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Meine Klientin Rawina
19. Mai Im Augenblick beschäftigt mich eine meiner Klientinnen. Ich erlaube mir, meine Klientin zu sagen – sei es drum, dass ich nur Praktikantin bin. Da ich Rawina erst seit wenigen Monaten „kenne“ und mich bewusst dafür entschieden habe, ihre Akte im Vorfeld nicht einzusehen, um ihr unvoreingenommen begegnen zu können, arbeite ich in erster Linie mit meinem Erleben, meiner Beobachtung und Einschätzung. Einige Hintergründe sind mir zwar aus den Teambesprechungen und Erzählungen meiner Kolleginnen bekannt, andere wiederum erfahre ich durch Rawina selbst. Weil sie grundsätzlich eine sehr aufgeschlossene Art hat, auf Menschen zugeht und ohne Umschweife aus ihrem Leben berichtet, fiel es von Anfang an leicht, mit ihr in Dialog zu treten. Intensiviert hat sich unser „Verhältnis“ allerdings dadurch, dass ich auf ihren Wunsch hin ein Bild für sie zeichnete. Rawina sah meinen Dienst als Geschenk an, für das sie mir seither Dankbarkeit entgegenbringt. Für mich aber war dieser Dienst eine Selbstverständlichkeit, da ich mich mitverantwortlich fühle, Hilfebedarfe abzudecken – so gut ich’s eben kann, und auch, weil mir diese Aufgabe Spaß bereitete. Rawina unterscheidet sich gewissermaßen von den anderen Frauen, die die Einrichtung aufsuchen – schon allein der Tatsache wegen, dass sie keinen prekären Drogenkonsum hat. Sie ist Alkoholikerin mit gelegentlichem Beikonsum von Substitol und Kokain. Ihre Intelligenz lässt sie gerne zum Vorschein kommen, indem sie über Poesie und Philosophie spricht oder von ihren Aufenthalten in Belgien. Mit ihrem freundlichen, lauten und humorigen Naturell unterhält und erquickt sie das ganze Café. Unabhängig von ihrer Suchtproblematik wirkt sie oberflächlich betrachtet recht „klar“, beinahe „normal“. Sie ist maskulin, zugleich zart und faltenlos in ihren Gesichtszügen. Das blonde Haar trägt sie streng zum Dutt gebunden, die blauen Augen plinkern durch eine dicke Hornbrille, den schmalen Leib verbirgt sie unter Schlabber-Pullovern. Rawina pflegt eine innige Beziehung zu ihrer Oma und führt seit einigen Jahren ’ne lesbische Partnerschaft. Ihre Freundin, die sie „Murmeline “ nennt, ist methadon- und cannabisabhängig, manchmal trinkt sie auch Alkohol. Rawina erzählt sehr liebevoll von ihr, sorgt sich jedoch häufig, da sich ihre Liebste nur schwer damit arrangieren kann, dass Rawina der Sexarbeit nachgeht. Murmeline sorgt sich nicht weniger und zu Recht um sie, weil sie unter einer chronischen Bauchspeicheldrüsenentzündung leidet (Folge des jahrelangen Alkoholmissbrauchs). Rawina ist sich zwar im Klaren darüber, dass sie mehr essen und den Konsum einschränken sollte, wo ansonsten jeder Tag der letzte sein könnte, säuft indessen aber weiterhin rund um die Uhr auf nüchternen Magen, obwohl sie in der Vergangenheit bereits drei heftige Schmerzanfälle hatte. Die Tatsache, ihr Leben zu riskieren, macht ihr Angst. Diese Angst versucht sie, bestmöglich zu verdrängen. Ab und an ist ihre Angst aber so groß, dass sie sich einer Entgiftung unterzieht. Von stationären Entwöhnungskuren und Entzügen auf eigene Faust hat sie etliche hinter sich. Das Zweite ist besonders gefährlich, weil es tödlich enden kann. Ernsthafte Botschaften wie diese fallen meistens komplett aus dem Zusammenhang eines lockeren Gesprächs, das wir führen, und werden ins Ironische gezogen. Nebensächlich wirft Rawina ein, Opfer von sexueller Gewalt zu sein; Geld zu sparen, um sich in Belgien einzuquartieren, da Belgien „ein guter Ort zum Sterben“ sei, oder sich gezielt Freier auszusuchen, die sie schlecht behandeln, um sich selbst zu bestrafen. Meine Kolleginnen behaupten, es gehe hierbei um eine Taktik, die Rawina für sich nutze, um