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3. Methodische Vorüberlegungen

Auch beim Arbeitnehmerschutz gibt es Normen und Rechtsprechungsgrundsätze, die schon immer gelten und praktiziert werden. Der Rechtspositivismus ersetzt in identischen Fällen eine Art permanente naturrechtliche und moralische Abwägung – aber eben nicht in allen. Der Rückzug auf eine bestehende Rechtslage ist allein noch kein Argument. Rechtswissenschaft darf sich nie auf die bloße Analyse von Normen begrenzen. Recht stößt in unzähligen Fällen an Grenzen. Die individuelle Abwägung durch Rechtsprechung und Rechtsfortbildung kann niemals ausschließlich an objektiven oder vermeintlich objektiven Kriterien erfolgen. Bereits die Auslegung normativer Tatbestandsmerkmale erfordert menschliche Wertungen, die über deren offensichtlichen sprachlichen Inhalt weit hinausgehen. Aber auch eine Definition löst oft nicht das eigentliche Wertungsproblem. Neben dem Rechtspositivismus muss es also eine weitere juristische Wertungskategorie geben. Sobald man Recht kritisiert oder moralisiert, verlässt man bereits die positivistische Rechtsbetrachtung.8

Jeder Rechtsanwender geht mit einem durch Sozialisation geprägten Rechtsgefühl oder Vorverständnis an Fälle (egal ob fiktiv oder real) heran.9 Es gibt Anleitungen, die genau dazu raten.10 Das ist hilfreich, um sich nicht im Normengeflecht zu verheddern. Juristen sind eben keine reinen „Subsumtionsautomaten“.11 Insofern kann es auch bei der Auslegung sinnvoll sein, einen Schritt vom Problem zurückzumachen und sich, unabhängig von der bestehenden Norm, zu fragen: Kann das richtig sein? Ist das sinnvoll und interessengerecht? Entspricht die Regelung gesellschaftlichen Werten? Die Antworten auf solche Fragen können nur offen sein. Formelartige Lösungen gibt es nicht. Man könnte darüber wohl umfangreiche und unendliche Diskussionen führen. Aufgabe der Rechtswissenschaften ist es, immer wieder diese Fragen zu stellen. Die Unzufriedenheit und der Zweifel an einem methodisch „richtig“ ermittelten Ergebnis bringen letztlich die Rechtsentwicklung und auch das gesellschaftliche Zusammenleben voran. Dem Selbstverständnis einer „offenen Gesellschaft“ und von Wissenschaftstheorie im Allgemeinen entspringt daher die Erkenntnis, dass es keine absoluten Wahrheiten gibt.12 Man kann nur einstweilen beste Lösungen von Problemen finden und sie weiter permanenter Kritik aussetzen, bis man eine bessere These gefunden hat.13 Eine ständige Rechtsprechung ist daher kein Ruhekissen; denn auch liebgewonnene Auffassungen (und praktisch funktionierende Lösungen) müssen von Zeit zu Zeit angezweifelt werden.

Was hat das jetzt mit dem Insolvenzgeld zu tun? Auf den ersten Blick gar nichts. Auf den zweiten Blick jedoch ist die obige Überlegung die über die Rechtswissenschaft hinausgehende erkenntnistheoretische Grundlage. Eine umfangreiche Monografie, die insbesondere den Sanierungsaspekt näher beleuchtet, gibt es bislang nicht.14 Warum also nicht versuchen, einem praktisch erprobten Problemfeld, dem Insolvenzgeld und dessen Vorfinanzierung, neue Hypothesen abzuringen? Ziel ist es, nach dem Prinzip des „Trial and error“ und des „probierten Denkens“ mehr oder weniger neue Wege zu finden,15 um das bestehende System des Insolvenzgelds im Hinblick auf die Sanierung und Vorfinanzierung weiter zu verbessern und die Zwecke des Insolvenzverfahrens zu fördern. Das ist die Aufforderung zur „Perspektive legitimer Perspektivenvielfalt“ und Kritik.16 An einigen Stellen werden sich hier daher Ideen oder Andeutungen finden, die nicht bis ins Detail erprobt oder durchdacht sind, sondern zu Kritik geradezu einladen sollen. Unangreifbarkeit war nie mein Anspruch. Die wesentliche Herausforderung der Rechtswissenschaft bleibt, immer wieder nachzufragen, ob das geltende Recht noch den Maßstäben entspricht, die an eine freie, offene und soziale Rechts- und Gesellschaftsordnung zu stellen sind.17 Die wesentliche Ausgangsfrage ist also: Wie können Insolvenzgeld und Vorfinanzierung möglichst gewinnbringend für die Sanierung von Unternehmen eingesetzt werden, ohne dass es dabei zu einer Fehlallokation von Sozialleistungen kommt?

