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4 – Im Feenteich

Während am Feenteich schon in der Sekunde nach ihrem Einbruch wieder friedliche Weihnachtsstille herrschte, focht Rosa unterhalb der Eisdecke einen verzweifelten Todeskampf aus. Das schwarze Loch, das sie gerade scheinbar aus dem Nichts verschluckt hatte, glich jenen astronomischen Phänomenen gleichen Namens, in die Materie nur hineinfallen, nicht aber wieder herausgelangen konnte.

Anfangs hätte für Rosas Begriffe die beinahe widerstandlose Masse, in der sie unmittelbar intuitiv zu strampeln begann, genauso gut die dunklen Weiten des Weltraums sein können. Erst als die berühmten tausend Eiswasser-Stecknadeln, von denen über die Jahrhunderte Überlebende so vieler Schiffbrüche berichtet hatten, sie zu malträtieren begannen, ging ihr auf, was passiert sein musste. Sofort versuchte sie verzweifelt, zur Oberfläche zu schwimmen.

Doch in dem Moment, in dem sie eigentlich aufzutauchen hoffte, stieß sie mit ihrem Kopf auf Granit.

Der höllische Schmerz durchzuckte wie ein gleißender Miniaturblitz ihren Körper. Gleichzeitig beschleunigte der Aufprall aber auch die durch ihren Überlebenswillen ohnehin schon stark angekurbelte Maschinerie ihres Verstandes auf Hochtouren.

Sie musste an einer anderen Stelle wieder aufgetaucht sein als sie eingebrochen war. Jetzt galt es, so schnell wie möglich die Einbruchstelle wiederzufinden. In Anbetracht der Menge an Sauerstoff, die sie dabei verbrauchen würde, blieb ihr nicht viel Zeit.

Sie begann, sich an der glatten Eisschicht in der Hoffnung entlang zu tasten, irgendwo eine Lücke zu entdecken.

Zehn Sekunden des hastigen Abtastens vergingen, ohne dass sich nur die kleinste Schwachstelle in ihrem Gefängnis aus Eis offenbarte. Obschon es ihr selbst absurd schien, ärgerte sie am meisten daran, dass von Schirach unbehelligt davonkommen würde, wenn sie jetzt umkäme.

Weitere zehn verzweifelte Sekunden verstrichen. Aber selbst wenn sie dies überlebte, würde sie von Schirach überhaupt drankriegen? Wohl kaum. Der Dreckskerl hatte schon recht damit, dass Aussage gegen Aussage stand. Von der Polizei und den Gerichten durfte sie sich nicht allzu viel erhoffen. Auch der Chefredakteur des homo oeconomicus würde wohl eher seinem Abteilungsleiter als einer Dauer-Praktikantin glauben, zumal ihm die Gerüchte über ihr damaliges Tête-à-Tête mit von Schirach nach der letzten Weihnachtsfeier womöglich zu Ohren gekommen waren.

Allmählich gewann die Verzweiflung Oberhand über ihren Verstand. Hatte sie sich in einem Zickzackkurs von der Einbruchstelle wegbewegt? War sie etwa in konzentrischen Kreisen unter dem Eis darum herum geschwommen?

Sie merkte, wie ihr die Luft bedrohlich ausging. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als alles auf eine Karte zu setzen. Sie brach ihr systematisches Abtasten der Eisdecke ab und schwamm entschlossen zurück in die Richtung, wo sie zwar zu Beginn schon gesucht hatte, das Loch aber nach wie vor am stärksten vermutete.

Nein, sie würde sich nicht der Tortur aussetzen, die eine Anzeige bei der Polizei oder die Einreichung einer Beschwerde über von Schirach beim Chefredakteur zweifelsohne mit sich brächte. Nein, sie würde nicht blind vor Rachgier in ihr Verderben rennen. Was sie tun würde wäre, sich in die Weiterentwicklung ihrer journalistischen Fähigkeiten zu stürzen, sich emporzuarbeiten und mit einem Elefantengedächtnis zu warten, bis die Zeit reif war und sich die richtige Möglichkeit zur Rache an von Schirach auftat. Vielleicht bot die Nachricht von Frau Gül, die sie soeben erhalten hatte, ja schon das richtige Pack-An dafür. Vielleicht war das die Story, die sie als Enthüllungsjournalistin groß rausbringen würde.

