Teilen ihrer Einnahmen von Zuhältern „beschützt“ werden, ihrer Tätigkeit „freiwillig“ nachgehen und sie als Gewerbe anmelden. Unseren Klientinnen dagegen sieht man die Folgen des Konsums an. Sie wirken oft scheu und in sich gekehrt. Für sie schien die Sexarbeit ehemals bestimmt eine vielversprechende Option zu sein, ihr Leben „frei“ gestalten und schnell Geld verdienen zu können. Dass sie nicht nur ihren Körper, sondern auch ihre Seele verkaufen und an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden würden, davon hatten sie wahrscheinlich keine Ahnung. Ungeachtet dessen, dass Prostitution prinzipiell ein Tabuthema ist, das verurteilt und abgewertet wird, sind unsere Frauen gleich doppelt stigmatisiert. Durch die Sexarbeit selbst und den Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz. Für sie ist die sogenannte Beschaffungsprostitution, die sie verleugnen, lediglich ein Mittel zum Zweck, um Drogen, Essen und einen warmen Schlafplatz zu finanzieren. Diese Notlage lässt sie die Preise brechen und liefert sie den Forderungen ihrer Freier aus, die das schamlos als Gelegenheit für ihre ekelhaften Neigungen und perverseste Praktiken ausnutzen. Es ist unfassbar, was die Frauen – zum Teil an abgelegenen Orten – über sich ergehen und wie sie sich erniedrigen lassen müssen. Aufgrund der Befürchtung, außerhalb der Szene zu scheitern, ist der Ausstieg für Betroffene enorm schwer, schier unmöglich. Mich wundert nicht, dass eine von unseren Klientinnen ihrer grauenhaften Erfahrungen wegen akut selbstmordgefährdet ist. Derweil wird darüber diskutiert, ob wir das Risiko, dass sie sich in der Einrichtung umbringen könnte, eingehen sollten.
Übergriffe
Vorgestern gab’s in der Hochschule einen Gastvortrag zum Thema Islam. Der Dozent fragte, wer von uns sich schon mit dem Koran auseinandergesetzt hätte. Ich meldete mich als Zweite. Danach brachte er die sexuellen Übergriffe, Diebstähle und Körperverletzungen auf Dutzende Frauen in der Silvesternacht 2015/16 zur Sprache. Die Vorfälle in Köln und Hamburg würden in der Gesellschaft heftigen Unmut gegenüber Asylbewerbern auslösen, weil es sich bei den Tatverdächtigen (die Zahlen steigen) um junge Männerbanden mit nordafrikanischem und arabischem Aussehen gehandelt haben soll. Wie so etwas passieren könne, wollte der Vorträger wissen. Dabei bemühte er sich zu betonen, aufgrund dieser Ereignisse nicht pauschalisieren zu dürfen, und erläuterte, dass der Koran durch seine vagen und widersprüchlichen Formulierungen viel Raum für Fehlinterpretationen biete, und nicht zuletzt in den Aussagen zur Geschlechtergleichberechtigung unterschiedlich ausgelegt werde. Genau darin bestehe die Gefahr. Zwar lasse sich aus Sure 33,35 ableiten, dass Mann und Frau vor Gott gleichwertig seien; gemäß Sure 4,34 stünden die Männer jedoch über den Frauen.