Aufmerksamkeit zu erlangen. Ich dagegen kann das so nicht im Raum stehen lassen. Vielmehr erkenne ich in diesem Verhalten einen hinter ihrer Fassade versteckten Hilferuf und die Bitte, gehört zu werden. Sicher steckt auch ein Muster, mit schockierenden Geschichten Mitleid zu erregen, dahinter. Dennoch möchte ich den Background erfassen und Erklärungen finden. Eine meiner Kolleginnen signalisierte deutlich, sie habe Schwierigkeiten damit, dass sich Rawina mir so weit öffne, zumal sie und nicht ich ihre Betreuerin sei. Und meine Anleiterin unterstellte mir Unerfahrenheit, aufgrund derer sie mir nicht zutraue, mich sachkundig mit Rawina auseinanderzusetzen. Weil ich wissen wollte, wie sehr ich die Gespräche denn vertiefen dürfe, ohne der Zuständigen die Klientin „wegzunehmen“, brachte ich diese Thematik gestern in der Teambesprechung ein. Überdies verärgerte mich das fehlende Zutrauen in meine Fähigkeiten. Man begründete sein Handeln mit der (Für-)Sorge- und Verantwortungspflicht mir gegenüber. Das Argument kommt mir allerdings zu simpel und lediglich halb wahr vor. Ich schließe nicht aus, dass es generell ungern von den Kolleginnen gesehen wird, wenn eine ungelernte Praktikantin ebenfalls ’nen guten Draht zu einer Klientin aufbaut. Meine Vermutung teilte ich natürlich nicht mit. Jetzt frage ich mich, wie ich mit Rawina und den Missständen im Team umgehen soll. Ob ich mich über die Bedenken hinwegsetzen kann? Ich möchte mit Rawina im Dialog bleiben und probieren, ihr eine Unterstützung zu sein. Denn ihre Suizidgedanken stehen im Widerspruch zu den zahlreichen Entgiftungsversuchen und der Furcht vorm Sterben. Ich glaube, dass sie sich von Herzen eine Veränderung wünscht und leben will, es sich aber zur Bewältigungsstrategie gemacht hat, sich mit ihrem bedrohten Gesundheitszustand abzufinden. Wahrscheinlich ist die Angst vor einem qualvollen und schmerzhaften Tod stärker als die Angst davor, den „Notausgang“ zu wählen. Vielleicht beruhigt es sie sogar, zwar unfreiwillig, aber immerhin selbstbestimmt ausglühen zu können, wenn sie eine Verschlechterung ihres Zustands nicht mehr aushält. Die Phasen der Entgiftung waren wahrscheinlich derart von Pein besetzt, dass der Alkoholkonsum weniger der Selbstgefährdung als vielmehr dem Selbstschutz dient. Würde sie mir dagegen klar signalisieren, ihr Leben zweifellos beenden zu wollen, müsste ich auch das akzeptieren. Dann würde ich sie darin bestärken, die Zeit, die ihr bis dahin noch bleibt, so gut wie nur possible schön zu gestalten.
Bleiben oder gehen?
15. JuniMit Paschi läuft’s steil – rauf und runter. Ich schwanke zwischen Zu- und Abneigung. Die harmonischen Momente sind selten, aber es gibt sie. Deshalb fällt’s mir schwer, die Trennung durchzukurbeln. Wir waren gemeinsam auf Geburtstagen, Straßenfesten und Flohmärkten, in Restaurants, Cafés und Bars. Darüber hinaus hatten wir mal für seine Verhältnisse ausgefallenen Sex in meiner Dusche bei fließendem Wasser und in seiner Küche auf’m Ceranfeld unter der Dunstabzugshaube – hinter mir klapperten die Rührbesen, Suppenkellen, Saucenlöffel und Grillzangen. Das abendliche Kuscheln an den Wochenenden ist auch wieder mehr geworden.Sobald ich meine Zeit allerdings ohne ihn verbringe, schwelen die Sorgen und Belastungen erneut in mir. Ich bin unglücklich, weil die Basis nicht stimmt und ich ihn als Freund nicht ausreichend liebe.Steffens neue Ausrede für die bisher nicht erfolgte Auszahlung ist, er sei in kriminelle Machenschaften (Geldwäsche) verwickelt. Ich glaube überhaupt nix mehr und möchte mich abgesehen davon keineswegs weiter mit dem Klimbim beschäftigen. Soll doch Pascal den Hampelmann machen!Nach ewig langer Funkstille haben meine Exfreundin Melanie und ich uns wiedergetroffen. Das hat mir gutgetan und Klarheit geschaffen. Während ich mit der Gabel ’nen Chicken McNugget von seiner panierten Ummantelung befreite und ihn in den süßsauren Dip eintunkte, fragte ich, wie ich eigentlich damals in unserer Beziehung gewesen war, ob ich mich da auch so aufgegeben hätte.