6 BSG NZI 2015, 720–722. 7 Vgl. zur Theoretisierung Petersen, Freiheit unter dem Recht: Friedrich August von Hayeks Rechtsdenken S. 218ff. 8 Zippelius, Rechtsphilosophie, S. 61. 9 Zippelius, Rechtsphilosophie, S. 102f. 10 Möllers, ZfPW 2019, 94 (117). 11 Vgl. zum Problem Rüthers, JuS 2011 865, (866). 12 Vgl. den Appell von K. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Band 1 S. 268; Zippelius, Rechtsphilosophie S. 67, der zu Recht, die Methoden Poppers für die Rechtsgewinnung fruchtbar macht; zum Münchhausen-Trilemma auch Hans Albert, Traktat über kritische Vernunft. 13 Vgl. den Appell von K. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde Band 1 S. 268; Zippelius, Rechtsphilosophie S. 67. 14 Dazu nur ansatzweise Grepl, Die Funktionen des Insolvenzgelds. 15 Zippelius, Rechtsphilosophie S. 70. 16 Zippelius, Rechtsphilosophie S. 70. 17 Mahlmann, Konkrete Gerechtigkeit S. 29ff.

IV. Insolvenzgeld in der gesamtgesellschaftlichen Betrachtung
1. Der gesellschaftliche Wert des Insolvenzgeldes

Den sozialpolitischen, aber auch wirtschaftlichen Wert der Vorschriften zum Insolvenzgeld zu ermitteln, ist vergleichsweise einfach. Das Insolvenzgeld ist wirtschafts- und sozialpolitisch bedeutsam, obwohl es gesamtgesellschaftlich kaum Bekanntheit hat. Als Sozialleistung definiert es einen hohen Schutzstandard. Eins daher vorweg: Wann immer nachfolgend Kritik anklingt, handelt es sich um Kritik auf sehr hohem sozialstaatlichem Niveau. Durch die Umlagefinanzierung des Insolvenzgeldes bedarf es auch keiner paritätisch aufgebrachten Beiträge. Es ähnelt insoweit der Unfallversicherung. Das Insolvenzgeld ist im Hinblick auf seine Differenziertheit, Reichweite und Funktion international einzigartig. Die anklingende Kritik soll nicht dazu verleiten, sozialen Pessimismus zu schüren oder dem negativity bias zu verfallen.18 Zugleich sollen aber auch nicht die Probleme prekär Beschäftigter verkannt werden. Nur zur Einordnung: Das englische Recht sieht beispielsweise eine Begrenzung des Insolvenzgelds der Höhe nach vor. Aufgrund der „insolvency proceeding order 1986“ ist die Höhe des Insolvenzgelds auf monatlich maximal 800 Pfund begrenzt.19