Diese Darlegung, die mir nicht neu war, sorgte wegen des letzten Verssatzes „... wenn ihr fürchtet, dass die Frauen sich auflehnen, dann ermahnt sie, meidet sie im Ehebett und schlagt sie“ sofort für Irritation und Verärgerung in meiner Klasse. Mit süffisanter Miene beobachtete ich den Klamauk und dachte: Von nix ’n blassen Schimmer ... Hauptsache das Beil schwingen und mich zerstückeln, bis mir der Kragen platzte und ich an der Diskussion teilnahm. „Ist die Bibel etwa nicht von Frauenverachtung und -unterdrückung gekrönt? In jeder Religion sind mittelalterliche Traditionen verankert. Ich kann mir gut vorstellen, dass die Mehrheit der Muslime, die mit dem Strom der Moderne schwimmt, genauso empört ist über das Festhalten einiger an eindimensionalen Denkweisen. Allerdings muss berücksichtigt werden, dass sich neben den Menschenrechtserklärungen im Islam durchaus nicht unwesentlich auf den Koran berufen wird. Die Schriften müssten daher gründlich überarbeitet, ergänzt und aktualisiert werden. Das passiert ja auch mit unserem Grundgesetz, in das die christlichen Werte einfließen, ohne von ihnen dominiert zu werden. Oder schlagt ihr die Bibel auf, wenn’s um Richtlinien geht?? Nein, denn Religion findet im unteren Rang Platz.“ Verpeiltes Gaffen. Kein Mucks. Eine Antwort hatte ich auch nicht erwartet. Zu sehr belastete mich, dass mit der Konfrontation die von mir abgekapselte, monatelange und anhaltende Ausgrenzung wieder aufkam. Meine Kameraden sollten sich schämen für das, was sie mir angekreidet und damit in Gang gebracht haben. Wenn die wüssten, wie sehr ich darunter leide, dass sie die Zeit meines Studiums kolossal und restlos verändern. Würden sie mich überhaupt begreifen oder sich gar entschuldigen? Das bezweifle ich ... Darüber hinaus wühlte mich aber noch eine ganz andere Erinnerung auf – ausgelöst durch die Berichte aus der Silvesternacht. Ich las von grob eingeführten Fingern im Genitalbereich und litt enorm mit den Opfern, weil ich die Ohnmacht, die sie empfunden haben müssen, ein Stück weit nachvollziehen kann. Als ich vierzehn Jahre alt war, ist mir das Gleiche widerfahren. Unter anderen Umständen ... was es für mich nicht besser macht. Ich paddelte mit meiner damals zwölfjährigen Freundin – ’n Hungerhaken, flach wie ’ne Flunder – auf einer Luftmatratze. Indessen näherte sich uns ’ne Gruppe von sechs ausländischen Männern zwischen achtzehn und Mitte zwanzig, die uns erst spielerisch, dann stetig aufdringlicher werdend anbaggerte und mich sogleich zur Flucht alarmierte. Zumal wir immer weiter aufs Meer hinaustrieben. Meine Freundin hingegen fühlte sich geschmeichelt, erkannte das Risiko nicht und wollte bleiben. Zu ihrem Unmut hatten’s die Typen auf meine Kurven abgesehen. Während ich mich schreiend, fischartig am Angelhaken zappelnd und windend zur Wehr setzte, rettete sie ihren eigenen Arsch und suchte das Weite. Ich wurde unter Wasser gedrückt, bekam keine Luft mehr. Hände überall. Schmerzhaftes Brüstegrapschen, Brennen zwischen den Beinen. Nach Sekunden des atemlosen Kampfes tauchte ich an der Oberfläche auf, stach den Kerlen in die Augäpfel und trat heftigst in ihre Weichteile. Auf diese Weise gelang es mir, mich aus den Fängen zu befreien und in Windeseile davonzukraulen. Ende der Geschichte: Meine Freundin mimte das Unschuldslamm, mein Vater glaubte kein Wort und meine Mutter war zutiefst bestürzt. Das Gefühl völliger Wehrlosigkeit gehört zu den schlimmsten Dingen, die ich mir ausmalen kann. Nun beschäftigt mich die Frage, ob die in Köln von den Männern ausgegangene Aggressivität und organisierte, sexualisierte Gewalt an Frauen Signale gegen Freizügigkeit