„Überhaupt nicht, im Gegenteil ...“, erwiderte sie und strich sich ihre welligen Haarbüschel hinter die kleinen, abstehenden Öhrchen. „... Du hast ausschließlich dein eigenes Ding gemacht, warst ziemlich unerreichbar und wenn überhaupt nur für wenige Stunden auf Partys wirklich nah. Aber selbst da schwirrtest du mal hier, mal dort umher. Du gehörtest niemandem. Jeder drehte sich nach dir um, das hast du stets gespürt und genossen oder abgewiesen. Der Kerl hier neben uns glotzt dich auch die ganze Zeit an.“ Feixend gab sie mir einen Wink in seine Richtung und biss hungrig von ihrem Cheeseburger ab.Ich wand mich perplex zur Seite „Ach, Melly, mach keine Witze! Ich komm mir ganz unscheinbar vor im Gegensatz zu früher als Goth-Königin – in extravaganten Kleidern und mit Schichten Kleister im Gesicht ... Guck mich jetzt an: Ich bin regelrecht piefig geworden.“„Nein, Vici, ich meine es ernst. Du hast diese Aura ... Und egal, ob du elegant, sexy oder sportlich angezogen bist, das ändert nichts daran. Du wirkst.“„War ich wirklich so skrupellos?“„Ja ...“, lachte sie, dass der gematschte Käse-Weizen-Buns und ihre Madonna-Zahnlücke zum Vorschein kamen. „... jedoch glaube ich nicht, dass du’s bös gemeint hast. Du hattest schon immer viel mit dir selbst zu tun.“Als ich meiner Therapeutin davon erzählte, schien diese nicht gerade überrascht zu sein.„Sie haben ein Nähe-Distanz-Problem, Frau Rickert“, sagte sie spröde – ohne die Miene zu verziehen. „Sie sehnen sich nach Nähe, die Ihnen zugleich Angst bereitet, weil sie Einlassen und somit das Risiko des Verlustes birgt. Um diese Nähe zu erlangen, sind Sie bereit, alles zu geben und in Kauf zu nehmen. Während Sie idealisieren und unkritisch sind, vergessen Sie aber, für sich selbst da zu sein. Bis Sie das für sich erkennen, haben Sie Ihr Selbst bereits voll und ganz vernachlässigt. Von da an kämpfen Sie also mühevoll darum, sich wieder aus den Fängen zu befreien, was wiederum Ihr Gegenüber sehr schwer verstehen kann. Sie sollten in Zukunft genauer hinsehen, wen Sie sich aussuchen, beziehungsweise von wem Sie ausgesucht werden. Weder das klammernde noch das unerreichbare Extrem tut Ihnen gut. Finden Sie ein Mittelmaß – in all Ihren Lebensbereichen.“Ich habe mit Rawinas Betreuerin geredet und ihr vorgeschlagen, sie einzuweihen, wenn ich meine, etwas für sie Neues und eventuell Hilfreiches über Rawina herauszufinden.Denn ich denke, dass ich als „Frischling“ einen anderen Blick auf unsere gemeinsame Klientin entwickeln könnte, da ich Neugier und Offenheit mitbringe, während meine Kolleginnen, die ihre Geschichten bereits seit Jahren kennen und nicht mehr hören können, vielleicht etwas eingefahren sind in ihrer Haltung.Trotz dessen musste ich feststellen, dass man mich häufig aus Situationen rausholte, in denen sich Rawina mir gegenüber öffnete. Das fand ich arg schade, weil ich gerne weiter an sie herankommen würde. Inzwischen scheint eine meiner Kolleginnen so weit gegangen zu sein, Rawina aufzufordern, sich bei Gesprächsbedarf ausschließlich an ihre zuständige Sozialarbeiterin zu wenden.Seither bedauert sie, sobald sie sich bei ihrer Erzählung selbst ertappt, bei allen anderen Kolleginnen, auch bei mir: „Ach, dir darf ich mich ja nicht anvertrauen!