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Ein stetes Auf und Ab
4. Mai In den vergangenen Wochen war wirklich von allem was dabei – von Freude, Euphorie und Tatendrang bis hin zu Wut und Verzweiflung. Ich schlug mir Tage und Nächte um die Ohren, um das straffe Pensum innerhalb kürzester Zeit zu bewältigen. Die viele Bewegung wirkte sich positiv auf mein Gewicht, das Essverhalten und die Stabilität meiner seelischen Verfassung aus. Ich erlaubte mir keinen einzigen bulimischen Ausrutscher. Und wenn ich drohte, aufgrund von kleinen Niederlagen der Lethargie zu verfallen, hielten diese Momente nicht länger als wenige Stunden an. Dass meine neue Altbauwohnung zwar saniert, aber ausschließlich mit Estrichboden, gespachtelten und grundierten Wänden ohne Tapeten und ohne Küchengeräte übergeben wurde, versetzte mich erst mal in Hysterie, weil ich keine Ahnung hatte, wie ich all die Kosten, die auf mich zukommen würden, tragen sollte. Ich bat Mama, mir Geld zu leihen, fand zügig ’ne Nachmieterin, kaufte über eBay preisgünstig gebrauchte Elektrogeräte (Waschmaschine, Herd und Kühlschrank) und bestellte bei Poco Domäne Farbe, Deckenleuchten, Auslegware etc. Bei meinem Umzug halfen Paschi und zwei seiner Freunde schleppen. Fürs Falschparken kassierten sie Strafzettel; beim Streichen bröckelte der Putz ab; das Verlegen des Laminats dauerte drei Tage, weil die Raumecken schief und die Böden uneben sind; Schrauben und Nägel lösten und Schränke verbogen sich – die reinste Katastrophe! On top fingen Pascal und ich uns nach meinem Einzug zu streiten an, da seine Unterstützung entgegen seinen Versprechungen relativ mau ausfiel. Insofern entwickelte ich mich notgedrungen zur Handwerkerin und lernte unentdeckte Begabungen an mir kennen. Während die Bohrmaschine zu meinem engsten Verbündeten wurde, ärgerte ich mich schwarz darüber, dass mein Partner lieber Sport trieb oder sich mit Kumpels traf, als seiner Lady unter die Arme zu greifen. Infolgedessen warf ich mich nur noch heftiger in meine Verpflichtungen, schloss meine Klausuren erfolgreich ab, suchte regelmäßig den Chirurgen auf, um den Heilungsprozess meiner Wunde loben zu lassen, startete gewissenhaft ins Vollzeitpraktikum und vergaß in meiner Ablenkung ganz und gar, Paschi zu vermissen. Die weniger werdenden Wiedersehen, an denen ich seine Unlust und den im Vordergrund stehenden Egoismus kritisierte, verwandelten meine Zuneigung für ihn in Ablehnung und Reserviertsein. Erst als sich der ganze Stress Mitte März legte, und ich von der Aktivität in die Rastlosigkeit fiel, begann ich ernsthaft, über Pascal und mich nachzudenken. Sein Verhalten – unentwegt unterwegs zu sein (auf Piste oder in der Muckibude), wofür er sogar mindestens einen Tag des normalerweise uns gehörenden Wochenendes opferte – machte mich misstrauisch. Immer häufiger starrte ich nach Feierabend apathisch aus meinem Küchenfenster und trank Gläser Rotwein, um der Grübelei ein Ende setzen und einschlafen zu können. „Sag mal, hast du eine andere?“, fragte ich ihn mal im Gespräch. „Wie kommst du denn darauf?!“, empörte er sich mit aufgeblasenem Brustkorb. „Du bist komisch in letzter Zeit. Während ich davon ausgehe, dass wir uns an den Wochenenden treffen, wo nun ’n bissl Ruhe eingekehrt ist, stellst du mich vor vollendete Tatsachen, dann und wann mit diesem oder jenem verabredet zu sein, sodass ich spontan schauen kann, wie ich mich verplane, oder einsam zu Hause rumhocken muss, weil meine Freundinnen bereits ausgebucht sind. Du warst doch sonst nicht so. Warum sprechen wir unsere Vorhaben nicht mehr gemeinsam und rechtzeitig ab?