Alleine sie musste zunächst einmal überleben, um dies zu erfahren. Panik befiel sie. Die Luft war weg. Etwas umfasste plötzlich fest ihr Handgelenk. Sie fragte sich noch, ob sich so das Sterben anfühlt. Zog die kalte Pranke des Todes sie ins Jenseits? Sie wurde bewusstlos.

Als Rosa nach Luft schnappend wieder zu sich kam, hing sie nur noch mit den Beinen im Wasser. An ihren Armen zog beherzt der Raucher, welcher ihren Leichtsinn kurz vor ihrem Einsturz noch mit einem Kopfschütteln bedacht hatte. Geschafft. Sie lag nun neben dem Mann, der ihren Einsturz beobachtet hatte, über eine Holzleiter zu dem Loch im Eis gekrochen war, ihren Arm zu fassen bekommen und sie herausgezogen hatte. Er gebot zur Eile. Hintereinander krochen sie auf den Knien die Leiter entlang zum Steg. Rosa zitterte heftig. Sie gingen durch eine Glasschiebetür in ein riesiges Wohnzimmer. Der Mann reichte ihr flink eine Sofadecke, setzte sie behutsam auf einen Stuhl und versprach, nachdem er den Krankenwagen gerufen hätte, sofort wieder für sie da zu sein. Als er tatsächlich nach kaum 45 Sekunden wieder herbeigerannt kam, war als Zeugnis von Rosas Anwesenheit einzig und allein noch eine Wasserlache unter dem Stuhl zurückgeblieben, auf dem sie gerade noch gesessen hatte.

5 – Löwenbräukeller, München

Das Scheinwerferlicht blendete Horst Griedl. Er stand am Rednerpult auf der Bühne des Löwenbräukellers, in dem die Bits & Pretzels dieses Jahr am 28. Dezember stattfand.

Das gesamte Münchener Startup-Ökosystem war heute Morgen hier versammelt. Die Willkommensrede hatte soeben die Bayrische Staatsministerin für Wirtschaft und Medien, Energie und Technologie gehalten. Das hatte für großen Zulauf vonseiten der Lokalpresse und auch einiger überregionaler Medienorgane gesorgt. Die Veranstalter sprachen von 2.000 Teilnehmern. Der mit Grünzeug-Girlanden und dem Bayrischen Blau-Weiß der Löwenbräu-Brauerei verbrämte Saal war bis auf den letzten Platz mit dem Who’s Who der Szene besetzt.

„Mein Sohn und ich stehen heute vor Ihnen“ begann Griedl, nachdem er die obligatorischen Begrüßungsfloskeln rezitiert hatte, „um die Gründung unseres Münchener Inkubators Griedl Internet bekannt zu geben.“

Er sah sich nach dem neben ihm stehenden Alois um und legte ihm jovial eine Hand auf die Schulter. Alois war in höchstem Maße entzückt. Er liebte diesen Spot-Light-Moment seiner Inauguration als Mitglied der hiesigen Startup-Welt. Zwar war der Diebstahl des Geldes durch Flash Capital ein herber Schlag für das Familienvermögen gewesen. Sein Vater hatte ihm jedoch versichert, dass selbst dann noch genug Finanzmittel für die Aus-der-Taufe-Hebung ihres Startup-Beteiligungsunternehmens vorhanden sein würden, wenn sie das verloren gegangene Kapital nicht wiederbekämen. Und die Redezeit auf diesem Meet & Greet-Event hatte sein Vater schon Monate im Voraus reservieren müssen.

