Читать книгу: «Der Schneeball», страница 4

Шрифт:

8 – Café Paris, Hamburg

Es war der 29. Dezember. Rosas Knie zitterten, als sie von einem Fenstertisch aus von Schirach durch den Windfang treten sah. Aber nicht vor Kälte. Sie hatte Angst.

Zum Glück war das beliebte Café Paris in der Rathausstraße bis auf den letzten Tisch besetzt. Unter der im Original erhaltenen Jugendstildecke herrschte die hier für die Mittagspause an einem Werktag typische rege Betriebsamkeit. Gerade deshalb hatte sie diesen Ort des vorletzten französischen Fin de Siècle für das Treffen ja auch ausgewählt, um das sie von Schirach heute Morgen in einer Email gebeten hatte. Er war gekommen, ohne dass sie ihm im Voraus einen Grund für ihre Zusammenkunft genannt hätte.

„Es tut mir leid, was da vorgestern zwischen uns vorgefallen ist, Rosa.“

Sie schreite innerlich vor Wut. Von Schirach wählte seine Worte genau. Es mochte zwar sein, dass ein Teil von ihm den Vorfall aufrichtig bereute, zumal er zugegebenermaßen nicht mehr nüchtern und ganz Herr seiner Sinne gewesen war. In jedem Fall würde er aber nichts sagen, was sie insgeheim auf einem Tonträger aufnehmen und gegen ihn verwenden könnte. Dazu war er zu gerissen.

Äußerlich gab sie nichts von dem zu erkennen, was gerade in ihrem Inneren vor sich ging. Ganz im Gegenteil: Sie präsentierte sich unverbindlich, nichtssagend und kühl.

„Mmmmh.“

Weder wollte sie versöhnlich noch sonderlich rachedurstig oder jähzornig erscheinen. Zwar war sie weit entfernt davon, von Schirach jemals vergeben zu können. Jede Faser ihres Körpers ekelte sich vor ihm. Trotzdem hatte er Recht: Wenn sie sich jetzt mit aller Macht gegen ihn wandte und ihn bei der Polizei anzeigte, würde sie am Ende womöglich als Verliererin dastehen. Sie musste sich zusammenreißen, um nicht in Tränen auszubrechen und das Café sofort verlassen zu müssen. Nun galt es, ihn einzulullen und in Sicherheit zu wiegen, bis sich eine Möglichkeit bot, eiskalt Rache zu nehmen.

„Gestern war ich noch einmal bei Frau Gül, der ehemaligen Haushälterin von unserem Drückerkönig Walter Rokamp. Ich hatte dir vor ein paar Wochen davon erzählt, dass ich einen Artikel über Rokamp schreiben wollte. Erinnerst du dich, Sebastian?“

Von Schirach murmelte ein Ja. Offensichtlich hatte er erwartet, dass Rosa über das Ereignis vom vorgestrigen Tage mit ihm reden wollte. Sie nutzte den Überraschungseffekt und fuhr fort:

„Dort habe ich von einem interessanten Vorgang erfahren. Alles ergibt sich aus diesem Artikel von mir. Ich möchte, dass du für seine möglichst zeitnahe Veröffentlichung auf unserer Homepage sorgst.“

Sie reichte ihm zwei Bogen Papier. Überschrieben waren sie mit ‚Robin Hood im Weihnachtsmannkostüm‘. Darunter befand sich ein ca. anderthalbseitiger Text. Er war überrumpelt. Als er den Artikel zu Ende gelesen hatte, willigte er nicht zuletzt auch deshalb in seine Veröffentlichung ein, weil er hoffte, damit Rosas Stillschweigen erkaufen zu können.

