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12 – Von der Straße

Silvester. Rosas Wecker klingelte am Morgen des 31. Dezembers früh. Seit Rosa gestern Abend der Einfall gekommen war, dass unter Umständen ein Zusammenhang zwischen dem Gül-Rokamp-Fall sowie den Verhaftungen von Griedl und Büsking bestand, ließen die Spekulationen sie nicht mehr los. Sah sie in den Tagesnachrichten auf einmal Verbindungen und Muster, die tatsächlich gar nicht existierten? Sie packte plötzlich eine schreckliche Angst davor, dass die traumatische Erfahrung der Vergewaltigung sie womöglich in ein labiles paranoides Wrack verwandelt haben könnte.

Um kurz nach halb acht Uhr wechselte Rosa die Sicherheit und Geborgenheit des Hauses für die Dunkelheit des Wintermorgens ein. Die Banker Büsking und Griedl waren Kommilitonen ihres Vaters gewesen. Bevor Rosa mit ihrer Familie gebrochen hatte, hatte die Tochter des Hauses die beiden Freunde der Familie zu verschiedenen Anlässen gelegentlich zu Gesicht bekommen. Es half nichts. Obwohl es ihr davor graute, musste sie den eisernen Vorhang, den sie vor zwei Jahren zwischen ihrer Wohnung im Hamburger Norden und dem Neubau ihres Vaters an der Elbchaussee gezogen hatte, für einen Tag lüften. Sie musste ihren Vater einfach zu den Verhaftungen befragen. Vielleicht wusste er etwas, was ihr weiterzuhelfen vermochte.

Rosa überquerte die Semperstraße, um zu der Bushaltestelle Goldbekplatz zu gelangen.

Auf einmal tauchte ein schwarzer Lieferwagen direkt neben ihr wie eine jäh aus dem Boden geschossene undurchdringliche Wand auf. Alles ging furchtbar schnell. Ein Tuch wurde ihr über den Kopf gezogen. Kräftige Männerhände zerrten sie rabiat auf eine Ladefläche. Eine blecherne Tür krachte zu. Ihre Hände wurden mit etwas auf ihrem Rücken zusammengebunden, was ein Teppichbinder sein konnte. Plastik schnitt in ihre Handgelenke. Höllischer Schmerz. Sie brüllte auf, woraufhin eine schwielige Handinnenfläche so stark auf ihre rechte Gesichtshälfte niederfuhr, dass sie für mehre Sekunden einseitig taub war. Sie wurde geknebelt. Panik. Eine Entführung. Der Einstich einer Spritze in der linken Armbeuge. Schwindendes Bewusstsein.

Als sie allmählich wieder zu sich kam, saß Rosa auf einem Stuhl, die Hände noch immer auf dem Rücken gefesselt, aber ohne Knebel im Mund. Obwohl sie noch etwas benommen war, registrierte sie schnell, dass sie sich in einem alten Schuppen befand. Durch ein Fenster konnte sie dann erkennen, dass es draußen inzwischen hell geworden war und sie irgendwo aufs Land verschleppt worden sein musste. Nichts als kahle Baumkronen vor einem fahlen Winterhimmel lagen in ihrem Sichtfeld.

Drinnen marschierte ein massiger, komplett in Schwarz gekleideter Mann mit einer Sturmmaske vor ihr auf und ab. Sobald er merkte, dass sie wieder bei Bewusstsein war, fragte er sie grob:

„Woher hast du die Information, dass jemand Diamanten unter geschädigten Kleinanlegern verteilt?“

Rosa schwieg.

„Rede schon, Miststück.“

Der Mann schrie jetzt. Offensichtlich lief er an diesem gottverlassenen Ort keine Gefahr, von Leuten gehört zu werden, die für sie Rettung versprachen. Mithin konnte sie auf Hilferufe wohl getrost verzichten. Sie spuckte vor sich auf den Boden, um ihrer Verachtung Ausdruck zu verleihen. Niemals würde sie Deniz Güls Namen dieser verdorbenen Drachenbrut preisgeben.