“ „Na, du wolltest doch, dass ich selbstständiger werde, mir Hobbys such und mein eigenes Ding mach, anstatt dir auf die Pelle zu rücken!“ „Klar ... Trotzdem verwirrt mich dein plötzlicher Sinneswandel, da wir überhaupt kein Wort darüber verloren haben.“ Geistesabwesend betrachtete ich meine Fingernägel, knabberte am Nietnagel und wisperte: „Du hast dich einfach verändert, ohne dass ich dir dabei folgen konnte. Das kommt jetzt alles irgendwie überraschend.“ Daraufhin warf er mir vor, ich hätte ebenfalls kaum Zeit für ihn gehabt. „Ich musste ja auch alles alleine machen, weil du mich im Stich gelassen hast!“ Er wurde sauer, seine Stimme lauter: „Willst du mir etwa unterstellen, dass ich dir nicht geholfen hab?“ „Jedenfalls deutlich weniger als versprochen“, antwortete ich maulig. „Du sagtest, du würdest die Lampen, Handtuchhalterung, Haken und Bilderrahmen anbringen, das Acryl in die Fugen füllen, die Türleisten festschrauben usw. Stattdessen hast du dich vor allem um deinen unwichtigen Kram gekümmert und auf mir rumgehackt, sobald ich irgendwas angeblich schlecht montierte, weil du es ja angeblich besser gekonnt hättest als ich ... Ich hab dich gebeten, das Laminat zu verlegen, was du dir nicht zugetraut hast – in Befürchtung was falsch zu machen. 250 Euro haste mich für den Verleger bezahlen lassen, aber für einen deiner Kumpels konntest du sofort Laminat verlegen.“ Gleichgültig pulte er sich ’nen Popel aus der Nase. „Ich musste arbeiten. So kurzfristig hätt’ ich nich’ frei gekriegt.“ Furor stieg in mir auf. Imaginär scharrte ich wie eine Stute mit den Hufen auf der Weide – bereit, nach hinten auszutreten. „Nein, du hattest einfach nur keinen Bock! Schließlich scheust du dich auch sonst nicht, blauzumachen ...“ „Was kann ich dafür, dass du alles auf einmal erledigen wolltest!“ „Rein zufällig hatte ich gar keine andere Wahl. Es lag ja noch genug anderes an, das weißt du ganz genau! Eigentlich hab ich gehofft, du würdest dich ein wenig darüber freuen, dass wir endlich wieder Zeit miteinander verbringen können. Ist’s dir denn überhaupt kein Bedürfnis, die fehlende Zweisamkeit aufzuholen?“ „Hab mich damit arrangiert. Sex ham wa ja ohnehin keinen mehr“, rülpste er krötenartig. Wütend wedelte ich nach Frischluft und fuhr ihn an: „Hab du mal ein zweites Arschloch, das so wehtut, dass du nicht drauf liegen kannst! Und bei deiner Rülpserei und dem stinkenden Mundgeruch wegen der vielen Eiweißshakes, die du säufst, brauchst du dich auch nicht zu wundern, wenn du mich abturnst! Wie du dich mir gegenüber gehen lässt, ist kaum zu überbieten, ehrlich! Für wen trainierst du denn so fleißig? Für mich kann’s ja wohl nicht sein! Ich hasse dieses Aufgepumpte an dir!