„Schön. Vielen Dank. Außerdem möchte ich die nächsten Tage erstmal von zuhause aus arbeiten. Geht das in Ordnung?“

„Okay. Dafür fährst du aber ins Ruhrgebiet und interviewst eine ehemalige Stadtkämmerin für mich, ja? Das hängt mit diesem bayrischen Banker namens Griedl zusammen, der gestern in München verhaftet wurde. Alles Nähere ergibt sich aus einer Email, die ich dir gleich senden werde. Den Tonmitschnitt des Interviews kannst du einfach per Email schicken. D‘accord?“

„D‘accord.“

Rosa hatte bekommen, was sie wollte. Nichts hielt sie eine Sekunde länger an einem Ort, an dem sich dieses Scheusal befand. Auch wenn sie von der Verhaftung Griedls noch nichts gehört hatte, würde sie ihre Neugierde diesbezüglich erst später stillen können.

Sie legte einen 5-Euro-Schein auf den Tisch.

„Ist es okay, wenn du zahlst?“

Sie ließ von Schirach keine Zeit zu antworten. Mit Siebenmeilenstiefeln eilte sie davon. Plötzlich wurde ihr wieder genauso übel wie schon zwei Tage zuvor. Mangels besserer Alternativen musste sie sich in den Mönkedammfleet übergeben. Passanten glotzten sie an. Eine alte Frau entrüstete sich über die Verlotterung der Jugend heutzutage. Rosa stellte sich vor, was für eine Erleichterung es jetzt wäre, vom Erdboden verschluckt zu werden.

9 – Justizzentrum, Kölner Südstadt

30. Dezember. Matthias Bormann wünschte der Sekretärin seines Chefs im Vorbeieilen einen guten Morgen. Die Art und Weise, wie die hübsche junge Frau ihn anlächelte, ließ ihn verwirrt zurück. War das noch im Bereich des Kollegialen oder wollte es mehr sein? Bei ihrem Anblick wunderte es ihn stets, wie ein so feenhaftes Geschöpf es mit dem Tyrannen auch nur für die winzige Dauer eines Falters Flügelschlags aushalten konnte.

„Gut, dass Sie meine Nachricht so schnell erreicht hat und Sie sofort gekommen sind, Bormann.“

Der Chef streckte ihm seine kräftige Hand zur Begrüßung entgegen. Ein unfehlbares Indiz dafür, dass Dr. Felix Deshonra etwas von Bormann wollte. Für gewöhnlich hatte der untersetzte Mittfünfziger ansonsten allerhöchstens Zeit für ein griesgrämig durch den Mundwinkel gedrücktes Hallo.

„Nur zu, keine Hemmungen.“

Deshonra wies ungeduldig auf eine Sitzecke aus cognacbraunen Ledersesseln. Am Ringfinger seiner linken Hand, mit der er die einladende Bewegung ausführte, steckte ein riesiger gelbgoldener Siegelring – für Bormanns Begriffe eine geschmackliche Verirrung sondergleichen.

„Setzten Sie sich, Bormann.“

Bormann tat wie ihm geheißen. Außer ihm saß dort schon ein Mann in einem dunklen anthrazitfarbenen Flanellanzug, der wie Deshonra und Bormann selbst mittleren Alters war. Bormann hatte ihn noch nie gesehen. Es verblüffte ihn etwas, dass sie einander nicht vorgestellt wurden. Auf einem niedrigen Couchtisch vor ihnen stand eine Kanne frisch gebrühter Filterkaffee. Bormann schenkte sich eine Tasse ein. Draußen brach der Tag an. Das Dämmerlicht tauchte das ansonsten nur von einer Stehlampe beleuchtete Büro des leitenden Oberstaatsanwalts der Staatsanwaltschaft Köln in ein einschläferndes Halbdunkel. Mit Ausnahme des Beamers, der einen Text an die Wand warf, wirkte alles in dem großen, mit einem drei Zentimeter dicken Teppich ausgelegten, komplett holzgetäfelten Raum so, als ob die Zeit hier in den siebziger Jahren stehen geblieben wäre.