„Okay, du willst es nicht anders. Macht sie los!“

Rosa schaute zunächst über ihre linke, dann über ihre rechte Schulter. Dort stand auf jeder Seite eine identische Kopie ihres Inquisitors. Zwei rabenschwarze Maulwürfe, die ihr gerade die Plastikfesseln lösten. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass der Schuppen allerhand Gartenwerkzeug enthielt. Während seine Komplicen sie fixierten, hielt der Inquisitor eine geöffnete verrostete alte Gartenzange an ihren linken Daumen.

„Letzte Chance. Wer sind deine Informanten, Lügenpresse?“

Rosas Verstand überschlug sich. Er hatte sie Lügenpresse genannt. Ein prominenter Verwender dieses Begriffs war Goebbels im Dritten Reich gewesen. Noch heutzutage wurde er bisweilen von Rechtsradikalen gebraucht, um negativ über sie Bericht erstattende Medienvertreter zu diffamieren. Wer sind diese Leute? Sicherlich würden sie nicht so weit gehen und ihr einen Finger abtrennen. Schließlich waren sie hier immer noch in Deutschland, einem Rechtsstaat, nicht in irgendeiner Dritte-Welt-Bananenrepublik.

Sie schüttelte den Kopf.

Dann schnappte die Zange zu.

13 – Altes Land bei Hamburg

Matthias Bormann war das, was man einen Profi nannte – in doppelter Hinsicht. Unter einem Vorwand hatte er gestern Nachmittag Rosa Peters Wohnadresse in der Redaktion des homo oeconomicus in Erfahrung gebracht. Dasselbe galt im Übrigen auch für die Handynummer der hübschen asiatischen Empfangsdame, mit der er dort sprach. Bei ihr zuhause hinter dem Hauptbahnhof in St. Georg verbrachte er dann schließlich den längeren Teil seiner ersten Nacht hoch im Norden.

Um fünf Uhr des darauffolgenden Morgens fuhr Bormann mit seinem forstgrünen Land Rover Defender in der baumbestandenen Semperstraße vor. Er hatte Glück. Gegenüber dem Mehrfamilienhaus, in welchem Rosa wohnte, war noch eine einzige Parklücke unter einer haushohen Linde vakant. Jemand musste früh zur Arbeit aufgebrochen sein, da er sofort zu erkennen imstande war, dass in diesem urbanen Viertel über Nacht alle Parkplätze besetzt zu sein pflegten.

Er drehte den Zündschlüssel um. Es war zwar kalt und die Heizung ein Segen, aber ein laufender Motor würde zu viel Aufmerksamkeit erregen. Bormann hatte die Haustür gut im Blick. Der Standpunkt eignete sich hervorragend für seine Observation. Er setzte sich die Kapuze seines gut gefütterten Anoraks auf, stellte die Rückenlehne zurück und schlürfte aus einem Pappbecher einen Kaffee, den er sich vorhin auf dem Weg hierher in einer rund um die Uhr geöffneten Tankstelle gekauft hatte.

Bald schon war die Luft im Innenraum des Fahrzeugs soweit herunter gekühlt, dass Bormanns Atem kondensierte. Als er seinen Kaffee leer getrunken hatte und die Finger nicht mehr an dem mit der heißen Flüssigkeit gefüllten Becher warmhalten konnte, zog er sich seine Lederhandschuhe an. Er stellte sich auf eine lange Wartezeit ein. Fünf Uhr morgens hatte er als Ankunftszeit gewählt, weil er sich sicher war, dass die Journalistin vorher auf keinen Fall das Haus verlassen würde. Er ging davon aus, dass dies aller Voraussicht nach frühestens erst um acht, neun Uhr der Fall sein dürfte. Wenn überhaupt.

Um 6:13 Uhr fuhr ein schwarzer Mercedes-Lieferwagen sehr langsam an ihm vorbei. Im linken Seitenspiegel hatte er ihn von hinten kommen sehen. Drei ebenfalls in Schwarz gekleidete, dem ersten Anschein nach außergewöhnlich füllige Männer mit rauschenden Vollbärten saßen in der Führerkabine.

Bormann sank tief in Fußraum und Sitz. Er hoffte, nicht entdeckt zu werden. Als der Wagen an Peters Haustür vorbeigefahren war, beschleunigte dieser wieder. An der nächsten Kreuzung bog er nach links ab. Kaum eine Minute später erschien er erneut im Rückspiegel und hielt dort an der letzten Kreuzung vor Rosa Peters Haus. Zwar handelte es sich nicht um einen offiziellen Parkplatz, aber dort würden sie stehen bleiben können, solange jemand am Steuer blieb.