Alois hatte ein sehr gutes Gefühl bei alledem. Im Publikum erkannte er sogar das ein oder andere Gesicht von der WHU wieder. So fühlte man sich also, dachte er, wenn man als jemand zu einem Klassentreffen kommt, der es geschafft hat. Mit Stolz, den der ein oder andere im Saal als Arroganz verkennen mochte, hörte der Filius dem Senior zu, als dieser fortfuhr:

„Zu diesem Zweck wurden von uns bereits vor Monaten attraktive Büroräumlichkeiten im Glockenbachviertel angemietet. So tragen wir dazu bei, die Attraktivität Münchens als Startup-Standort zu stärken und als insofern gleichwertige Alternative zu Berlin zu etablieren. Werte, auf denen unser Tun fußen soll, sind Bodenständigkeit, Kollegialität, Respekt, Fairness, Weltoffenheit, Toleranz…“

Gelächter war plötzlich im hinteren Ende des Saals ausgebrochen und hatte sich vom dortigen Herd in Windeseile wie eine afrikanische Seuche verbreitet, sodass Horst Griedl sich schließlich gezwungen sah, seinen Redefluss zu unterbrechen. Jemand an den vorderen Tischen stieß seinen Nebenmann an und bedeutete diesem mit ausgestrecktem Arm und Zeigefinger, zur Leinwand auf der Bühne zu schauen. Auch die beiden Griedls wandten sich schließlich zu ihr um. Was sie sahen, dimmte das kurz zuvor noch lodernde Feuer ihres Unternehmergeistes auf ein winziges Flämmchen herunter.

Auf einer PowerPoint-Folie stand:

Horst Griedl – der Bodenständige:

„Gestern hat mich eine Tussi gefragt, was ich mit zehn Millionen Euro machen würde. Ich hab ihr gesagt, dass ich mich wunderte, wo zum Teufel der Rest meiner Geldes geblieben ist.“

(Zitat aus einer von Horst Griedl am 12.4.2005 versandten Email)

Die nächste Folie erschien:

Horst Griedl – der Kollegiale:

„Eine Win-Win-Situation ist, wenn ich dich zwei Mal besiege.“

(Zitat aus einer von Griedl am 3.11.2006 versandten Email)

Danach eine weitere Folie mit einem waschechten Griedl-Zitat:

Horst Griedl – der Respektvolle:

„Die meisten Menschen werden dafür bezahlt, nicht zu denken… und das aus gutem Grund.“

(Zitat aus einer von Griedl am 7.3.2009 versandten Email)

Griedl der Ältere drückte wie wild auf dem Laserpoint herum, den man ihm für das Vor- und Zurückschalten der Folien vor Beginn seiner Rede ausgehändigt hatte. Es geschah nichts. Panisch durchbohrte er daraufhin mit seinen Blicken den Studenten, der unten vor der Bühne in Lederhosen und mit neongelber Trucker Cap den Laptop bediente, an welchem der Beamer angeschlossen war. Der Student aber zuckte bloß mit den Achseln, so als wollte er Griedl dem Älteren sagen, dass auch ihm die Kontrolle über das Geschehen hier entglitten war. Eine neue Folie erschien:

Horst Griedl – der Faire:

„Sie behaupten: Frauen verdienen 20 % weniger, obwohl sie dieselbe Arbeiten machen. Ich frage: Warum stellt ein am Shareholder Value orientiertes Unternehmen dann nicht ausschließlich Frauen ein?“

(Zitat aus einer von Griedl am 14.1.2010 versandten Email)

Unter das allgemeine Gelächter mischen sich nun mehr und mehr auch Buh-Rufe. Die nächste Folie:

Horst Griedl – der Weltoffene:

„Die Griechen mögen Sex erfunden haben, aber erst die Italiener haben der Gleichung Frauen hinzugefügt.“

(Zitat im Zusammenhang mit Bemerkungen zur griechischen Schuldenkrise aus einer von Griedl am 2.11.2012 versandten Email)

Und zu guter Letzt:

Horst Griedl – der Tolerante:

„Es macht mich immer so glücklich, wenn ein verlauster Hipster an der Sicherheitsschleuse eines Flughafens für einen Terroristen gehalten wird.“