“Obwohl ich mich erst mal noch diskret und nur kurz angebunden verhielt, weil ich das Team nicht verärgern oder gar einen zu forschen Eindruck hinterlassen wollte, bin ich jetzt umso mehr entschlossen, mich über die Meinung der anderen hinwegzusetzen. Ganz gleich, ob zum Beispiel meine Anleiterin glaubt, Rawina plaudere jeden an, der ihr zuhöre – ich kann mir nicht vorstellen, dass es Rawina egal ist, vor wem sie sitzt. Sie spürt mein ernsthafteres Interesse. Und dieses Interesse bringt sie auch mir entgegen.Es gab wieder einen Fall im Team zu besprechen – einen äußerst perfiden von einer Mutter, die schon seit Jahren in die Einrichtung kommt, und deren Tochter, die meine Kolleginnen haben aufwachsen sehen. Ursprünglich war sie auf’m guten Weg – Schulabschluss, Beginn einer Lehre ... Bis ihre Erzeugerin alt, krank, verbraucht und fett wurde, sodass sie nicht mehr anschaffen gehen konnte. Weil natürlich irgendjemand das Geld nach Hause bringen musste, schickte sie ihre endlich achtzehnjährige Tochter auf den Strich (Lehre abgebrochen). Damit nicht genug – sie verleitete sie zum Heroinkonsum und steckte ihr eigen Fleisch und Blut mit Hepatitis C an.Meine Kolleginnen stehen nun im Konflikt, ein Hausverbot zu erteilen, da sie es nicht länger ertragen, Mutter und Tochter im Konsumraum „auf einen gelingenden Schuss“ anstoßen zu sehen, oder das Vertrauen der beiden zurückzugewinnen, indem sie dieses bizarre Abhängigkeitsverhältnis akzeptieren, um so mit der Jeweiligen einzeln ’ne vorwurfsfreie Aussprache führen zu können. Puh, war das krass. Ich finde diese Situation äußerst heikel. Am liebsten möchte man die Polizei oder das Jugendamt einschalten ... Doch das würde die Anonymitätswahrung aufheben, und wo die Tochter nun erwachsen und für sich selbst verantwortlich ist, kann keiner was tun. Zumal ihre Mutter sie stets vor Bezichtigungen in Schutz nimmt und jedes Einmischen in die Beziehung abwehrt. Moralisch verstößt sie gegen alle Werte und Normen, die man im Rahmen einer guten Erziehung eigentlich erwartet. Aber steht es einem deshalb zu, das Band, das die beiden offenbar trotzdem miteinander verbindet, zu zerschneiden?Ende Mai fand die Jahresfeier der Drogensuchtberatungsstelle statt, für die ich Einladungen gestaltete und ein Kunstprojekt mit den Besucherinnen startete. Auf Leinwand hatte ich die Frage Was bedeutet dir die Einrichtung? geschrieben.Die Antworten fielen sehr bewegend aus: Zuhause, Familie, Ankommen, ein Ort, an dem ich immer willkommen bin. ... Es wurden Herzen, Smileys und Blumen gemalt und zahlreiche Dankesgrüße formuliert. Auf der Party, die ich fotografierte, sind einige unserer Klientinnen trotz ihrer Überwindungshürde und Scham erschienen – das ging mir sehr zu Herzen. Rawina war auch dabei und stellte ihre liebevolle Mama und ihre Freundin Murmeline vor, die uns ein kleines Liedchen sang und dazu Gitarre spielte.7. JuliEs ist tatsächlich aus.Unseren Zweijährigen letzte Woche hab ich mir etwas romantischer vorgestellt, wo ich Pascal teuerste Pralinen gekauft und so viel Mühe in das Verfassen einiger hübscher Zeilen investiert hatte. Ich saß noch mit Susi im Auto, als ich Paschi per WhatsApp fragte, ob er auf dem Weg zu mir Kaffeepads aus dem Supermarkt mitbringen könne.„Und, bringt er die Pads mit, oder sollen wir noch mal einkaufen fahren?“, wollte sie wissen.„Nee, er hat kein Geld“, grummelte ich.„Wie, er hat kein Geld?! Ein gestandener Mann von sechsunddreißig hat am Monatsende keinen Cent mehr in der Tasche? Das glaub ich jetzt nicht, Vici!“„Tja, er hat wohl wie immer zu früh mit seinem Gehalt gerechnet.“„Das kann doch nicht wahr sein!“ Aufgebracht haute Muddi aufs Lenkrad. „Dann leiht man sich was – das ist das Mindeste, um seiner Frau einen Gefallen zu tun. Wir reden hier über zwei Euro!!“„Ja, ich find’s auch beschissen, Mom. Wahrscheinlich krieg ich nich’ ma’ was zum Jahrestag ... Die letzten Male hab auch immer nur ich ihm was geschenkt ...