Um 7:34 Uhr kam Rosa mit einem sehr geschäftigen Ausdruck im Gesicht aus der Haustür. Bormann erkannte sie von ihren Facebook-Photos her, welche die IT-Abteilung des BKA ihm auf sein Ersuchen hin besorgt hatte. Sie entfernte sich von ihm auf dem Bürgersteig in der dem wartenden Lieferwagen entgegengesetzten Richtung. Hinter ihm hörte er einen Motor aufheulen. Als Rosa die Straße überqueren wollte, war der Lieferwagen auf einmal neben ihr. Zwei Männer sprangen heraus, packten sie jäh, zogen ihr ein Tuch über den Kopf und hoben sie gewaltsam in den Laderaum. Dann flog die Tür des Lieferwagens wieder zu. Das ganze hatte kaum fünf Sekunden gedauert. Soweit Bormann das beurteilen konnte, hatte außer ihm niemand auf der Straße etwas davon mitbekommen.

Er startete den Motor und begann die Verfolgung. Während er versuchte, nicht allzu dicht an der Stoßstange des Lieferwagens zu hängen, folgte er diesem zunächst am westlichen Ufer der Alster sowie dann der Elbe entlang durch Harvestehude, Rotherbaum, St. Pauli, Altona und Ottensen. Als Bormann auf der Autobahnauffahrt klar wurde, dass sie den Elbtunnel nehmen würden, stellte er sich auf eine längere Reise ein.

Unmittelbar nachdem sie aus dem Untergrund aufgetaucht waren fuhren sie schon wieder von der Autobahn ab auf die Finkenwerder Straße Richtung Altes Land. Bormann erlaubte jetzt mehr Abstand zwischen sich und dem Lieferwagen. Die Gegend war weithin einsehbar und die Morgendämmerung hatte eingesetzt.

Auf der rechten Seite ließen sie den direkt an der Elbe gelegenen Flugplatz des europäischen Luftfahrtkonzerns Airbus liegen. Dann mäanderten sie für ungefähr eine Viertelstunde parallel zum südlichen Elbdeich durch die nebelverhangenen Obstwiesen der Elbmarsch. Sie durchzog ein aus Abertausenden kleinen Kanälen bestehendes Bewässerungssystem. Im Sommer reiften hier unzählige Äpfel, Birnen und Kirschen heran.

Als der Lieferwagen vor ihm in die ein paar Hundert Meter lange Schottereinfahrt eines verlassen aussehenden Gehöfts einbog, stoppte Bormann sofort seinen Wagen. Er ließ ihn am Straßenrand stehen und ging den Rest des Weges zu Fuß durch die kahlen Bäume der Obstwiesen. Das Gebäudeensemble des Obsthofes aus rotem Backstein lag mutterseelenallein in der Marsch. In jede Richtung musste man nahezu einen Kilometer bis zur nächsten Behausung laufen.

In einem Schuppen brannte Licht. Durch ein verschmiertes Fenster entdeckte Bormann Rosa. Zwei der Gorillas hielten sie auf einen Stuhl gedrückt und der dritte ging auf und ab. Er schien mit ihr zu reden. Plötzlich nahm er eine Gartenschere und hielt sie an den linken Daumen der Journalistin.

Bormann sah sich zum Handeln gezwungen. Er brach berserkerhaft durch die Tür, überwältigte hastenichtgesehen die Aggressoren, hieß Rosa die Polizei rufen, während er die Gorillas in Schach hielt, und übergab Rosa schließlich den bald eingetroffenen Ordnungshütern – heil mit beiden Daumen: Er hatte den Inquisitor gerade noch rechtzeitig wegstoßen können, sodass die Zange bloß Luft gefressen hatte.

„Würden Sie so freundlich sein und mich zum Haus meines Vaters an der Elbchaussee fahren?“ fragte Rosa, als die stundenlangen Befragungen der Polizeibeamten und Psychologen endlich vorbei waren.

„Ich bin doch nicht …“ ihr Taxi, wollte Bormann sagen, vollendete den Satz jedoch nicht mehr, als er ihr Gesicht sah. In ihrem Ausdruck lag eine animalische Entschlossenheit.