“ Wir keiften noch ’ne Weile weiter. Irgendwann rückte Pascal mit der Sprache raus. Unter Tränen beichtete er, Schiss zu haben, seinen besten Freund zu verlieren, weil diesem Lungenkrebs diagnostiziert wurde. Und das, wo Paschi doch auch noch an der Trauer um seinen immer vergesslicher werdenden Vater zu knapsen hat. Er tat mir schrecklich leid, ich heulte mit ihm und unser Ärger war erst mal verflogen. Bei der Arbeit ging es während einer Fallbesprechung im Team um zwei Klientinnen, die an den Folgen der jahrelangen Heroinabhängigkeit verstorben sind. Die Kolleginnen bekamen Gelegenheit, ihre Gefühle zu benennen und zu debattieren, wie man lernen könne, mit dem Tod von Frauen aus unserer Einrichtung, dem exzessiven Konsum und der Gefahr eines Überdosis-Suizids umzugehen. Den ganzen nächsten Tag sann ich über den Inhalt dieser Unterhaltung nach, die ich lediglich stumm auf mich hatte wirken lassen. Wo ich die betroffenen Besucherinnen nur flüchtig kenne, konnte ich mich von den tragischen Ereignissen als solchen ganz gut distanzieren. Indem ich aber an die Worte einer meiner in der Runde sitzenden Kolleginnen dachte, die wimmernd bedauerte, wie unvorbereitet sie auf den Tod ihrer jahrelang begleiteten Klientin gewesen war, kroch die Erinnerung an Lukasʼ Selbstmord wieder in mir hoch, der mich genauso überraschend getroffen hatte. Gegen den Schmerz über seinen Verlust kämpfte ich weiterhin an; verdrängte die Lücke, die er in mir hinterlassen hatte, und das Schuldgefühl, nichts von seiner Absicht, die ich vielleicht hätte verhindern können, vorausgesehen zu haben. Abends erschien ich sichtlich bekümmert zur Nachtschicht. Als man mich fragte, was mit mir los sei, fing ich sofort zu japsen an und durfte wieder nach Hause gehen – nicht witternd, dass das erst der Beginn meines Kummers sein würde. Inzwischen plackte ich mich mit dem Anbieter meines Telefon- und DSL-Anschlusses ab, weil ich trotz mehrfacher Aufforderung noch immer über keine Internetverbindung verfügte, zumal der Installationstechniker am vereinbarten Termin nicht aufgetaucht war. Fristlose Kündigung – Problem gelöst. Als Nächstes erhielt ich eine saftige Stromnachzahlung – als wenn ich nicht schon genug Schulden an der Backe gehabt hätte ... Paschi erklärte sich großzügig bereit, die Hälfte des Betrages zu übernehmen, da er so häufig bei mir koche und dusche (Durchlauferhitzer). Auf die Kohle konnte ich jedoch ewig warten – hinterherrennen musste ich. Ende März wurde ich das erste Mal nach knapp zweieinhalb Monaten wieder rückfällig. Nur wenige Tage zuvor hatte ich Paschi freudvoll angeträllert: „Mein Leben fängt jetzt erst richtig an – mein Leben ohne Essstörung!“ Bis dahin glaubte ich, meine Gewichtsabnahme, die mir endlich Wohlgefallen an meinem Körper bescherte, hätte mit dem Absetzen der Pille nach vierzehn Jahren Einnahme zu tun gehabt. Obwohl ich keinen Sport machte und etliches Süßes aß, ohne dass die Kilos auf der Waage bergauf kletterten, ging ich davon aus, nun alles in mich hineinstopfen zu können, was ich wollte. Das war leider ein Trugschluss – meine altbekannte Freundin Bulima gesellte sich zu mir, denn beim Spiel der Maßlosigkeit gewann sie immer. Dieses und auch weitere Male. Je mehr mich meine Niederlagen frustrierten, umso besessener wurde ich. Dass Pascal meine Schlankheit lobte und betonte, wie sehr viel besser ihm diese gefalle, setzte mich zusätzlich unter Druck, bloß kein Gramm zuzunehmen. Neuerdings litt ich unter massiven Bauchschmerzen, die mich täglich bei der Arbeit quälten. Eine Untersuchung ergab aber, dass meine Magenschleimhautentzündung ausgeheilt war. Der Arzt vermutete daher einen Reizdarm – als Reaktion auf akuten Stress. Meine Anleiterin im Praktikum hatte bemerkt, dass mich irgendetwas stark bedrückte. Oftmals soll ich in