“In der Küche wartete ich mit der Übergabe meines Präsents, bis er mir das seine übergab.Was soll ich sagen ... Alles, was er sich für mich hatte einfallen lassen, war eine kleine, billige Plüschmaus, über die sich allenfalls eine Zehnjährige gefreut hätte. Ich war zutiefst enttäuscht und wütend.„Schade, dass ich dir gerade mal einen Groschen wert bin“, fing ich ruhig an. „Um ehrlich zu sein, finde ich dich ganz schön einfallslos. Auf diesen Tag, der eigentlich ein besonderer ist, hätt’ ich gern mit dir angestoßen. Das Datum weißt du schließlich nicht erst seit heute ...“Paschis Stimme erklang schrill und aggressiv: „Geld, Geld, Geld ... Ein richtiger Kerl muss Asche haben, was?“„Verwechsle mich nicht mit deiner kohlegeilen Exfrau, Pascal. Das ist nicht mein Niveau“, bellte ich zurück. „Du bist derjenige, der von nichts anderem spricht. Mir geht’s nicht um dein fehlendes Scheißgeld oder um Vermögen; ich erwarte nicht mal, dass du mich einlädst. Wir hätten genauso gut ein Picknick bei Sonnenuntergang machen können. Eine Karte schreiben oder ’n Blümchen pflücken kostet im Übrigen nada. Wir sprechen über zwei läppische Euro, die du von mir wiederbekommen hättest. Aber du verlässt dich nur auf andere – darauf, dass dein Lohn rechtzeitig da ist oder Steffen dich bezahlt ... Meiner Ma ist ja schon peinlich, dass ihre Tochter von ihrem Freund nicht verwöhnt wird.“„Ach, deiner Mutter erzählst du alles, was?! Wie steh ich denn da? So kann ich mich doch nicht auf ihrem Geburtstag blicken lassen!“, schrie er fast.„Du bist ohnehin nicht erwünscht, seit du ihre Wohnung auf unsere Bitte hin nicht gestrichen hast. Das hättest du wenigstens für mich tun können, wo sie dir gegenüber immer so großzügig war, was man von deiner Mutter nicht behaupten kann!“Während Pascal beinahe den Stuhl umwarf, brüllte er: „Weißt du was? Susi kann mich mal am Arsch lecken! Tschau!“, brauste davon und stieß mit einem so lauten Rumms die Tür hinter sich zu, dass der Boden wackelte.Ich blieb entsetzt sitzen und zündete mir eine Zigarette an. Die Pralinen aß ich noch am selben Abend auf, die Postkarte zerriss ich.Drei Tage später, nachdem wir uns einigermaßen wieder vertragen hatten, berichtete er begeistert, er habe sich einen Gebrauchtwagen gekauft. Ich fühlte mich dermaßen verarscht – das ist gar nicht in Worte zu fassen. Obendrein fragte er, wie ich es finden würde, wenn er durch die Vermittlung eines Kumpels Industriemechaniker werde und 3.000 netto verdiene. Dafür müsse er allerdings viel reisen und sei dann lediglich eine Woche im Monat zu Hause. Abgesehen davon, dass ich mir virtuell wieder an den Kopp fasste, weil ich nicht glauben konnte, wie jemand wirklich so närrisch sein kann, davon auszugehen, ohne jäh eine solche Ausbildung gemacht zu haben, reich zu werden, hing er mir im wahrsten Sinne zum Halse raus. Ich übergab mich auf ihn und beendete das Elend.
Letzte Schicht
16. Juli Vergangenen Mittwoch fand im Team der Abschied von meinen Kolleginnen statt. Während ich mich unter schlotternden Knien auf meine Ansprache vorbereitete (ich halte überaus ungern Reden vor größeren Zuschauergruppen), waren die Blicke neugierig auf mich gerichtet. „Ich möchte mich herzlichst für die spannende und abwechslungsreiche Zeit bedanken“, stotterte ich nervös und atmete tief ein. „Auch wenn ich zu Anfang häufiger in mich gekehrt gewirkt haben mag, da ich auf der einen Seite ohnehin ein Mensch bin, der neue Reize und Situationen erst mal beobachtet, für sich ordnet und reflektiert; auf der anderen Seite weil mir einige private Angelegenheiten Bauchschmerzen bereiteten, bin ich nun doch endlich hier warm geworden und bedaure, dass sich das Praktikum bereits dem Ende neigt. Ihr habt mich darin bestärkt und in meinem Entschluss sicherer werden lassen, nach meinem Studium weiterhin in der Drogenhilfe zu arbeiten, obwohl ich mit den wechselnden Diensten Schwierigkeiten hatte, wo mir persönlich Struktur enorm wichtig ist. Dennoch war’s ’ne tolle Erfahrung. Ich hab ’ne kleine Überraschung für euch und die Klientinnen.