14 – Elbchaussee

Als Fiete Peters die Tür öffnete, wirkte er sichtlich überrascht, aber auch erfreut darüber, seine Tochter Rosa zu sehen. Rosa aber wich seinem Versuch, sie zu umarmen, mit einer flinken seitlichen Ausfallbewegung aus. Beinahe hätte sie dabei Bormann umgestoßen. Ihre Begrüßungsfloskel war kurz und kühl. Aus der Willkommensszene schloss Bormann zweierlei: Zum einen hatten Vater und Tochter sich für eine längere Zeit nicht gesehen, obwohl sie in derselben Stadt lebten. Und zum anderen war es wohl die Tochter, die den Kontakt verweigerte.

Ihr Gastgeber führte sie durch einen langen Flur in einen lichtdurchfluteten, sechs Meter hohen Raum. Für den Entwurf des futuristischen Gebäudes hatte Fiete Peters das Architekturbüro COOPHIMMELB(L)AU angeheuert.

Bormann stellte sich vor und zeigte seinen Ausweis.

„Kölner Staatsanwaltschaft, Abteilung Korruptionsverfahren?“ rief Fiete Peters lauthals aus.

„Was machen Sie denn hier? Meinen Sie der Kölner Bischhof hat mich bestochen?“

Peters lachte hämisch und machte eine ausladende Armbewegung, die das gesamte zweigeschossige Atrium seines Wohnzimmers sowie den atemberaubenden Elbblick einschloss. Gerade lief ein gigantisches rotolivgrünes Containerschiff der China Shipping Line in den von Eisbrechern schiffbar gehaltenen Hamburger Hafen ein.

„Was führt dich zu mir, Rosa? Benötigst du etwa Geld? Die Krankheit der Schreiberlinge?“ fragte Peters weniger böswillig als vielmehr verletzt angesichts des Umstands, dass seine Tochter sich von ihm kategorisch fernhielt.

Doch Rosa sah nichts anderes als eine Provokation darin.

Seit sie ihren Anwaltsjob vor zwei Jahren gekündigt hatte, war sie nicht ein einziges Mal zu ihrem Vater gekommen, um ihn um Geld zu bitten. Zwar war ihr Praktikantengehalt minimal, die Differenz, die sie zum Leben in dieser nicht gerade billigen Stadt benötigte, konnte sie aber bisher ihren während der Zeit in der Großkanzlei aufgelaufenen Ersparnissen entnehmen. Sie sah ein, dass nicht jeder, der Journalist werden wollte, auch zugleich Anspruch darauf hatte, davon vortrefflich leben zu können, zumal es der Verlagsbranche von Jahr zu Jahr schlechter ging. Alles, was sie wollte, war die Chance, der Welt und sich selbst zu beweisen, dass sie zu denjenigen gehörte, die als Journalisten profitable Arbeit leisten konnten.

„Warum versuchst du nicht mal, mich bei etwas zu unterstützen, was ich wirklich tun möchte, statt mich andauernd zu etwas zu drängen, wovor es mich graut?“ platzte es aus ihr heraus.

„Wenn du eine vielversprechende Karriere als Wirtschaftsanwältin wegwerfen willst, so sei es. Meinen Segen hast du nicht.“

Peters ging zu einem Spirituosenkabinett an der Wand und goss aus einem Flakon eine bernsteinfarbene Flüssigkeit in ein Glas.

„Sie auch, Herr Bormann?“

Bormann tippte auf schottischen Whiskey. Er war versucht, schüttelte aber mit dem Kopf.

„Du trinkst doch sonst noch nicht so früh. Hast du etwa finanzielle Probleme, Papa?“ frage Rosa aufmüpfig.

Peters schien verblüfft. Anscheinend hatte sie ins Schwarze getroffen. Der Erklärungsversuch ihres Vaters war nur halbherzig:

„Es ist Silvester, Rosa.“

Rosa entschied sich, ihn jetzt nicht vom Haken zu lassen.