2. Sanierung im finanzpolitischen Kontext

Keine Sanierung ohne Insolvenzgeld! So oder so ähnlich könnte die Losung der meisten Insolvenzverwalter lauten. Bei einem laufenden Geschäftsbetrieb wird sich der Insolvenzverwalter unverzüglich darüber informieren lassen, wie lange schon keine Löhne mehr gezahlt wurden. Umso mehr Löhne offen sind, desto kleiner wird die Sanierungschance. Diese These wird wohl die Mehrheit der Insolvenzverwalter, ohne zu zögern, unterstützen. Hintergrund im Insolvenzeröffnungsverfahren ist das Insolvenzgeld und dessen Vorfinanzierung. Allein im medial viel beachteten Insolvenzverfahren von Air Berlin flossen neben den unmittelbaren staatlichen Darlehen in Höhe von 150 Mio. EUR weitere ca. 46,3 Mio. EUR Insolvenzgeld an die Mitarbeiter.20 Für ein einzelnes Unternehmen ist das eine ganz erhebliche Summe. Die Summe ist aber mit dem Gesamtbundeshaushalt von 1,4 Mrd. EUR für Arbeit und Soziales ins Verhältnis zu setzen.21 Aus sozialrechtlicher und finanzpolitischer Sicht handelt es sich also nicht um die größte Position im Haushalt der sozialen Sicherung. Erheblich größeren finanziellen Einfluss haben die Leistungen nach dem SGB II sowie die Rentenleistungen. Diese verursachen Kosten in Höhe von ca. 1,04 Mrd. EUR.22 Gleichwohl sollte man den ökonomischen Einfluss des Insolvenzgelds auf den Arbeitsmarkt insgesamt nicht unterschätzen. Im besten Fall lassen sich damit Arbeitsplätze, Wirtschaftskraft und vor allem auch Know-how erhalten. Die Synergieeffekte sind groß. Neben der unmittelbaren finanziellen Belastung des Bundeshaushaltes ist der Effekt auf die Volkswirtschaft vermutlich größer, als es zunächst aussieht. Das Verständnis für Herkunft und Grundlagen des Insolvenzgeldanspruches ist erforderlich, um die spätere Sanierungsrelevanz der Vorschriften zum Insolvenzgeld herauszustellen und überhaupt nachvollziehen zu können.

3. Überblick über weitere Sanierungsmittel

Selbstredend ist das Insolvenzgeld nicht das einzige Sanierungsinstrument für Insolvenzverwalter. Beliebte Sanierungsmittel können beispielsweise auch: das Gesellschafterdarlehen, die Durchführung einer Kapitalerhöhung, der Debt-Equity Swap (bei dem ein Gläubiger auf Forderungen zugunsten von Gesellschaftsanteilen verzichtet) oder die Umstrukturierung bzw. Abspaltung von Unternehmensteilen sein.23 Es ist nicht Teil dieser Arbeit, alle diese Sanierungsmittel auszuwerten und mit dem Insolvenzgeld zu vergleichen. Dennoch sollte man sich bewusstmachen, dass Sanierung selten nach nur einem einzigen Schema funktioniert. Eine Strategie, die für ein Unternehmen funktioniert, kann ein anderes in die Katastrophe führen. Manche der oben genannten Möglichkeiten kommen von vornherein nicht in Betracht, weil die Beteiligten beispielsweise nicht bereit sind, die entsprechenden Maßnahmen mitzutragen. Hier zeigt sich bereits ein wesentlicher Vorteil des Insolvenzgelds. Es ist weniger stark vom Willen der Beteiligten abhängig. Grundsätzlich kommt der Einsatz des Insolvenzgelds als Sanierungsmittel daher immer in Betracht. Das Insolvenzgeld als Sozialleistung an die Arbeitnehmer ist aber nicht bzw. nur sehr eingeschränkt den privatautonomen Regelungen der Marktwirtschaft unterworfen. Die Bundesagentur für Arbeit muss aufgrund der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung begründen, warum sie die Auszahlung des Insolvenzgelds oder die Zustimmung zur Vorfinanzierung verweigert. Die Gewährung von Insolvenzgeld steht als Anspruch nicht im Ermessen der Behörde. Vertragspartner in der freien Wirtschaft sind nicht gesetzlich verpflichtet, Darlehen zu gewähren oder sich an einer Sanierung zu beteiligen. Die Bundesagentur für Arbeit ist es hingegen schon.