“ Lächelnd kramte ich in meinem Beutel und präsentierte meine Geschenke. „In dieser Schachtel befinden sich fünfzig Lebensweisheiten, von der jede Frau sich eine mit auf den Weg nehmen soll. Hoffentlich könnt ihr meine Schrift lesen. Außerdem hab ich euch eine Collage aus den schönsten Fotos der Jahresfeier zusammengestellt. Lasst uns anstoßen!“ Als für mich geklatscht, die Gläser erhoben und das Lied „Viel Glück und viel Segen“ im Kanon gesungen wurde, fing ich ergriffen zu weinen an. Wir umarmten einander, und von meiner Anleiterin erhielt ich schwarz auf weiß meine Beurteilung, über die ich mich sehr freute: Frau Rickert hat die vielfältigen und unterschiedlichen Aufgaben verantwortungsbewusst und zuverlässig erfüllt. Sie baute im Verlauf gute Kontakte zu den Besucherinnen auf und konnte Vertrauensverhältnisse herstellen. Ihre Vorgehensweise war dabei geprägt von einer akzeptierenden Haltung und Wertschätzung. Sie bewies sowohl Empathie als auch die notwendige Distanz. In schwierigen Situationen verhielt sie sich umsichtig und traf sichere Entscheidungen. Im Team zeigte sie sich interessiert und kollegial, lernte eigene Erfahrungen aus der praktischen Arbeit einzubringen und hieraus Handlungskonzepte abzuleiten. Überdies brachte Frau Rickert eine hohe Bereitschaft und Fähigkeit ein, Informationen und Kenntnisse aufzunehmen, zu verarbeiten und daraus Lernfortschritte zu machen. Eine besondere Bereicherung war für die Kolleginnen ihre kreative Mitarbeit in der Vorbereitung unserer Jahresfeier und bei der Gestaltung von Aushängen und Piktogrammen für unsere Besucherinnen. Meine letzte Schicht verlief nicht weniger anrührend. Diversen Klientinnen standen die Tränen in den Augen, als sie mich fest an sich drückten. Dass sogar eine, die sonst eher barsch und unnahbar ist, mein Aufhören sanft bedauerte, ging mir mega unter die Haut. „Ey, Vic ... das find ich echt mies, dass du gehst“, raunte sie burschikos heiser – Kaugummi schmatzend, mich leger breitbeinig anschielend. „Du bist ’ne Coole, ich hab dich irgendwie lieb gewonnen. Und du bist jemand, der sich ehrlich interessiert, der sich so schnell nich’ verschrecken lässt. Mit Praktikantinnen konnt’ ich bisher überhaupt nix anfangen, aber für mich warste schon ’ne vollwertige Sozialarbeiterin.“ „Ich hab dich auch lieb gewonnen und finde, dass wir gut miteinander ausgekommen sind, oder?“, grinste ich zur Aufmunterung. „Es würde mir Freude bereiten, dir mal wieder wie damals zufällig über den Weg zu laufen!“ Sie nickte zustimmend und zerkrümelte den Tabak in ihrem Schoß, um sich ’ne Fluppe zu drehen. Indessen glaubte ich zu wissen, wie sehr sie meine Worte, die ernst gemeint sind, schätzte, weil sie sich oft darüber beklagte, sie komme sich auf der Straße, in Bus und Bahn wie Abschaum vor, über den schlecht hergezogen und von dem sich angeekelt abgewendet werde, da sie halt ’n „Scheißjunkie“ sei. Das Highlight des Abends war ein Anruf von Rawina. Zehn Tage zuvor hatte ich ihr erzählt, welche Gedanken, Fragen und Interpretationen mich zu ihrem Verhalten beschäftigten, und versuchte, sie darin zu motivieren, erneut einen Entzug und ’ne Therapie zu machen. Sie reagierte ablehnend und kokettierte in ihrer galgenhumorigen Art mit Selbstmord. Ich hab ihr meine Hand aufs Bein gelegt und sie angefleht: „Rawina, du bist gerade mal Mitte vierzig. Das ist kein Alter zum Sterben. Denk doch mal an Murmeline, deine Mutter ... und mich, die ich ebenfalls um dich trauern würde. Wenn du die Chance nicht dir zuliebe nutzt, dann tu’s wenigstens für die, denen du wichtig bist.