Deshonra startete ohne große Umschweife:

„Haben Sie schon von diesem Artikel gehört? Er wurde gestern Abend auf der Website des Wirtschaftsmagazins homo oeconomicus veröffentlicht.“

Bormann nickte. Er musste nur kurz auf den Text an der Wand schauen, um zu wissen, dass er ihn heute Morgen auf seinem Tablet beim Frühstück gelesen hatte. Zwar war er kein regelmäßiger Leser des homo oeconomicus, jedoch haftete ihm das Laster an, ab und zu das App der Bildzeitung zu frequentieren, welches den Artikel im Bild-Wirtschaftsticker kurz erwähnt und auf ihn verlinkt hatte. Bormann schien die Meldung interessant und war dem Link gefolgt.

„Da ich davon ausgehe, dass Sie den homo oeconomicus keine tägliche Lektüre widmen, folgere ich aus Ihrer Kenntnis des Artikels: Ihnen ist ebenfalls nicht entgangen, dass inzwischen zahlreiche weitere Onlinemedien, die sich noch einer erheblich höheren Besucherzahl als der homo oeconomicus erfreuen dürften, darüber berichten, zumeist sogar eine entsprechende Verlinkung vorsehen?“

Die Frage war eine rhetorische. Bormann war klar, dass sein Vorgesetzter damit im Wesentlichen darauf abzielte, ihn mit der Bemerkung über seine plebejischen Lesegewohnheiten zu foppen. Er ließ sie nicht zuletzt auch deshalb zunächst ohne verbalen Konter unbeantwortet im Raum hängen, weil sein Chef nicht allzu weit vom Schwarzen entfernt getroffen hatte.

Bormann, der als Oberstaatsanwalt die Abteilung Korruptionsverfahren der Kölner Schwerpunktstaatsanwaltschaft Wirtschaftskriminalität leitete und gegenüber dem Behördenleiter Deshonra weisungsgebunden war, erfüllte alles andere als das Bild, welches man sich typischerweise von einem Staatsanwalt machte. Sein wuchtiger muskulöser Oberkörper sowie seine breiten, kantigen Gesichtszüge erinnerten vielmehr an das Erscheinungsbild eines Profi-Boxers oder kampferprobten Fremdenlegionärs. Und in der Tat hatte Bormann als junger Mann einen Großteil der GSG 9-Ausbildung schon durchlaufen und wäre beinahe vollwertiges Mitglied der Spezialeinheit der Bundespolizei geworden. Doch kurz vor dem Ende der Ausbildung führte ein plötzlicher Disput mit seinem Ausbilder zu seinem freiwilligen Austritt aus der Elitetruppe und zur Aufnahme seines Jurastudiums. Innerhalb der Kölner Staatsanwaltschaft wusste man von diesem martialischeren Teil von Bormanns Vergangenheit; für gewöhnlich ließ man keine Gelegenheit aus, darauf aus den Höhen des juristischen Elfenbeinturms herabzublicken und Bormann damit aufzuziehen. Dies bedeutete jedoch nicht, dass man ihn nicht als Juristen für voll nahm und nicht durchaus sehr respektierte. Trotzdem vermochte Bormann sich aber eine kleine geistreiche Spitze in Richtung Deshonra als Vergeltung für die abfällige Bemerkung seines Chefs über seine Lesegewohnheiten nicht verkneifen:

„Sie haben Recht: Wir leben zwar alle unter demselben Himmel, aber das bedeutet noch lange nicht, dass wir auch alle denselben Horizont haben.“

„Lassen Sie doch Ihre ständige intellektuelle Masturbation, Bormann.“

Für einen Augenblick wusste Deshonra nicht mehr, worauf er hinauswollte. Dann fand er den Faden wieder:

„Ist das euer Ernst? ,Robin Hood im Kostüm des Weihnachtsmanns’? Robin Hood am Arsch des Propheten.“

Der Chef spielte auf den Titel des Artikels an. Anscheinend schaukelte er sich gerade in eine seiner berühmten Tiraden. Jahrelange Erfahrung hatte Bormann gelehrt, jetzt vorsichtig zu sein. Er musterte den ihm gegenüber sitzenden unbekannten Dritten im Raum. Ein dürrer, fast ausgehungert wirkender Mann, dessen kurz rasierter Schädel auf einem in solcherlei Amtsstuben eher selten anzutreffenden Maßanzug aus edelstem Tuche thronte. Der Unbekannte nahm Notiz von Bormanns abtastenden Blicken, verzog aber keine Miene.