Gedanken versunken und nicht ansprechbar gewesen sein. Ihre interessierte Nachfrage ließ mich offen (zu offen!) werden, sodass sie zeitweise besorgt zu sein schien, ich könne durch Themen wie Suizid, Essstörung, Wohnungslosigkeit und Drogensucht, die Parallelen zu meinen eigenen Erfahrungen aufweisen, „getriggert“ werden. Ich beschloss, intensiv über ihre Spekulation nachzudenken und mich selbst kritischer zu beobachten. Daneben schlauchten mich unverändert die Anspannung wegen herumstehender Leckereien in der Einrichtung sowie das belastende Brüten um Paschi. Seitdem er von nichts anderem mehr als vom großen Erbe sprach, rasselten wir ununterbrochen aneinander. Mich mit unverrückbaren Fakten zu beliefern, war anscheinend Teil seines neuen Selbst. Zum Beispiel erzählte er, vorzuhaben, sich sterilisieren zu lassen und in diesem Sommer eine durch Steffen gesponserte, private BWL-Ausbildung in Wiesbaden zu beginnen – die zwei hätten sich endgültig darauf geeinigt, Immobilien zu bewirtschaften. Wieder schwärmte er von dem Luxus, den er sich in Zukunft leisten könne. Wie stark es mich betrübte, dass er ein vorgefertigtes Leben plante, das ich so nicht führen will, interessierte ihn dabei überhaupt nicht. Am meisten aber störte mich die Tatsache, dass ich mich, wenn ich anstreben sollte, mit ihm zusammenzubleiben, bedingungslos an seine egoistischen Träume und Wünsche anpassen und auf die meinen verzichten müsste. Obwohl ich mich gegen ’ne Fernbeziehung aussprach, machte er keine Anstalten, seine Ziele noch mal zu überschlafen. Das ließ mich stark daran zweifeln, wirklich die Frau zu sein, für die er angeblich alles tun würde. Denn für Kompromisse oder das Eingehen auf meine Belange war er keineswegs bereit. Er hörte mir nicht einmal mehr zu, wenn ich meine Sorgen und Ängste preisgab. Ich weinte sehr oft in dieser Zeit. Denn mir war klar, dass es uns als Paar bald definitiv nicht mehr geben wird. Nach einer unserer heftigsten Auseinandersetzungen, in der ich ihm seine narzisstischen Wesenszüge und schlechten Manieren an den Kopf warf, musste ich stark an mich halten, als er mich mit der plumpen Äußerung „Ich bin, wie ich bin und werde mich niemals ändern!“ aus der Fassung brachte. Fäuste ballend stürmte ich auf ihn los und schaffte es gerade noch im letzten Augenblick vorm Zuschlagen, mich zu zügeln, die Situation zu verlassen und eine Beziehungspause einzufordern, die Pascal weder respektieren noch der er Folge leisten wollte. Die Verbissenheit, mit der er mich unablässig und penetrant kontaktierte, als ich für drei Tage mit Mama am Timmendorfer Strand zu entspannen versuchte, nervte und bekümmerte zugleich. Über seine Versprechungen, nun alles besser zu machen als zuvor, knickte ich ein – zu arg bangte ich erneut, das Alleinsein nicht ertragen zu können, da ich mich längst verloren hatte. Ich war ein Häufchen Elend – gefangen in Depression, von der Außenwelt abgeschottet. Sein Verhalten blieb gleichbleibend ... Ich musste dringend etwas an meinem Essverhalten ändern und unter Leute gehen, um seelisch wieder auf die Beine zu kommen und zu mir zurückzufinden. In einer unserer Sitzungen legte mir meine Therapeutin ans Herz: „Frau Rickert, treffen Sie eine Entscheidung. Die Bulimie mag für den Moment die richtige Verdrängungsstrategie für Sie sein. Aber wenn Sie nicht lernen, sich Ihren Gefühlen zu stellen, nach den Ursachen und Auslösern Ihrer Schwierigkeiten zu fragen, dann wird es stets utopisch sein, sich aus diesem andauernden Teufelskreis zu befreien. Ist Ihre Sucht Ihnen die gesundheitlichen Risiken wert? Akzeptieren Sie, dass die Phasen der emotional aufreibenden Krisen zu Ihnen gehören. Ich wünsche mir sehr, dass Sie sich annehmen, wie Sie sind. Denn Sie sind gut so, wie Sie sind.