setzen sollen, um Zwanglosigkeit, Unabhängigkeit und Lebensgenuss einzuschränken. Alias Bestrafung und Folter von Ungläubigen? In Ägypten und anderen Nationen des Nahen Ostens sind Belästigungen dieser Art weit verbreitet. Offenbar meint man dort, der Westen gebe in Musikvideos und in der Werbung sexuelle Freiheiten vor. Nämlich „leicht zu habende“ Mädchen, die dem Anschein nach in mancher Augen Frischfleisch oder Freiwild darstellen ... Vielleicht wäre das alles nicht passiert, wenn die Damen hierzulande verschleiert gewesen wären. Wohin soll das führen? Ob sich Muslimas wirklich freiwillig verhüllen – unter anderem zu ihrem Schutz – kann ich nicht beurteilen. Wenn der Hidschab oder die Burka aus religiöser Überzeugung getragen, sogar als eine Form der Emanzipation verstanden werden, und eben nicht zum Zeichen der politischen Ideologie des Islamismus, verstehe ich das. Die Kehrseite dessen, dass zahlreiche von ihnen zur Verschleierung und zum Verzicht auf ihre äußere Individualität gezwungen und unter dem Deckmantel der Ehre drangsaliert werden, findet bei mir wiederum keine Akzeptanz. Unter diesen Voraussetzungen möchte ich mir erlauben zu behaupten, dass weder das Kopftuch, die Ganzkörperverhüllung noch solche Männer, die sich vermessen, derart die weiblichen Entscheidungs- und Entfaltungsmöglichkeiten einzuschränken; Reinheit und Treue zu fordern; ihre Gattin zu Gehorsamkeit zu verpflichten; oder die körperliche Überlegenheit als Machtinstrument zu benutzen, nicht zu Deutschland passt. Es geht mich nichts an, und doch geht’s mich was an. Und zwar dann, wenn dieser Patriarchalismus nach Europa geschleppt wird. Zumal ich mich selbst für eine „relativ“ emanzipierte Frau halte, die sich von keinem Kerl herumkommandieren und bevormunden lässt. Meine Veranschaulichung mag einen einseitigen und kausalen Eindruck machen. Dennoch stütze ich mich nicht nur auf Hypothesen, sondern auch auf Erzählungen. Um mal ein Extrem-Beispiel zu nennen: Als Jugendliche führte ich eine unbeständige Affäre mit einer Neunzehnjährigen, die ihre Mutter häufig in Hamburg besuchte und bauchfrei auf Lesbenpartys tanzte, aber aus Liebe zu ihrem Vater, der sie zwangsverheiraten wollte, immer wieder zurück nach Saudi-Arabien kehrte. Trotz des Konflikts, ihre Homosexualität verleugnen und sich unter einer Nikab verstecken zu müssen. Und trotz ihrer Kritik an dem Auseinandergrätschen zwischen den westlichen und islamischen Rechten. Die Scharia, sagte sie, fuße nämlich auf den Gesetzen und Normen aus dem Koran und der Sunna (Überlieferungen von Taten und Aussprüchen des Propheten Mohammad), vermische Gesellschaft, Religion und Politik. Demzufolge würden nicht nur das gemeinschaftliche und private Leben (Riten, Ehepflicht, Scheidung etc.) sowie die Glaubenspraxis geregelt, sondern auch menschenverachtende, folternde Haft-, Prügel- und Todesstrafen (Steinigung usw.). Ich weiß noch, wie sehr ich mich in ihre Schönheit – schwarze dicke Locken, kleine, zierliche Statur – verknallt hatte. Und so wurden ihre Qualen schnell zu den meinen. Sie fürchtete sich entsetzlich vor den möglichen Konsequenzen (etwa Auspeitschung oder Verbannung), die ihr bevorstehen würden, wenn ich sie im Bett entjungfert hätte. Was aus ihr geworden ist ... keine Ahnung. Der Kontakt riss irgendwann ab. Wozu solche Gräueltaten? Weil Gott es will? Quatsch! Das Thema Religion ist jedoch grundsätzlich nicht mein Ding – ganz gleich, ob Christen-, Judentum oder Pipapo. Und erst recht keine Radikalisierungen – seien sie religiös, politisch oder sozial motiviert. Mir hat man nämlich, als ich klein war, eingebläut, Gott sehe alles. Infolgedessen