„Wenn das wahr ist, was diese Tintenpisserin namens Rosa Peters hier schreibt, und ich betone wenn, weil ich mir beileibe nicht sicher bin, ob es wahr ist,“ der Chef der Kölner Staatsanwaltschaft unterbrach seine Rede an dieser Stelle kurz, schaute einen Augenblick mit abwesendem Ausdruck im Blick aus dem Fenster und sprach schließlich weiter, „dann ist das ganz und gar inakzeptabel. Die einzigen, denen es zusteht, vermeintliche Verursacher oder Profiteuere der Finanzkrise zu richten, sind unsere rechtmäßigen Gerichte. Niemand darf das Geld anderer Leute im Wege des Betrugs an sich nehmen, um es à la Robin Hood mir nichts, dir nichts und quasi nach Gutdünken unter anderen wieder zu verteilen. Wenn überhaupt – was ich allerdings auch bezweifle, Sie kennen meine politische Einstellung hierzu, Bormann – kommt diese Aufgabe dem Staat zu. Deshalb möchte ich, dass Sie sich der Sache annehmen. Machen Sie diese Rosa Peters ausfindig und finden Sie möglichst bald heraus, was an alledem dran ist!“

Bormann war perplex. Er fühlte sich in dieser Sache in doppelter Hinsicht nicht zuständig.

Was die sachliche Zuständigkeit anbetraf, waren ganz eindeutig seine Kollegen von der Abteilung für Wirtschaftsstrafsachen zuständig, weil es sich um Kapitalanlagebetrug und soweit ersichtlich nicht um ein Korruptionsdelikt handelte, wofür er und die ihm unterstellten Staatsanwälte zuständig gewesen wären. Insofern der leitende Oberstaatsanwalt in diesem Punkt den Geschäftsverteilungsplan seiner Behörde missachtete, überraschte dies Bormann jedoch nicht. Ähnliches war schon häufiger vorgekommen. Denn eine Staatsanwaltschaft war neben einer Anklagebehörde vor allem auch eine Ermittlungsbehörde, die eine Ermittlungspflicht traf, wenn sie durch Anzeige oder auf anderem Wege, das heißt wie hier zum Beispiel aus den Medien, von dem Verdacht einer Straftat Kenntnis erlangt. Und Bormann war aufgrund seiner ungewöhnlichen Methoden der mit weitem Abstand effektivste Ermittler der Behörde, was jeder dort uneingeschränkt anerkannte. Wenn es zur Anklage käme, würden einfach seine Kollegen den Ball wieder von ihm zugespielt bekommen. Diese Art von Arbeitsteilung war mittlerweile gang und gäbe geworden.

Was allerdings die Frage der örtlichen Zuständigkeit anbelangte, konnte Bormann sich keinen Reim auf das Einschreiten seines Chefs machen.

Er fragte zaghaft:

„Ist das denn überhaupt die Aufgabe der Kölner Staatsanwaltschaft?“

„Ja“ antwortete Deshonra lapidar.