(Zitat aus einer von Griedl am 15.5.2013 versandten Email)

Zu Griedls Bestürzung kam der junge Mann am Laptop unten dem, was man so gemeinhin als einen Hipster zu bezeichnen pflegte, gefährlich nah. Ihm wurde schwindelig. Er war sich sicher, diese Emails vor langer langer Zeit gelöscht zu haben. Als beste Verteidigungsstrategie erschien ihm ein vollumfängliches Dementi, da es sich hier ja nur um Zitate auf PowerPoint-Folien und nicht die Original-Emails handelte:

„Diese Aussagen hier sind nicht von mir. Ich habe diese nie getätigt.“

Ein älterer Staatsanwalt in perfekt sitzendem Anzug trat gefolgt von zwei Polizisten auf die Bühne. Während er die zwei Beamten zum Pult zu Griedl schickte, hielt er seinen Dienstausweis hoch und rief mehr zum Publikum als zu Griedl:

„Geben Sie sich keine Mühe, Herr Griedl. Vorgestern haben wir aus einer anonymen Quelle umfängliche Dateien unter anderem mit ihrer Email-Korrespondenz der letzten 15 Jahre erhalten. Deren Authentizität ist inzwischen durch unsere IT-Forensik bestätigt worden.“

„Das ist eine Hexenjagd. Niemals hätten Sie als Beamter derartige Materialien herausgeben dürfen.“

„Haben wir auch nicht. Den Organisatoren dieser Veranstaltung wurden sie ebenfalls von der anonymen Stelle zugeleitet. Was diese damit machen, steht gänzlich außerhalb unseres Machtbereichs. Das geschieht völlig unabhängig von unserem Erscheinen im jetzigen Moment hier. Im Übrigen sind Ihre obigen Aussagen für uns strafrechtlich nicht von Relevanz. Die mag man als lustig empfinden oder auch nicht. Mir egal. Nach meiner persönlichen Auffassung verifizieren diese einzig und allein, dass Sie ein arrogantes, elitaristisches, sexistisches, chauvinistisches Arschloch sind. Von uns von Interesse war allerdings vielmehr, dass die Datenpakete ebenfalls zweifelsfrei belegen, dass Sie sich des Betrugs in zahllosen Fällen schuldig gemacht haben. Deswegen, Herr Griedl, nehme ich Sie hiermit fest.“

Der Staatsanwalt hatte den letzten Satz kaum beendet, da klackten die Handschellen an Horst Griedls Handgelenken. Der Saal tobte. Von Alois Griedl der Jüngere war derweil weit und breit keine Spur mehr. Auf dem Pult leuchtete das Display von Horst Griedls iPhone auf. Die Nummer des Absenders der Nachricht war unterdrückt:

Und er brüstet sich frech, und lästert wild;

Die Knechtschar ihm Beifall brüllt.

6 – Sahlkamp, Hannover

Vor ihrem ersten Besuch letzte Woche hatte Rosa sich noch gewundert, warum das Hochhaus, in dessen 14. Stockwerk sich Deniz Güls Zweizimmer-Sozialwohnung im Hannoveraner Problemstadtteil Sahlkamp befand, von Gül selbst im Rahmen ihrer Wegbeschreibung am Telefon als „Springerturm“ bezeichnet worden war. Als Rosa dann aber vor einer Graffiti-besprenkelten Wand von Klingeln gestanden hatte, die sich las wie die Namensschilder auf einer UNO-Vollversammlung, und keine zehn Meter neben ihr etwas Schweres dumpf auf den Asphalt gekracht war, hatte sie begriffen. Die Menschen sprangen, weil sie das Leben hier nicht mehr aushielten. Oder weil jemand nachhalf.