“ „Das bringt eh nüscht mehr!“, hat sie dreckig lachend gelallt, woraufhin ich ihr erbost und knallhart ins Gesicht warf: „Dann nimm dir doch das Leben, wenn du meinst, es lohne nicht, dafür zu kämpfen!“ Von da an war sie nicht mehr aufgetaucht und nun hörte ich sie am anderen Ende der Leitung leise sagen: „Nö, ich hab dich nicht vergessen, Vici. Wollt’ mich mal eben von dir verabschieden. Persönlich wäre na logo schöner gewesen, aber ich meide die Szene gerade, um nicht einzuknicken. Bin nämlich seit unserem letzten Gespräch trocken!“ Ich traute meinen Ohren kaum, bekam Gänsehaut vor Stolz und Glück und zog mit geschlossenen Augen einen Spruch aus der Box, den ich ihr vorlas und der besser nicht hätte passen können: Nichts muss so sein, nur, weil es immer so gewesen ist. Aus eigener Erfahrung ist mir natürlich klar, wie hart Rawina zu fighten haben und Rückschläge erleben wird – da mache ich mir überhaupt nichts vor. Dennoch ist der Ansatz ein Schritt in die richtige Richtung. Ich hoffe, dass sie es schafft, ihr Ziel eines Tages zu erreichen. Ich werde noch oft an sie denken. Dass ich meine Anleiterin schließlich davon überzeugen konnte, mir und meinem Umgang mit Rawina zu trauen, dessen bin ich sicher. Ihr ehemaliger Verdacht, ich könne durch die Parallelen in meinem Leben getriggert werden, hat sich nicht bestätigt. Stattdessen bin ich zu der Erkenntnis gekommen, keine Vergleiche zwischen meinen und den Erlebnissen der Klientinnen anzustellen. Hin und wieder fielen mir zwar ein paar Gemeinsamkeiten auf – dann aber spürte ich, mich in die unterschiedlichen Lebenslagen und Krisen hineinversetzen zu können, ohne dabei die eigenen aufkommen zu lassen. Es war so, als würde ich bemerken: „Ja, ich weiß, wovon du sprichst, was du gerade fühlst und denkst.“ Oder: „Ja, das ist mir nicht fremd, weil auch ich Ähnliches durchmachen musste.“ Als würde dieses Wissen meine Handlungsorientierung leiten – meine Beratung beeinflussen, mir passende Ratschläge auf die Zunge legen. Woran ich in der Hinsicht zukünftig arbeiten möchte, ist, dass ich das, was mir gerade durch den Kopf schießt, nicht übereilt ausspreche und auch sonst meine Karten nicht offenlege, um der beruflichen Professionalität gerecht zu werden. Andererseits seh ich’s genauso als meine Stärke an, zu einem kleinen Maß an Transparenz zu stehen, da es für die Besucherinnen von Vorteil sein kann zu wissen, jemanden vor sich zu haben, der bestimmte Abläufe in ihrer Komplexität praktisch, nicht nur theoretisch nachvollziehen kann. Was mir wiederum konstant mehr zu schaffen machte, waren die Unstimmigkeiten, Konflikte, gewisse Ansichten und Strukturen innerhalb des Teams. Nicht selten vernahm ich Spannungen zwischen den Kolleginnen, weil sie sich in ihren Meinungen uneinig waren, und fand, dass sie der betonten Wichtigkeit eines respektvollen Miteinanders nicht immer gerecht wurden. Vielleicht aber sah das auch nur ich als Außenstehende so. Darüber hinaus widerstrebten mir die erteilten Hausverbote bei Regelverstößen, die nicht selten damit begründet wurden, lernen zu müssen, sich erwachsen zu verhalten. Selbstverständlich braucht jede Einrichtung Regeln, dennoch kam’s mir als „Neue“ hie und da vor, als ob’s vereinzelt an pädagogischer Auseinandersetzung mit der Ursache des Problems fehlte, zumal ich ein Hausverbot als kaum hilfreich erachte, wo man’s doch in der Sozialen Arbeit in erster Linie mit Klienten zu tun hat, die eben überwiegend keine Erziehung, keine Regeln und keine Selbstbeherrschung erfahren und somit auch nicht gelernt haben, sich „erwachsen“ zu verhalten. Des Öfteren wirkten einige meiner Kolleginnen ebenfalls unglücklich