18 Vgl. dazu Rozin/Royzmann, Personality and Social Psychology Review 2001, Vol. 5, No. 4,296ff. 19 Abrufbar unter https://www.legislation.gov.uk/uksi/1986/1996/pdfs/uksi_19861996_en.pdf (zuletzt besucht am 7. Juni 2019, 16:00 Uhr). 20 So jedenfalls Handelsblatt v. 24. Januar 2018 abrufbar unter https://www.handelsblatt.com/unternehmen/handel-konsumgueter/air-berlin-kunden-undmitarbeiter-gehen-leer-aus/20883904.html?ticket=ST-2706948-LWYJvzix-KoHX9VH3wGL5-ap6 (zuletzt besucht am 1. Juni 2019). 21 Bundeshaushalt 2019 abrufbar unter https://www.bundeshaushalt.de/#/2019/soll/ausgaben/einzelplan/11.html (zuletzt besucht am 1. Juni 2019). 22 Bundeshaushalt 2019 abrufbar unter https://www.bundeshaushalt.de/#/2019/soll/ausgaben/einzelplan/11.html (zuletzt besucht am 1. Juni 2019). 23 Vgl. zu den Möglichkeiten und deren steuerlicher Betrachtung Auswirkungen Sonnleitner, Insolvenzsteuerrecht Rn. 3–8.

V. Wo ist jetzt eigentlich das Problem?
1. Auslegung der §§ 165ff. SGB III

Zu Recht wird sich der Leser nun fragen, wo sich die juristischen Probleme im Zusammenhang mit dem Insolvenzgeld verbergen. Es geht tatsächlich weniger um eine allumfassende Darstellung der sozialrechtlichen Normen, sondern vielmehr um eine teilweise ökonomische, primär juristische, aber auch sozialpolitische Analyse des Insolvenzgelds unter rechtspraktischen Aspekten. Eine Schnittstellenmaterie, wie es das Insolvenzgeld ist, lässt keine punktuelle Darstellung oder Auslegung zu. Dementsprechend wird es notwendig sein, auch bei den einzelnen Rechtsfragen Schwerpunkte zu setzen. So werden in der Darstellung die wesentlichen Fragen zum konkreten Umfang des Insolvenzgelds ausgespart. Hier wäre eine Vielzahl von Einzelfällen aufzuarbeiten. Die praktische Relevanz ist zwar gerade für die Arbeitnehmer groß, aber es hat sich diesbezüglich eine umfangreiche Kasuistik entwickelt. Dabei kommt es stark auf die individualvertraglichen Vereinbarungen an. Die Aufarbeitung dieser Fallgruppen soll daher der Kommentarliteratur überlassen bleiben.24

Stattdessen soll es zunächst ganz allgemein um die juristische Entwicklung des Insolvenzrechtes und der Vorfinanzierung gehen. Ganz ohne historischen Abriss wird das nicht funktionieren. Schon hier werden sich wesentliche Unterschiede zwischen Insolvenzgeld einerseits und der Sanierungsfunktion der Insolvenzordnung andererseits zeigen. Danach folgt die Darstellung der Regelungen zum Insolvenzgeld und dessen Vorfinanzierung. Hier liegt ein Schwerpunkt, weil die Vorfinanzierung in besonderem Maße Sanierungsrelevanz hat. Die einzelnen Tatbestandsmerkmale spielen dabei eine wesentliche Rolle. Im weiteren Verlauf werden dann die Besonderheiten der Eigenverwaltung für das Insolvenzgeld und dessen Vorfinanzierung untersucht. Dabei treten praktisch diverse Probleme auf, die zumindest de lege ferenda anders und effektiver gehandhabt werden könnten.