Rosa dachte an jenem 28. Dezember, an dem in München die Bits & Pretzles stattfand, ungläubig daran zurück, wie professionell und unbeteiligt sie vor einer Woche reagiert hatte. Sie hatte nebenan nachgeschaut, den zerfetzten körperlichen Überrest eines menschlichen Wesens gesehen, pflichtbeflissen die Polizei gerufen, geduldig gewartet, ihre Aussage präzis gemacht und war dann unbekümmert in einem nach Urin stinkenden Fahrstuhl zu Frau Gül hinauf gefahren, um endlich das Interview zu führen, wofür sie die Anreise aus Hamburg auf sich genommen hatte. Heute, wo ihre Vergewaltigung durch von Schirach kaum 24 Stunden zurücklag, traf sie die Hoffnungslosigkeit dieses Ghettos hingegen mit voller Wucht. Sie wischte sich Tränen aus den Augen und drückte die Klingel.

„Hallo meine Liebe.“

Rosa wurde mit einer Selbstverständlichkeit umarmt, als ob sie die Tochter gewesen wäre, die Deniz Gül nie gehabt hatte. Die Herzensgüte der Begrüßung einer Quasi-Fremden versetzte sie wieder einmal in Staunen, hatte das Leben Frau Gül doch nicht das beste Blatt ausgeteilt.

„Guten Tag, Frau Gül.“

Zehn Jahre hatte die mittlerweile sechzigjährige Türkin aus Izmir als Haushälterin des Hannoveraner Drückerkönigs Walter Rokamp gearbeitet. Eines Morgens, als sie ihm den Kaffee beim Frühstück einschenkte, hatte sie ihren Arbeitgeber nach einem Anlagetipp für ihr auf dem Girokonto dahindarbendes Kleinkapital gebeten. Rokamp, der zwar ganz unten angefangen hatte, inzwischen aber ein großes Rat drehte und solcherlei Brosamen eigentlich am Wegesrand liegen lassen konnte, roch sofort das Geschäft. Wer den Pfennig nicht ehrt, ist den Taler nicht wert! Er verwies sie an die nächste Hannoveraner Niederlassung seines inzwischen bundesweit operierenden Finanzvertriebs Deutsche Anlageberatung (DAB). Leichtgläubig deckte sie sich dort auf wärmste Empfehlung ihres Chefs hin mit sämtlichem hoch provisionierten Schrott ein, den deutsche Finanzvertriebe sich zu der Zeit ganz vorne ins Schaufenster zu hängen pflegten. Mit Ausbruch der Finanzkrise 2007 / 2008 verlor sie dann nahezu ihre gesamten Ersparnisse. Als sie Rokamp damit konfrontierte und vorsichtig nach einer Entschädigung fragte, wiegelte er ab. Drei Monate später wurde sie entlassen. Seitdem war sie nicht nur vermögens-, sondern trotz intensiver Jobsuche wegen ihres fortgeschrittenen Alters auch noch langzeitarbeitslos.

„Kommen sie herein. Ich habe Tee für uns gemacht. Außerdem habe ich ein fantastisches Baklava im Hause. Möchten Sie etwas davon, Frau Peters?“

„Gerne.“

Gül führte Rosa zu einem liebevoll gedeckten Tisch in ihrem winzigen Wohnzimmer. Trotz der bescheidenen Verhältnisse fühlte Rosa sich wie auch schon bei ihrem ersten Besuch letzte Woche sofort wohl. Die Gastgeberin schenkte ihnen schwarzen Tee in kleine Glasbehältnisse ein. Sie probierten von dem Baklava.

„Wie ich beim letzten Mal schon gesagt habe, kann ich mit Ihnen leider keine pikanten Details aus dem Privatleben meines ehemaligen Arbeitgebers Herrn Walter Rokamp teilen. Die simple Wahrheit ist, dass ich ihn als einen zwar von seiner Arbeit besessenen, ansonsten aber stinknormalen, durch und durch biederen Mann erlebt habe.“