„Kann es etwa sein, dass du und deine Freunde Alexander Büsking und Horst Griedl einem Finanzbetrüger auf den Leim gegangen seid?“

„Wieso denkst du das?“

„Naja, um Kummer in Herzensangelegenheiten kann es sich ja nicht handeln, dafür bräuchtest du ein Herz. Vielleicht liest du auch einfach mal meinen neuen Artikel auf der Website des homo oeconomicus. Außerdem ist mir aufgefallen, dass Alexander Büsking und Horst Griedl seit Neuerem mit ihren ganz eigenen Problemen kämpfen. Und da ihr euch ja in jeden Schlamassel gemeinsam hineinzustürzen pflegt, da dachte ich einfach…“

„Ach sei still!“ herrschte ihr Vater sie an. Er nippte an seinem Scotch und überflog ihren Artikel auf seinem iPhone.

„Was willst du eigentlich von mir?“

„Die Namen der Personen hinter diesem Finanzbetrug. Wer hat es geschafft meinen Vater, den Klügsten unter den Betrügern, hereinzulegen?“

Ihr Vater beobachtete den langsam vorbeischippernden Containerriesen und schwieg. Bormann mischte sich ein:

„Wenn es Ihnen bei der Entscheidungsfindung hilft, Herr Peters: Ihre Tochter wurde vor ein paar Stunden von einer brutalen rechtsradikalen Rockerbande gekidnappt. Diesmal konnte ich sie gerade noch rechtzeitg aus den Fängen dieser Rüpel befreien. Sollte sie aber weiter im Dunkel tappen und bei allen möglichen Kriminellen nach den Namen der Betreiber eines vermeintlichen Schneeballsystems herumstochern müssen, kann ich für nichts garantieren.“

Fieter Peters merkte auf.

„Rockerbande? Gekidnappt? Was ist passiert Rosa?“

Sie winkte lässig ab, womit sie ihrem Vater zu verstehen gab, dass Bormann ihrer Ansicht nach aus einer Mücke einen Elefanten machte. Doch Fiete Peters war jetzt alarmiert. Er wirkte unentschieden. Es gab keinen Zweifel daran, dass er mit sich rang. Offensichtlich war es Bormann gelungen, seinen väterlichen Beschützerinstinkt zu wecken.

Schließlich sagte der knorrige Hanseat:

„Bergkrist. Wendelin Bergkrist. Der andere hieß Friedrich von Wolkenburg. Sein Vater war in den Neunziger Jahren Präsident der Deutschen Bundesbank gewesen. Mit diesen beiden hatten Alexander, Horst und ich Kontakt. Ihr Kapitalanlageunternehmen firmiert unter der Bezeichnung Flash Capital GmbH & Co. KG.“

15 – Hôtel Le Beau Rivage, Genf

Während Rosa um zehn Uhr abends erschöpft von den Strapazen der für sie so gerade noch glimpflich ausgegangenen Entführung in der Wohnung einer Freundin einschlief (erst die Raketen um null Uhr würden sie wieder für einen kurzen Moment aufwecken) und Bormann die Silvesternacht whiskeyseelig bei seiner neuen Bekanntschaft in St. George verbrachte, klopfte es an der Tür von Zimmer 317 des Beau-Rivage am Quai du Mont Blanc am Ufer des Genfersees.

Als Friedrich von Wolkenburg öffnete, drangen blitzschnell vier Männer gewaltsam ein.

Vier Männer, die er nicht erwartet hatte. Vier Männer, die mit dem unbekannten Mann aus dem Internet nichts zu schaffen zu haben schienen, welcher von Wolkenburg nach seinem Bruch mit seinem Partner Wendelin Bergkrist gegen Bezahlung dabei helfen wollte, aus Europa in einen abgelegeneren Winkel der Welt zu fliehen – und von Wolkenburg deshalb gebeten hatte, genau dieses Zimmer zu buchen und darin heute auf ihn zu warten.

Vier Männer, die von ihm wissen wollten, wo sich das Geld befand, das er zusammen mit Wendelin Bergkrist von den Anlegern der Flash Capital GmbH & Co. KG gestohlen hatte. Vier Männer, die zu allem bereit zu sein schienen. Vier Männer, die ihn in Todesangst versetzten. Vier Männer, denen er alles erzählt hätte. Vier Männer, deren Blicke es ihm nur allzu deutlich machten, dass es nicht zuletzt in seinem ureigensten Interesse lag, nicht nach Hilfe zu rufen.