beobachtete er mich auch dabei, wie ich mir die Schnauze meines Teddys zwischen die Oberschenkel presste, in eine Ecke meines Kinderzimmers kackte oder Frösche sezierte. So fangen vermutlich Psychosen und Wahnvorstellungen an. Denn Gott straft die Sündigen. Immerhin werden heute vermehrt seine Barmherzigkeit und Liebe betont, und es wird dem Teuflischen weniger Beachtung geschenkt. Der Herr wird’s schon richten – noch so ’ne Floskel, die etliche als Vorwand zur Abgabe der Verantwortung und Rechtfertigung ihres Fehlverhaltens missbrauchen. Aber nur, weil ich selbst nicht gläubig bin, mir zum Zeichen meiner Negation mit sechzehn ein umgedrehtes Kreuz ins linke Handgelenk schnitt (das mittlerweile übertätowiert ist) und provokativ als Grufti in den Konfirmandenunterricht stolzierte, da der Herr mich vor gor nix verschonte, heißt das nicht, dass ich keinen Respekt vor denen habe, die es tun und brauchen, um sich aufgehoben zu fühlen und Halt in der Einsamkeit zu finden. Nichtsdestotrotz erwarte ich den gleichen Respekt gegenüber meiner Entscheidung, mich nicht für das Göttliche auszusprechen, die zehn Gebote und Inhalte der Bibel zu hinterfragen, weil sie durch „stille Post“ übermittelt wurden, die ich nicht wörtlich nehmen kann. Mir ist unklar, warum es nur einen Gott geben darf, wo es von allem mehrere gibt. Wieso Gott zumeist männlich dargestellt wird, obwohl mir ein mütterlicher Schutzengel eher zusagen würde. Und aus welchem Grunde die Kirchen zu Spenden aufrufen ... Für den Fall, dass unsere Gebete nicht erhört werden? Warum ich dies oder das nicht tun und selbstlos agieren soll, wo doch jeder persönliches Wohl anstrebt, und die Sünde ein unausweichliches Laster der Natur ist. Man kann im Sinne des gesunden Egoismus auch an sich selbst denken, ohne dass einem die anderen egal sind. Nach und nach kommen weitere silvesterähnliche Fälle ans Tageslicht, bei denen die Herkunft der Täter erst mal verschwiegen wurde, um nicht als ausländerfeindlich zu gelten. Viel zu spät beginnt die Politik, ihr Gutmensch-Image zu überdenken. Gruselig, was auf unserer Welt vor sich geht ... Die Welt Die Welt und ihr ganzes Leid ... Was ist die Welt – voller Hass und Gewalt? Menschen, die nicht respektieren, Immer öfter einander ignorieren ... Gegenseitig verletzen, Trauer schaffen, Wehren nur mit Händen oder Waffen. Lieben auseinanderbrechen, Ständig über andre sprechen. Das Leben besteht aus Kummer und Sorgen, Man fühlt sich verloren, kaum geborgen. Doch die Hoffnung, die stirbt zuletzt, Hat schon einige in Frieden versetzt. So viel Schönes zum Genießen, Freuden durch die Adern fließen. Lachen übers kleinste Glück, Bringt Liebe in die Welt zurück ...
Drama, Baby, Drama ...
21. Januar Seit vier Tagen bin ich krankgeschrieben, weil ich vergangenes Wochenende spontan operiert werden musste. Diagnose: Steißabszess. Schon mehrere Monate lang plagte mich da so eine Verhärtung, die sich letztlich schwer entzündete und so dick anschwoll, dass ich vor Schmerzen weder sitzen noch liegen konnte. Als ich erfuhr, dass ich in Vollnarkose versetzt werden und über Nacht im Krankenhaus bleiben würde, brach alles in mir zusammen. Ich flennte unaufhörlich – aus Angst, nicht mehr aufzuwachen. Außerdem graute mir vor der Vorstellung, ich laufe zeit meines Lebens mit einer überdimensional großen Narbe durch die Gegend. Momentan sieht es auch ganz danach aus. Dort, wo das Gewebe entnommen wurde, befindet sich nun ein Loch im Durchmesser von vier mal fünf Zentimeter. Sieht ziemlich beschissen aus. Zweimal täglich wechsle ich den Verband. Dass ich meine Termine absagen musste, kotzt mich richtig an, zumal mir dieses