“ Ende April sank die Anzahl meiner Rückfälle drastisch. Ich bemühte mich, mich nicht allzu sehr mit den Gewichtsschwankungen meines Körpers zu beschäftigen und mir zu erlauben, den schmackhaften Verlockungen in geringen Mengen nicht widerstehen zu müssen. Auf diese Weise gelang es mir, freudvoller an der Arbeit teilzunehmen, gegenüber den Klientinnen und meinen Kolleginnen zugänglicher zu werden und gelegentlich zu lachen. Dagegen überforderten und lähmten mich die fehlende Ablenkung durch Gesellschaft und die auf mich einströmenden Gedanken, wenn ich nach Feierabend mit dem Vakuum konfrontiert war. Mein Popo ist übrigens wieder heile!
Im Nimmerland
8. Mai Muttertag. Susi und ich haben bis eben im Block House gegessen. Gespannt schaute ich ihr dabei zu, wie sie mein Geschenk auspackte, weil ich bereits wusste, wie sie darauf reagieren würde. Als sie „Mama, erzähl mir von dir: Das Erinnerungsbuch zum Ausfüllen“ von Alexandra Lennarz aufschlug und sich eine blondierte Strähne aus dem Gesicht wischte, schwollen ihre herzförmigen Lippen an. Sofort kullerten die ersten Tränen aus den schräg geschwungenen Katzenaugen. Gerührt fing ich ebenfalls zu weinen an, während sie mich zärtlich in ihre Arme schloss und seufzte: „Das ist eine wundervolle Idee, mein Püppilein. Ich danke dir vielmals.“ „Hab mir gedacht, dass du die Seiten mit Fotos beklebst. Da stehen diverse Fragen zu deinem Leben drin – einige, über die wir so noch nie gesprochen ham. Mich würd’s sehr freuen, wenn wir uns die Bilder und Antworten eines Tages gemeinsam ansehen. Das ist doch hübsch für dich und mich, nicht wahr?“ Natürlich gab es für mein Geschenk einen tieferen Grund, den ich zwar nicht zugeben wollte, weil ich zu Tode betrübt bin, sobald ich mir eine Vorstellung davon mache, den Mama aber sicherlich trotzdem erkannte: Die Tatsache, dass ich etwas ganz Persönliches von ihr haben möchte, das ich jederzeit zur Hand nehmen kann, wenn sie irgendwann Ade sagt. Es ist nur ein Gedanke. Ein Gedanke von vielen. Aber er lässt mich nicht los. 10. Mai Da ist sie wieder, diese seltsame Leere. Ich sitze draußen in Ottensens Reisebar – vor mir ein eisgekühlter Aperol Spritz, auf meiner Haut die brennende Sonne. Eigentlich könnte es mir nicht besser gehen zum Feierabend – manch einer hechelt danach. Und dennoch liegt der Schatten meines Selbst auf mir. Mit jedem vergehenden Tag legt er sich schwerer und schwerer auf mich, überdeckt meinen Körper ganz. Nur die Augen finden ihren Weg hinaus – bemerken beiläufig eine vorüberziehende, lebendige Masse, die unbeschwert und so viel fröhlicher zu sein scheint, als ich es bin. Dumpf verspüre ich die Emotionen Groll, Traurigkeit und Sehnsucht – wie kleine Kinder zupfen sie an meinem Ärmel, kneifen mir in den Bauch. Aber ich, die lieblose Mutter meiner hilflosen Kinder, strafe sie mit Ignoranz. Nehme lediglich das unangenehme Zwicken in der Magengrube wahr und bestelle einen weiteren Drink, um das psychische und bald auch das physische