Für einen Moment lang befürchtete Rosa, dass sie umsonst gekommen war, dass Frau Gül nichts Neues für sie zu berichten hatte. Letzte Woche war sie erschienen, weil sie über Rokamp einen Artikel schreiben wollte und sich durch eine Recherche in seinem privaten Umfeld Aufschluss darüber erhofft hatte, was für ein Mann er war. Rokamp hatte seit Abbruch seines Medizinstudiums, das heißt quasi sein ganzes Leben lang einen militärisch geführten Finanzvertrieb aufgebaut und diesen kurz vor der Pleite der US-amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers an einen Luxemburger Versicherungskonzern veräußert. Während er dadurch zum Milliardär avancierte, verloren im Anschluss daran Abertausende Kleinanleger, welche die von ihm vertriebenen Finanzprodukte gutgläubig gekauft hatten, im Verlaufe der Finanzkrise ihre Ersparnisse. Der mediale Aufschrei war groß. Den wenigsten Journalisten gelang es jedoch, über das Vorgesagte hinaus wirklich neue Einsichten in der Causa Rokamp zu Tage zu fördern. Rosas Kalkül war da gewesen, dass wenn jemand etwas wüsste, es die Frau sein müsste, die ihm tagein, tagaus das Frühstück serviert, die seine Hemden gebügelt und die passende Krawatte herauslegt hatte. Leider hatte sich letzte Woche jedoch gezeigt, dass Deniz Gül nichts Nützliches zu ihrem Artikel beizusteuern wusste. Vielleicht hatte sie Rosa heute deshalb zu sich eingeladen, weil ihr schlichtweg einsam und dies die einzige Möglichkeit war, jemanden zu bewegen, ein Glas Tee mit ihr zu trinken.

Doch dann, so als ob Frau Gül Rosas Gedanken erraten hätte, zog sie etwas Funkelndes unter ihrer mit einem Rosenmuster dekorierten Küchenschürze hervor. Rosa schaute näher hin.

Zum Vorschein kam Fabelhaftes. Das Licht brach in tausend Farben. Rosas Kenntnisse über Diamanten waren zwar im besten Fall rudimentär (sie hatte natürlich über Blutdiamanten aus Sierra Leone & Co. gehört, den Film Blood Diamond mit Leonardo DiCaprio gesehen und darüber hinaus jüngst einen kritischen Bericht im Manager Magazin über die Geeignetheit von Diamanten als Kapitalanlageobjekt für Privatpersonen gelesen). In diesem Fall war sie sich aber sicher. Hier hatten sie es mit einem lupenreinen Diamanten von mindestens einem Karat in einem perfekten Brillantschliff zu tun.

7 – Preziöse im Springerturm

„Bitte Frau Peters, Sie dürfen niemandem erzählen, dass ich auch einen Diamanten bekommen habe.“

Die liebenswürdige ältere Frau schien dieser Punkt sichtlich zu bewegen. Rosa versprach es ihr.

„Gut. Der Edelstein lag gestern Morgen zusammen mit diesen Worten verpackt in einem Standard-Couvert in meinem Briefkasten. Der Absender war nicht angegeben. Bitte lesen Sie selbst.“

Sie reichte Rosa den folgenden maschinenschriftlichen Brief und verschwand in der Küche, um einen Nachschlag Baklava zu holen.

Liebe Frau Gül,

diesem Schreiben angefügt finden Sie einen Diamanten. Die Qualität dieser Edelsteine wird international anhand der sogenannten vier C’s bestimmt: Carat – das Gewicht des Steins; Color – seine Farbe; Clarity – seine Reinheit; Cut – sein Schliff. Ihrem eineinhalbkarätigen Stein wird in dem ebenfalls diesem Schreiben beigefügten Zertifikat des Antwerpener Hooge Raad voor Diamant – neben dem Gemnological Institute of America die einzige Zertifizierungsstelle, die über jeglichen Zweifel erhaben ist – eine seltene Weißheit, eine makellose Reinheit sowie ein perfekter Brilliantschliff attestiert. Sein Wert beträgt zurzeit um die 20.000 Euro.

Sie erhalten den Diamanten als Kompensation für den Quasi-Totalverlust, den Sie aufgrund Ihres Investments bei der DAB erlitten haben. Nach meinem Informationsstand betrug der von Ihnen dort ursprünglich angelegte Kapitalgrundstock 16.000 Euro, sodass Sie hiermit zusätzlich eine angemessene Verzinsung erhalten sollten.