Nichtstun schadet. Ich schaufle Gummibärchen, langweile mich halb zu Tode und grübele. Ich könnte für die bald anstehende Rechtsklausur lernen. Da ich aber inzwischen den Anschluss verloren habe, weiß ich nicht, wo ich anfangen soll. Stattdessen rege ich mich wieder darüber auf, dass meine Nachbarn bis spät abends bulgarische Volksmusik hören und laut rumproleten, die Wohnungsmieten seien zu hoch, um umzuziehen; dass sich meine Vermieterin um nichts kümmert und mürrisch abdankt, sobald ich sie kontaktiere; dass es impossible ist, zum Sport zu gehen; dass ich gleich zu Anfang in der neuen Praktikumsstelle fehle, was bestimmt keinen guten Eindruck macht usw. Und dann ärgere ich mich über Paschis Verhalten im Krankenhaus – über seinen Konkurrenzkampf mit meiner Mutter. Er nahm mich ihr regelrecht weg! Mama verweigerte er jede Möglichkeit, mich zu umarmen oder zu küssen, weil er vermutlich davon ausging, ihr beweisen zu müssen, was für ein toller „Schwiegersohn“ er sei. Manchmal glaube ich, er ist eifersüchtig auf Susi. Denn er will der Mensch sein, den ich am meisten liebe. Das mit dem Motorradgeschäft hat sich übrigens erledigt, ich wusste es! Vor Kurzem prahlte er, sich mit dem Chef der Firma zu treffen, und bildete sich ein, dass er jetzt Geschäftsleiter werde. Blöd, wenn man sich vorher nicht genauer erkundigt hat. Er wähnte sich nämlich in der Sicherheit, dass das Unternehmen bereits plane, hier einen weiteren Laden zu eröffnen, die Räumlichkeiten demnach schon zur Verfügung stünden und er eigentlich nur noch für die Führung zu sorgen hätte. Da war er ja naiver als gedacht ... Der Chef ist leider keiner aus’m Bilderbuch von wegen Hi, du! Ich hab da mal ’nen leeren Schuppen mit Ware, willste einziehen?, hat aber natürlich nichts gegen Pascals Idee. Dass das wiederum eine sehr hohe Verantwortung bedeutet, ist ihm doch ein bisschen zu heikel, er verzichtet lieber. Das möchte ich an dieser Stelle unkommentiert lassen ... Ich fühl mich grad irgendwie isoliert. Es macht mir zu schaffen, dass ich überhaupt keinen Bedarf verspüre, eine meiner Freundinnen einzuweihen und sie zu bitten, mich ein wenig zu pflegen, mich zu beschäftigen. Wie meistens mache ich Probleme mit mir selbst aus, nehme keine Hilfe an. Zu meiner Betroffenheit fällt mir auf, dass ich mich stärker verändert habe, als ich es mir bisher eingestand. Mich zu verabreden oder jemanden außer Paschi gar zu mir nach Hause einzuladen, tue ich äußerst selten und immer seltener. Oft weiche ich Geburtstagen aus, weil ich dann unentwegt mit den Kalorien von Essen und Alkohol beschäftigt sein, schweigend in der Ecke sitzen oder eine Rolle spielen würde. Meistens mutmaße ich, die anderen würden meine seelische Verfassung durchschauen und finden, ich sei nicht gesellig genug, als dass es sich lohnen würde, sich mit mir zu unterhalten. Bei einigen Bekannten, die mich fröhlicher in Erinnerung haben, meide ich den Kontakt besonders. Viele von ihnen ahnen gar nicht, was Depressionen sind; behaupten, dass auch sie mal einen schlechten Tag hätten, der vorbeigehe. Aber das ist nicht vergleichbar. Depressionen sind unbeständig, sie ebben ab, und im nächsten Moment ergießen sie sich wie eine Flut über einen. Ich persönlich empfinde mich eingesperrt, ohne zu wissen, wo ... Da ist nichts und niemand außer mir selbst mit meinen kreisenden Gedanken, die mich erstarren lassen. Manchmal kommt es mir so vor, als wäre ich emotional abgestorben. Andere Male überschütten und begraben mich die Emotionen wie eine Schneelawine, der ich nicht entkommen kann. Berge von Selbstzweifeln, Existenz- und Zukunftsängsten, Minderwertigkeitskomplexen, Niedergeschlagenheit