2. Mehrfache Insolvenzereignisse

Ein zweiter Schwerpunkt – und darauf bezogen sich die einleitenden Ausführungen – soll auf der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zu mehrfachen Insolvenzereignissen liegen. Dazu ist es sinnvoll, chronologisch vorzugehen, um die Unterschiede im Einzelnen zu untersuchen. Die Rechtsprechung des BSG führt beispielsweise dazu, dass ein bereits eingetretenes Insolvenzereignis weitere „neue“ Insolvenzereignisse, die erneut Insolvenzgeld auslösen könnten, sperrt.25 Ist also ein Insolvenzereignis eingetreten, kann es in sozialrechtlicher Hinsicht nicht oder bzw. nur unter anderen Voraussetzungen nochmal eintreten. Scheitern Sanierungsmaßnahmen, haben die Arbeitnehmer also keinen erneuten Anspruch auf Insolvenzgeld, solange die Sperrwirkung des ersten Ereignisses fortdauert. Das kann unter anderem bei zwischenzeitlichen Neueinstellungen oder Entlassungen in der Sanierungsphase zu rechtlich interessanten Folgefragen führen. Hier wird auch dem Problem nachgegangen, warum und aus welchen Gründen das BSG in ständiger Rechtsprechung an dieser Sperrwirkung festhält und, ob das überhaupt sinnvoll ist. Auch diese Fragen können nur vor dem Hintergrund der Entwicklung des Insolvenzrechtes von einem reinen Abwicklungsverfahren hin zu einem Sanierungs- und Entschuldungsverfahren untersucht werden. Es wird ebenfalls darum gehen, welche Schnittstellen zum Arbeits- und Sozialrecht bestehen und wie sich diese auf die Auslegung auswirken können.

Letztlich werde ich versuchen, auf dieser Grundlage einen Gegenentwurf zu dieser recht restriktiven Rechtsprechung des BSG zur Diskussion zu stellen. Die Kritik an einer so speziellen und detaillierten Rechtsfrage setzt aber auch voraus, dass zunächst die sozialrechtlichen und normtheoretischen Grundlagen betrachtet werden. Das gilt auch für die insolvenzrechtlichen Abläufe einer Sanierung, die durch die Insolvenzordnung vorgegeben werden. Auf welche Art das BSG die Problematik mehrfacher Insolvenzereignisse löst und wie sich vor allem die Sperrwirkung des ersten Insolvenzereignisses auswirkt, soll näher betrachtet werden. Dabei soll der Rechtsprechung des BSG ein eigenes Gesamtkonzept gegenübergestellt werden, welches die unterschiedlichen Anforderungen in anderer Art und Weise vereint. Es schließt sich sodann eine Diskussion über die Missbrauchsmöglichkeiten, Grenzen und Risiken des Insolvenzgelds und der Vorfinanzierung an. Zuletzt wird betrachtet, ob und wenn ja, wie Insolvenzverwalter, vorläufiger Insolvenzverwalter und Sachwalter haften, falls eine Vorfinanzierung scheitert oder gar nicht durchgeführt wird. Dabei sind weitere Kriterien heranzuziehen als bei der allgemeinen Haftungsprüfung, da das Insolvenzgeld als sozialrechtliche Spezialmaterie eben auch andere Haftungsrisiken birgt.

24 Vgl. die sehr gute alphabetische Übersicht bei Brand/Kühl, § 165 SGB III Rn. 40; Vgl. auch Schelp, NZA 2010 S. 1095–1101. 25 Ständige Rechtsprechung seit BSG ZIP 1999, 762–765; zuletzt BSG ZInsO 2017, 2183–2188.

B. Insolvenzgeld und Sanierung beim Eintritt des ersten Insolvenzereignisses

I. Historischer Kontext
1. Sinn und Unsinn einer historischen Darstellung

Die historische Auslegung steht nicht isoliert neben anderen Auslegungsmethoden, sondern ergänzt und stützt sie.26 Wie einzelne Buchstaben erst zusammen ein Wort ergeben und erst das Zusammenspiel von Prädikat und Subjekt einen Satz ergibt, so lassen sich Gesetze erst verstehen, wenn man neben Wortlaut, Systematik und Telos den Kontext ihrer Entstehung nachvollzieht. Es geht dabei weniger um „neue“ historische Erkenntnisse, als vielmehr um die Einordnung der Norm in einen Zeitkontext. Ein umfangreicher historischer Exkurs ist nur dann sinnvoll, wenn damit tatsächlich ein Mehrwert für die Auslegung und die Lösung eines rechtlichen Problems verbunden ist. Es muss sich um Informationen handeln, die zum Verständnis einer Norm unabdingbar sind. Unbestritten kann die Betrachtung der Geschichte das Verständnis schärfen. Manchmal ist die historische Auslegung sogar der einzige Zugang zum Verständnis einer Norm. Sie sollte aber kein seitenfüllender Selbstzweck sein. Die Geschichte kann nur Ausgangspunkt, aber nicht Ziel einer methodischen Annäherung an den objektiv gültigen Sinn eines Rechtssatzes sein.27 Andererseits ist zu beachten, dass der Wille des historischen Gesetzgebers sich meist abschließend im Normtext manifestiert hat.28 Es folgt somit nur ein kurzer Abriss einiger wesentlicher historischer Schritte. Diese sind Grundlage für den Zugang zum Sozialrecht allgemein und speziell zum Insolvenzgeld. Am Ende dieses Exkurses werden einige Erkenntnisse stehen, die auch für die zukünftige Ausrichtung des Insolvenzgelds interessant sind.