Sie werden in nächster Zeit vielleicht davon erfahren, dass Herr Walter Rokamp – der Gründer und ehemalige Besitzer der DAB – Opfer eines Betrugs geworden ist. Das geht auf meine Kappe. Ich habe Rokamp einen Teil seines Vermögens, den er in mein Kapitalanlageunternehmen investiert hat, genommen, um ihn wiederum unter einem Teil der von ihm geschädigten Anleger umzuverteilen.

Sie müssen also eine Entscheidung treffen. Entweder Sie melden den Vorgang, damit der Gegenwert des Diamanten wieder an Rokamp gelangt, oder aber Sie behalten ihn für sich.

Sollten Sie sich für das Erstere entscheiden, brauchen Sie ab hier nicht mehr weiter zu lesen.

Entspricht dagegen das Letztere eher Ihren Vorstellungen von einer gerechten Welt, kann ich Ihnen nur empfehlen, den Diamanten in den kommenden Monaten möglichst nicht in Ihrer eigenen Wohnung aufzubewahren. Dies deshalb, weil mit einem Besuch der Polizei zu rechnen ist, sobald sie Wind von dieser Sache bekommt. Generell spricht meines Erachtens aber nichts dagegen, den Stein als Geldanlage zu halten, da ich zumindest langfristig mit erheblich steigenden Weltmarktpreisen rechne.

Ist schließlich der Moment gekommen, an dem Sie den Diamanten zu Geld machen möchten (und sei es nur, weil Sie ihn in den nächsten Monaten nicht vor der Polizei verstecken wollen bzw. können), bietet sich das Antwerpener Diamantenviertel zur Käufersuche an. Statten Sie einfach mehreren renommierten Diamantenhändlern dort einen Besuch ab, lassen Sie sich mindestens von drei Handelshäusern ein Angebot machen und verkaufen Sie an das Höchstbietende. Auf diese Weise werden Sie in Antwerpen nicht über das Ohr gehauen werden können. Falls Sie nicht über Offshore-Nummernkonten verfügen sollten, ist es natürlich anzuraten, eine Barauszahlung des Kaufpreises zu fordern.

Unter dem Text befand sich keine Unterschrift. Rosa war überrascht über die Schläue des Verfassers. Er schrieb, dass er mit dem erbeuteten Geld nicht jedem der Geschädigten einen Diamanten zugewendet hatte, sondern man nur einem Bruchteil habe helfen können. Sie war jedoch angesichts der Professionalität, mit der er zu Werke zu gehen schien, überzeugt, dass nahezu jeder einen Edelstein bekommen hatte (über eine Liste der DAB-Geschädigten verfügte nach Rosas Kenntnisstand zum Beispiel die Deutsche Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz e.V.). Diese Passage in dem Brief diente wohl einzig und allein dazu, einen Generalverdacht für den Fall zu vermeiden, dass die Strafverfolgungsbehörden ein Exemplar des Schreibens eines Tages in die Hand bekämen und die Preziösen auch von allen anderen DAB-Geschädigten zurückverlangten.

Sie musste einen Weg finden, im homo oeconomicus über den Vorgang schreiben zu können, ohne dass sie Frau Gül damit in Schwierigkeiten brachte. Eine moderne Robin Hood-Geschichte. Die Story hatte in jedem Fall ungeheuerliches Potenzial. Und hinterließ zugleich jede Menge Fragezeichen. Zuvorderst: Wer war diese Person, die sich bei Rokamp mit einem der schlagkräftigsten und skrupellosesten Milliardäre Deutschlands anlegte? Wie hatte sie es geschafft, den als äußerst argwöhnisch geltenden deutschen Drückerkönig gerade auf dem Gebiet hereinzulegen, welches sein Steckenpferd war: dem glitschigen Terrain der Kapitalanlage? Und warum behielt der oder die Unbekannte das Geld nicht für sich?

286,32 ₽
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340 стр.
ISBN:
9783737594141
Издатель:
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