Bormann hakte nach:

„Was ist mit der Schwerpunktstaatsanwaltschaft für Wirtschaftsstrafsachen Frankfurt am Main? Stand in dem Artikel nicht etwas davon, dass das betrügerische Kapitalanlageunternehmen mutmaßlich am dortigen Finanzplatz ansässig gewesen ist?“

„Keine Sorge, Bormann, wenn meine Informationen aus dem Justizapparat zutreffen, haben die hessischen Kollegen den Fall bereits an sich gezogen. Aber meinen Sie, dass wir uns den Luxus erlauben können, uns auf diese inkompetenten Deppen zu verlassen?“

Bormann war sich unsicher. Mehr zu sich selbst als zu den anderen beiden in der Runde sagte er:

„Trotzdem bin ich nicht überzeugt davon, dass wir in dieser Angelegenheit aktiv werden sollten. Das könnte Ärger für Sie geben.“

Er hätte es lieber unterlassen sollen, seiner Skepsis Ausdruck zu verleihen. Die Stimme Deshonras vibrierte jetzt:

„Sagen Sie Bormann, seit wann sorgen Sie sich um meine Karriere? Unter den geschädigten Kapitalanlegern befinden sich mit Sicherheit auch solche aus unserem örtlichen Zuständigkeitsgebiet. Deshalb treten wir hier – angefangen mit unserer Sitzung heute – auch auf den Plan. Basta. Von wegen nicht unserer Zuständigkeitsbereich, die Sache ist – falls an ihr überhaupt etwas dran sein sollte – unsere ureigene Angelegenheit. Wir können die Show doch nicht allein den Frankfurtern überlassen.“

Die Art und Weise, wie Deshonra dies wild gestikulierend vorgetragen hatte, ließ keinen Zweifel daran, dass die Diskussion hiermit, was ihn anbelangte, beendet war. In einer kampfeslustigeren Stimmung hätte Bormann seinen Chef nun herausgefordert, indem er ihn für eine kleine Weile in eine Auseinandersetzung darüber verwickelt hätte, welcher Stellenwert Verwaltungsökonomie in Zeiten völlig überlasteter Strafverfolgungsbehörden beizumessen sein sollte. Auf seinem Schreibtisch stapelten sich die Fälle, er und seine Mannschaft kamen kaum hinterher. Es war schwer zu glauben, in welche Winkel der Domstadt die Tentakeln der Korruption nicht schon alle gelangt waren.

Doch die lediglich bis zur Hälfte ausgetrunkene Tasse Kaffee hatte Bormanns Lebensgeister noch nicht zu wecken vermocht. Auf kaum verhohlenes Drängen seines Chefs hin verließ Bormann den Raum, ohne über den mysteriösen Dritten im Bunde das kleinste bisschen erfahren noch ein Sterbenswörtchen mit ihm gewechselt zu haben.

10 – Mayfair, London

Am Nachmittag des 30. Dezember nippte Alexander Büsking zusammen mit seinem Bodyguard im Claridge‘s den Afternoon Tea aus feinsten chinesischem Porzellan – für 80 Pfund pro Person. Gerade hatte er sich von der in London lebenden Alleinerbin eines deutschen Zuliefererunternehmens für die Automobilindustrie verabschiedet. Neben der Einladung zu dem exklusiven Nachmittagstee mit deliziösen Finger-Sandwiches, frischgebackenen Rosinen-Apfel-Scones an Marco Polo-Jelly sowie Cornish Clotted Cream, Himbeertörtchen, Macarons und Rosè-Chmapagner, hatte er sich in den letzten Wochen noch zahlreiche andere Schmeicheleien einfallen lassen, um die alte Milliardärin zu einem Investment in seinen neuen Hedge Fund zu bewegen.

Wie viele ehemalige Investmentbanker versuchte er sich nach seiner Bankkarriere auf diese Weise selbständig zu machen. Schlechterdings ließen die dicken Fische noch auf sich warten. Trotz intensiven Klinkenputzens hatte bisher weder ein US-amerikanischer Lehrer-Pensionsfonds noch ein europäischer Versicherer angebissen, sondern sich allenfalls Plankton angesetzt.