2. Vom Konkursausfallgeld zum heutigen Insolvenzgeld

Die Regelung, damals noch in §§ 141a bis 141n AFG normiert, begründete erstmals den sozialversicherungsrechtlichen Schutz der Arbeitnehmer für den Fall der Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers. Grundlage war das 3. AFG-ÄndG vom 17. Juli 1974.29 § 141b AFG regelte dabei die Insolvenzereignisse (Eröffnung des Konkursverfahrens, Abweisung mangels Masse, Beendigung der Betriebstätigkeit), während § 141a AFG Konkursausfallgeld folgendermaßen legaldefinierte: „Arbeitnehmer haben bei Zahlungsunfähigkeit ihres Arbeitgebers nach diesem Unterabschnitt Anspruch auf Ausgleich ihres ausgefallenen Arbeitsentgeltes (Konkursausfallgeld).“30

Die Einführung wurde kurze Zeit später im Jahre 1980 durch die Richtlinie des Rates der EWG 80/987 vom 20. Oktober 1980 überholt. Damit wurden alle Mitgliedstaaten der damaligen EWG durch die Richtlinie europarechtlich verpflichtet, entsprechende Garantieeinrichtungen zu schaffen. Diese sollten sicherstellen, dass Arbeitnehmer auch in der Insolvenz ihre Arbeitsleistung zumindest teilweise vergütet bekommen.31 Eine konkrete Höhe gab die Richtlinie nicht vor. Träger der deutschen Garantieeinrichtung ist die Bundesagentur für Arbeit, die – so jedenfalls die damalige Überlegung des Gesetzgebers – aufgrund der weit verzweigten Einrichtungen am besten in der Lage sei, eine zeitnahe Prüfung und Auszahlung zu gewährleisten.32 Die 1974 eingeführten Normen galten im Wesentlichen inhaltlich unverändert bis zum 1. Januar 1999 fort.33 Als die Insolvenzordnung die Konkursordnung abgelöst hatte, wurden die Vorschriften in die §§ 183 bis 189 a SGB III implementiert. Dabei blieb der wesentliche Kernbereich der Regelungen erneut unangetastet.34 Mit dem Job-AQTIV-Gesetz vom 10. Dezember 2001 wurden die Normen dann hauptsächlich im Hinblick auf grenzüberschreitende Sachverhalte in § 183 Abs. 1 S. 1 und Abs. 1 S. 2 angepasst.35 Zudem wurden in S. 3 und 4 Vorschriften eingefügt, die spezielle Regelungen zum Arbeitszeitguthaben trafen. Auch hierbei blieben umfangreiche Reformen am Regelungskonzept und am Prinzip des Insolvenzgelds aus. Letztlich führte das Gesetz zur Verbesserung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt vom 20. Dezember 2011 zu einer neuen Systematisierung des SGB III, sodass nunmehr die Regelungen zum Insolvenzgeld von den §§ 183ff. SGB III a.F. in die §§ 165ff. SGB III überführt wurden.36 Inhaltliche Änderungen waren damit, wenn man von redaktionellen Anpassungen und der sprachlichen Gleichsetzung von Männern und Frauen absieht, nicht verbunden und vom Gesetzgeber auch nicht beabsichtigt.37

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