Leid abzutöten. Wenigstens für heute. Ich trinke weder aus Genuss noch aus Freude. Längst weiß ich, dass der Alkohol es nicht schafft, mich zu erheitern oder gar zu erleichtern. Zu sehr zermartert mich die Frage, was ich an dem langen, mir bevorstehenden Abend anstellen soll. Eben holte ich einen Roman aus meiner Tasche, keine zwei Minuten später steckte ich ihn wieder ein. Nein, ich habe keinen Bedarf, mich zu verabreden. Ich bringe ohnehin kaum ein Wort heraus. Und wenn, dann kann ich mir selbst dabei zusehen, wie fremd ich mir beim Sprechen bin, wie oberflächlich interessiert ich zuhöre, während ich mich eigentlich ganz woanders aufhalte – weit weg, irgendwo im Nimmerland der Tristesse ... Ich vermisse die Vergangenheit, in der überhaupt nichts besser war. Trotzdem glaube ich daran, will daran glauben, weil mich die Vorstellung einer erträglicheren Zukunft noch weniger überzeugt. Ich möchte etwas verändern, aber wie? Die ständigen Gedanken haben mich eingekesselt, bilden einen engen Kreis um mich herum. Zahlreiche Versuche auszubrechen blieben erfolglos. Erst bettelte, schrie, trat und schlug ich. Inzwischen sitze ich zusammengekauert in der Mitte – ergeben, still, den Kampf müde, so unendlich müde. Ich ertrage mein Dasein, ja, das Herz schlägt noch, ich atme. Es beruhigt mich, dass man durch die dunklen Sonnenbrillengläser nicht erkennen kann, wie ausdruckslos und tot ich ins Nichts blicke – durch die Menschen hindurch. Ich komme mir unbedeutend vor zwischen all den anderen. Ist’s nicht auch so? Das zeichnet unsere Gesellschaft aus ... Anonymität, fehlende Intimität. Das ist es, was uns einsam werden lässt. Wer dazu ohne schauspielerisches Talent geboren wurde, der wird einen Saal ohne Publikum antreffen. Ich würde gern eine Farce inszenieren können. Hab jahrelang an ihr gearbeitet. Obwohl es mir gelingt, sie aus dem Effeff runterzurattern, wirkt sie in ihrer Darstellung nicht authentisch. Das wundert mich nicht, schließlich kaufe ich mir die Rolle selbst nicht ab. Es sind die Tragödien, in denen ich ich bin. Weil sie mich auszeichnen, nein, mich beschlagnahmen. Ich wollte Regisseurin oder Autorin werden, meine Geschichten umschreiben. Geschichten aber, die meiner Phantasie entsprangen, waren nie ehrlich. Sondern ebenso aufgesetzt und künstlich wie die lächerlichen Witzfiguren, die ich spielte. Vielleicht wäre ich für einen Zirkus geeignet. Als ’ne Art Attraktion; ich erinnere mich an diese Harlekine. Alles, was die Leute sehen, ist das, was sie sehen wollen: die rot gemalte, freundliche Fratze. Vor der schwarzen, träufelnden Träne erblinden sie. Ich möchte die Zeit zurückdrehen können – mit dem Wissen von heute. Ich würde einiges anders machen. 15. Mai Gestern waren Pascal und ich bei den Deichtorhallen im „Haus der Photographie“, um uns eine Ausstellung von Ken Schles, Jeffrey Silverthorne und Miron Zownir anzuschauen. Die Bilder erschrecken und provozieren, da sie sich auf radikale, laszive und tabuisierte Weise mit Themen wie Liebe, Identität, Gewalt und Tod beschäftigen. Am stärksten fand ich die Porträts von Transsexuellen – Silverthornes Fähigkeit, hinter die Fassaden und in das Seelenleben der Charaktere zu blicken, ist einzigartig und herausragend. Paschi teilte meine Faszination leider nicht. Als ich glückselig von der Inspiration der Werke schwärmte, machte er die nüchterne Bemerkung: „Das war das erste und letzte Mal, dass ich mir so was angesehen habe. Ist doch total sinnlos, irgendwelche Gesichter zu fotografieren.