mit solchen Bestrafungsmaßnahmen – daher würde es mir gut gefallen, wenn man individuellere Alternativen finden könnte. An der Straßensozialarbeit hätte ich gerne schon viel eher teilgenommen, aber das war mir leider nicht erlaubt. Wie diese konkret verläuft und was sie ausmacht, kann ich jetzt endlich berichten: Es gibt kurze (eine Stunde) und lange (vier, fünf Stunden) Strasos. Die lange bietet Raum für ausführlichere Beratungsgespräche und Kriseninterventionen. Dass man als Praktikantin erst sehr spät mitdarf, liegt daran, dass wir die Frauen first in den geschützten Räumen der Einrichtung kennenlernen und ihr Vertrauen gewinnen sollen, bevor wir als „Gast“ in ihre Lebens- und Arbeitsalltagswelt eintauchen. Bei der Straßensozialarbeit ist daher ausschlaggebend, wie man auf die Frauen zugeht. Es muss stets aufmerksam geschaut werden, ob unsere Kontaktaufnahme erwünscht oder unerwünscht ist. Nicht immer möchten die Frauen uns „sehen“, nur, weil sie uns kennen. Die Achtsamkeit gilt auch in Bezug auf andere Passanten: Wie ist das Polizeiaufgebot? Laufen unerkannte Zivis rum? Findet eine Anbahnung zwischen Sexarbeiterin und Freier statt? Diskretion und Anonymität sind gefragt – schließlich ist es nicht beabsichtigt, eine Frau bloßzustellen oder sie an ihrer Arbeit zu hindern. Als Straßensozialarbeiter muss man farblich gekennzeichnet sein, um sich so von anderen Straßensozialarbeitern zu unterscheiden. Meine Kolleginnen und ich trugen demzufolge einheitliche Jacken und rote Taschen mit „lebenswichtigen“ Utensilien, wie zum Beispiel Trinken (heiß und kalt), Snacks, Kondome, Gleitgel, Taschentücher, Sauerstoffmasken für den Notfall, Flyer von Einrichtungen, an die vermittelt wird usw. Mit neuen Frauen – also nicht unseren Klientinnen – kommt man über die Vergabe von Hygieneartikeln ganz passabel in Kontakt. Andere wiederum trauen sich nicht, die Einrichtung zu besuchen, weil sie sich nicht als Sexarbeiterinnen oder Drogenkonsumentinnen outen möchten. Abschließend kann ich zu meinem Praktikum sagen, dass mir die letzten Wochen am besten gefallen haben. Wenn ich meine Partnerschaft bereits früher beendet hätte, wäre die Arbeit wahrscheinlich leichter gewesen, da mich der Kummer zu stark eingenommen und abgelenkt hat. Des Weiteren leuchtet mir nun noch mehr ein, dass mein Essverhalten und meine Stabilität durch Krisen, neue und ungewohnte oder einengende Situationen in zwischenmenschlichen Beziehungen und im Beruf ins Wanken geraten. Damals hätte ich mir einen Job in Vollzeit wohl kaum zugetraut, wohingegen ich heute feststelle, dass ich mit Aktivität und Stress viel besser umgehen kann als vermutet. Der Druck im Vorhinein entsteht in meinem Hirn – ich bin es, die einen Berg erbaut, der erst mal nicht erklimmbar zu sein scheint und der mich vor Schreck passiv werden lässt. Zukünftig muss ich die Dinge einfach angehen. Die Dramatik kostet nicht nur Zeit, sondern auch Energie. Nichtsdestotrotz gehört sie zu mir und wird Teil meines Selbst bleiben. Die durch den Umzug entstandenen Schulden bei Mama sind fast abbezahlt, und ich bin stolz auf mich, seit Ende April insgesamt lediglich zweimal rückfällig geworden zu sein. Das ist ein Riesenfortschritt ... Die Kilos, die ich während meiner Arbeit zunahm, purzeln langsam und ohne Anstrengung. Vor mir liegen jetzt bis einschließlich September zweieinhalb Monate Semesterferien – genug Möglichkeit zur Selbstfindung. Obwohl es mich ein wenig ängstigt, von heute auf morgen zur Ruhe gezwungen zu sein, zumal ich befürchte, ich könnte die Trennung bereuen, bin ich gleichsam gespannt darauf, wie ich das, was mich erwartet, meistere. Mein Leben kann gar nicht falsch sein, denn es ist meins!
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