und Hoffnungslosigkeit liegen dann auf mir. Oft dauert es Wochen, bis es mir gelingt, mich auszugraben. Häufig bricht daraufhin schon die nächste Lawine ein. Ich habe versucht, mich mit so einem Ratgeber auseinanderzusetzen. Da stehen Tipps drin, wie man zurück in den Alltag finden soll. Im Alltag finde ich mich aber eigentlich ganz gut zurecht. Die Freizeit ist das Problem. Was helfen mir meditieren, wenn ich mich nicht entspannen kann; spazieren, wenn draußen Minusgrade sind; singen, wenn die Stimme versagt; tanzen, wenn die Partyatmosphäre und der Pegel fehlen, oder fernsehen, wenn nur anspruchsloser Müll in der Glotze läuft ...? Stattdessen gebe ich in Google die Folgen von Bulimie und Rauchen ein, recherchiere Fastenkuren und Nulldiäten, stell mich mehrfach auf die Waage, gebe jeden Bissen Nahrung in meine App ein, vegetiere vor mich hin oder lege Tarot-Karten, um herauszufinden, wie lang ich’s noch mache. Danach ist meine Stimmung gänzlich im Keller; wieder konnte ich mich darin bestätigen, dass alles und jeder doof ist. Nach meinem letzten Rückfall litt ich unter krassen Nierenbeschwerden. Seither bin ich immerhin eineinhalb Wochen kotzfrei. Meine Haut wird großporig und unrein, und die Lunge pfeift vom Kettenbarzen. Das ist Selbstmord, wenn ich nicht aufhöre. Wann endlich lerne ich, mein Leben wertzuschätzen? Ich habe ein paar meiner Mädels mit meinem Stimmungstief konfrontiert und ihnen die Wahl gelassen, ob sie mich weiterhin als Freundin behalten wollen oder nicht. Eine zieht sich bereits zurück. Not sure, ob ich froh oder traurig darüber bin. Ich arrangiere mich mit der Einsamkeit – sie ist Teil meines Selbst geworden. Oberflächliche Bekanntschaften bedeuten mir nichts. Obwohl ich mir ein leichteres Umfeld wünsche, erkenne ich, dass ich mich einem solchen gar nicht gewachsen fühle und es Gründe hat, warum ich mich an meine Psychotanten klammere. Weil sie mich besser verstehen ... Ich muss lediglich darauf achtgeben, mich nicht in den Krisen anderer zu verlieren. Paschi und Mama fangen schon einiges von dem auf, was ich ansonsten meinen Freundinnen abverlangen würde. Gäbe es sie beide nicht, wäre ich vielleicht offener für neue Menschen. Bekümmern tut mich weniger der Rückzug als vielmehr die Erinnerung an ein Früher, in dem ich schwelge, in das ich mich gerne beamen möchte. Non sum qualis eram. 2. Februar Ich hab’s geschafft, mich eigenständig aus der Passivität zu befreien. Liegen und sitzen ist zwar immer noch scheiße, aber hey, ich hab diverse Wohnungen besichtigt und jetzt kommt’s – da ist doch heut’ nach Flehen und Betteln ernsthaft ’ne Zusage von der SAGA für meine Traumbutze zum 1.3. ins Haus geflattert. Ich kann mein Glück kaum fassen, haha! Denn die liegt nicht nur im Stadtteil Altona, sondern grenzt auch noch direkt an die Straße an, in der ich meine ersten fünf Jahre bei Papi aufgewachsen und zum Kindergarten gegangen bin. Total rührend. Indessen klopfen allerdings bereits die nächsten Sorgen an die Tür ... Für den guten Eindruck versprach ich dummerweise, meine Fehltage im Praktikum trotz Semesterferien noch in diesem Monat nachzuholen. Die Uni geht zwar erst wieder im April los, die Arbeit in Vollzeit beginnt dagegen schon in vier Wochen. Wie soll ich diese bloß mit Umzug, Wohnungseinrichtung, Klausuren und Beziehung unter einen Hut kriegen? Und wie komme ich so schnell wie möglich aus meinem aktuellen Mietvertrag raus, ohne doppelt Miete zahlen zu müssen? Kacke, das hätte ich mir mal eher überlegen sollen. Augen zu und durch – ein Rückzieher kommt nicht in Frage. Ich fang gleich mal damit an, die Bilder abzuhängen und Kartons zu packen.