“ Seine Aussage brüskierte mich. Immer häufiger fällt mir auf, dass wir eigentlich überhaupt nicht zueinanderpassen. Langsam bekomme ich eine Ahnung davon, dass sein Horizont weit, weit unter dem meinen liegt und bezweifle, dass er jemals auch nur ein Buch zu Ende gelesen hat. Wir können uns weder über Kunst noch Literatur austauschen. Und wenn ich ihm euphorisch von meinen Erfahrungen aus’m Praktikum berichte, begegnet er mir mit Unverständnis: „Ich kann dir jetzt schon sagen, dass du spätestens in drei Jahren keine Lust mehr darauf hast, von crazy people umgeben zu sein! Warum interessierst du dich für die Schicksale dieser Frauen? Die sind krank, denen kann eh keiner helfen!“ Wir haben uns stetig weniger zu sagen. Wir schlafen zwar wieder miteinander, aber meistens fehlt’s mir an Verlangen. Ich besuche ihn kaum mehr in seiner Wohnung, weil es nach vergammeltem Müll und abgestandenem Rauch riecht, und weil ich mich in seiner Bude unwohl fühle – seine Einrichtung ist mir zu simpel, zu karg, zu undekorativ. Ebenso gut könnte ich auf das Übernachten an den Wochenenden verzichten. Pascal hustet andauernd und rotzt seinen Schleim ins Waschbecken – das widert mich an. Das Geld übrigens, das ihm bereits vor Wochen von Steffen versprochen wurde, hat er nicht erhalten. Jedes Mal, wenn die beiden vorhaben, zur Bank zu fahren, wird Paschi versetzt und mit neuen Ausreden vertröstet. Mit der Ausbildung in Wiesbaden hat’s sich inzwischen ebenfalls erledigt, und Steffen wird nicht an Lungenkrebs sterben – die Tumore sind behandel-, wahrscheinlich sogar heilbar. Ich hab gewusst, dass an dem Geschnacke was faul ist, aber davon wollte mein naiver Prolet ja nix hören. Daher geschieht’s ihm ganz recht, wenn er nun Stress mit seiner Exfrau und den Insolvenzgläubigern hat. Was verspricht er denen auch Kohle, über die er gar nicht verfügt?! Er spürt, dass ich mich von ihm abnabele, unternimmt allerdings auch nüscht dagegen, obwohl ich oft genug kommuniziere, er vertue jede der Chancen, die er von mir kriege. Anstatt Einsicht zu zeigen, kritisiert er, die fünfminütige Busfahrt zu mir sei eine halbe Weltreise und ihn kotze an, dass wir nicht zusammenwohnen würden. Er verfehlt die eigentlichen Probleme, die sich fortlaufend wiederholen, und macht mich zum Prügelknaben. Heute besuchten wir auf der Reeperbahn ’nen Sexshop – angeregt durch mich, die ich auf das Ausprobieren von Toys neugierig war. Pascal plierte lechzend auf einen der in mir Würgereiz auslösenden Analclips, der ’n dickes Weibergesäß zeigte, aus dessen glattrasiertem Anus milchiges Sperma troff. „Meine Exfreundinnen bettelten darum, von hinten genommen zu werden“, protzte er enthusiastisch und bemäkelte abfällig: „Schade, dass du mir das niemals wirst bieten können!“ Es langt! Ich bin fest entschlossen, die Beziehung schnellstmöglich zu beenden. Aber zuerst muss ich mir ein Netzwerk aufbauen – mit meinen Freundinnen Debora und Charly stehe ich immerhin wieder in engem Kontakt. Es freut mich, dass Debora mir trotz des seltenen Sehens (höchstens an unseren Geburtstagen) erhalten bleibt. Wir schreiben oft – sie schickt Bilder ihres Enkelkindes, geht in der Rolle als Oma auf und ist nach wie vor happy mit ihrem halb so alten Freund.