Vier Männer, die ihn mit Schmerz- und Betäubungsmitteln sedierten, als sie merkten, dass er über den Verbleib des Geldes tatsächlich nichts wusste. Vier Männer, die ihn in seinem Anzug in die bis oben hin mit Wasser gefüllte Badewanne legten, als ihnen aufging, dass er die Wahrheit sagte. Vier Männer, die ihm einen tödlichen Giftcocktail verabreichten, als ihnen klar wurde, dass ihnen in pucto Verbleib des Flash Capital-Geldes nur sein Partner Wendelin Bergkrist würde weiterhelfen können.

Zweiter Teil
1 – Elbgold, Övelgönne

Unter der Elbchaussee, wo sich zwischen Elbstrand und Berghang an einem schmalen Fußgängerweg die jahrhundertealten Häuser Övelgönnes reihten, trank Rosa gerade ihre zweite Tasse Friesentee mit braunem Kandis. Sie saß an einem Fenstertisch im Elbgold, einem kleinen Café mit Blick auf die winterliche Elbe und den dahinter liegenden Hamburger Hafen.

Einst hatten hier vornehmlich Kapitäne und Lotsen ihre arbeitsplatznahe Behausung gehabt. Die undichten Holzfenster gewährten der Kälte in einem solchen Maße Einlass, dass Rosa ihre Daunenjacke anbehalten hatte.

Es war elf Uhr vormittags am Tag nach Neujahr. Außer ihr befanden sich nur noch die kellnernde Cafébesitzerin sowie zwei dienstschwänzende Politessen in dem niedrigen Gastraum.

Seitdem sie vorgestern von ihrem Vater die Namen Bergkrist und von Wolkenburg sowie die Bezeichnung ihrer Kapitalanlagefirma – Flash Capital GmbH & Co. KG – erfahren hatte, hatte sie mehr oder weniger unablässig im Internet recherchiert – in der Wohnung einer Freundin in Ottensen, da sie sich zuhause nach der Entführung ins Alte Land trotz anderslautender Zusicherungen der in dem Fall nach den Hintermännern ermitelnden Polizeibeamten nicht mehr sicher fühlte. Die drei verhafteten Männer schwiegen jedenfalls wie ein Grab zu ihren Motiven und Auftraggebern.

Rosas erfolgversprechendster Fund in Sachen Bergkrist war bisher ein von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg online gestellter Artikel in der Zeitschrift Die Betriebswirtschaft (Heft 3, 2006) gewesen. Er war mit „Stochastische Manipulationstests zur Identifikation von betrügerischen Kapitalanlage- bzw. sog. Schneeballsystemen“ überschrieben. Als Autor wurde darin ein gewisser Wendelin Bergkrist angegeben. Im Fußnotenapparat fand der geneigte Leser den Hinweis, dass der Verfasser des Artikels zu der Zeit als Mathematiker in der Frankfurter Niederlassung der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, kurz: BaFin, tätig gewesen war. Als sie vor einer Stunde dort angerufen hatte, teilte man ihr mit, dass in dem Amte niemand mit dem Namen Bergkrist arbeitete und man ihr nicht weiterhelfen könnte.

Über Friedrich von Wolkenburg war da schon mehr in Erfahrung zu bringen gewesen. Bei seinem Vater handelte es sich um den berühmten ehemaligen Bundesbanker und emeritierten Universitätsprofessor Dr. Siegfried von Wolkenburg. Der Filius war inzwischen achtundvierzig und hatte für viele Jahre Investmentfonds erfolgreich gemanagt, bevor er seinen Anteil an der von ihm selbst gegründeten Kapitalanlagegesellschaft 2012 für eine mittlere achtstellige Summe an einen Dax-notierten Münchener Versicherungskonzern verkaufte. Danach verlor sich die Spur. Selbst mittels diverser Telefonate war sie bisher nicht dahinter gekommen, womit sich der Bundesbanker-Spross seitdem beschäftigt hatte. Sein Aufenthaltsort war unbekannt.

Schließlich blieb die Internetrecherche im Hinblick auf eine Flash Capital GmbH & Co. KG bis auf ein paar nichtssagende, beim elektronischen Bundesanzeiger einsehbare Bilanzen vollends ergebnislos. Die verwandten Begriffe Flash Trading und Flash Trader jedoch tauchten allerorten auf. Unter anderem gab es bei Amazon ein Buch mit dem Titel Flash Boys zu kaufen. Der Autor war ein gewisser Michael Lewis. Bei Flash Tradern handelte es sich um Akteure an den internationalen Kapitalmärkten, die von ihnen geschriebene Algorithmen mit Hilfe von high-speed Computern in winzigen Sekundenbruchteilen Handelsstrategien für sie ausführen ließen.

Rosa bezahlte. Sie musste in fünf Minuten am Fähranleger Neumühlen/Övelgönne sein.

Gestern hatte sie in der Ottensener Wohnung ihrer Freundin Besuch von der Frankfurter Schwerpunktstaatsanwaltschaft für Wirtschaftsstrafsachen bekommen, obschon eigentlich niemand wissen konnte, dass sie dort untergetaucht war. In einer zermürbenden zweistündigen Befragung wollten zwei äußert unangenehme Staatsanwälte unter Androhung von Beugehaft aus Rosa den Namen ihrer Quelle herauspressen. Doch Rosa war standhaft geblieben: Weder hatte sie die Identität von Deniz Gül preisgegeben noch hatte sie die Namen Wendelin Bergkrist, Friedrich von Wolkenburg oder Flash Capital herausgerückt. Auch zu ihrer neuen Bekanntschaft mit dem Kölner Oberstaatswalt Matthias Bormann verlor sie kein Wort.

Stattdessen hatte sie mit Bormann das Treffen am Fähranleger verabredet. Denn der Kölner hatte ihr nach ihrem gemeinsamen Besuch bei ihrem Vater vorgestern an der Elbchaussee eine Zusammenarbeit in der Sache angeboten und zugesichert, dass sie ihm ihre Quelle nicht verraten müsse und vor Bergkrists und von Wolkenburgs Verhaftung ein Exklusivinterview mit den beiden bekäme. Rosa hatte ihn also heute Morgen angerufen und gefragt, ob er sie im Auto mit in Richtung Süden zu ihrem Interview der Kämmererin nehmen könnte. Sie wusste, dass er heute fahren würde, weil er ihr vorgestern neben seiner Handynummer noch mitgeteilt hatte, dass er bei einem alten Freund in St. Georg Silvester sowie Neujahr verbringen und tags drauf zurück nach Köln fahren wollte. Sie lag ohne es zu wissen richtig mit ihrer Vermutung, dass es sich bei dem Freund in Wahrheit um eine flüchtige Bettbekanntschaft handelte. Obschon sie nicht wirklich sagen konnte warum, war ihr der Mann auf eine seltsame Art und Weise sofort sympathisch. Sie führte diese Empfindung darauf zurück, dass er sie gestern aus den Klauen dreier Irrer gerettet hatte.

Rosa war schon aufgestanden und wollte ihr MacBook gerade zuklappen, da entdeckte sie auf bild.de den Aufreißer:

Friedrich von Wolkenburg, Mitglied der Hochfinanz, heute Morgen tot in seinem Hotelzimmer im Beau Rivage aufgefunden. Gespenstische Parallelen zum Fall Uwe Barschel.

Sie überflog den zugehörigen Artikel. Viel mehr als diese Überschriftszeilen enthielt auch er nicht an Aussagegehalt. Den leblosen Körper Wolkenburgs hatte das Zimmermädchen gestern in der Badewanne gefunden. Offensichtlich war die Nachricht darüber erst heute an die Öffentlichkeit gelangt. Hinweise auf ein Fremdeinwirken wurden von der Genfer Polizei bisher weder verneint noch bestätigt.

Rosa rannte aufgeregt zu dem am Fähranleger in seinem Defender auf sie wartenden Bormann. Sie hatte auf einmal das beklemmende Gefühl, dass ihr die Zeit weglief. Die Befürchtung ließ sie nicht los, dass irgendwer die Story unter den Tisch kehren wollte. Sie war überzeugt davon, dass Wolkenburgs Tod kein Unfall oder Selbstmord gewesen war. Es würde entscheidend sein, Bergkrist lebend zu Gesicht zu bekommen. Nur wenn ihr das gelingen sollte, wenn sie ihn aufspürte und als erste exklusiv interviewte, sie über seine Beweggründe erführe, bevor er verhaftet oder getötet würde, wäre es der journalistische Coup, den sie benötigte, um sich auf die Landkarte der berühmten Journalisten der Nation zu setzen.

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