„Thomas, gilt das eigentlich noch, was du mir letztens erzählt hast? Dass du in Deutschland Leute kennst, die alles für Geld machen, sogar jemanden um die Ecke bringen?“

Als Büsking Thomas Rommel vor zwei Jahren eingestellt hatte, war er noch der Meinung gewesen, dass er eigentlich keinen Personenschutz benötigte. Der über zwei Meter große Deutsche war allerdings ein derartiger Inbegriff des blonden Ariers, dass Büsking sich von seinem SS-Mann-haften Erscheinungsbild Vorteile versprochen hatte. Deshalb hatte er ihn bisher auch ausschließlich zu Geschäftsterminen mitgenommen. Inzwischen sah er sich jedoch durch das merkwürdige Heine-Zitat veranlasst, den Mann vorsichtshalber rund um die Uhr zu beschäftigen.

„Heute mehr denn je. Die…“

„Könntest du dann deine Freunde bitten, für mich eine Journalistin etwas einzuschüchtern? Würdest du mir diesen Gefallen erweisen?“

„Selbstverständlich, Boss. Wie heißt die Dame denn? Und darf ihr dabei auch ein Härchen gekrümmt werden?“

Büsking liebte diesen Euphemismus für die Anwendung schierer Gewalt. Er zögerte für einen kurzen Moment, weil es sich bei der Zielperson um die Tochter seines Freundes Fiete Peters handelte. Er selbst hatte sie als kleines Mädchen das ein ums andere Mal auf dem Schoß gehabt. Aber ihr letzter Artikel war einfach schon zu heikel gewesen. Würden sich daran weitere Nachforschungen anschließen und öffentlich werden, dass er Opfer von Anlagebetrügern geworden ist, könnte er seine Pläne begraben. Bei derart negativer Publicity wäre sein eigener Hedge Fund nichts weiter als eine Totgeburt. Niemand vertraute jemandem Geld an, der noch nicht einmal hinreichend auf das eigene Acht geben konnte.

„Rosa Peters. Und ja.“

Zu Fuß auf dem kurzen Rückweg zum Berkeley Square, wo er kürzlich Büroräumlichkeiten für seinen neuen Hedge Fonds angemietet hatte, schob Büsking noch einmal aufkeimende Gewissensbisse entschlossen beiseite. Jetzt musste jeder sich selbst am nächsten stehen. Wenn es nicht seine eigene Tochter wäre, würde das Fiete genauso sehen.

Büsking ließ sich an seinem neuen Schreibtisch nieder. Seine gleichfalls neue Assistentin, die ebenso gut als Bademode-Modell hätte ihr täglich Brot verdienen können, reichte ihm ein paar Minuten später die Post herein. Er wurde zu Stein. Obenauf lag eine Postkarte ohne Absender und mit der folgenden Aufschrift:

Belsazar aber ward in selber Nacht

Von seinen Knechten umgebracht.

Kaum hatte Büsking sich von dem ersten Schreck erholt, da klopfte es erneut. Zwei Besucher, die ihrerseits anders als seine langbeinige Assistentin ganz und gar nicht danach aussahen, als ob sie im Bikini eine gute Figur machten, stellten sich ihm barsch vor. Der eine kam von der britischen Finanzaufsicht FCA und der andere von Scotland Yard. Der Albtraum, der Büsking seit Jahren verfolgte, begann. Seine schlimmsten Befürchtungen wurden plötzlich zur Realität. Es waren angeblich Emails aufgetaucht, die ihn als Mitglied der „French Connection“ entlarvten.

11 – Semperstraße 14, Winterhude

Die Wohngemeinschaft, in der Rosa mit zwei anderen Journalisten auf 70 Quadratmetern zusammenlebte, befand sich im vierten Stock eines alten Mehrfamilienhauses in der Semperstraße. Als sie am Abend des 30. Dezembers die Bibliothek der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Hamburg verließ (sie hatte dort den ganzen Tag über Vergewaltigungsprozesse gelesen) und nach Hause kam, stand die Tür von Philipp, der als fest angestellter Redakteur bei der Wochenzeitung „Die Zeit“ arbeitete, sperrangelweit offen. Das Zimmer war leer. Wie meistens war der sympathische Mittdreißiger anscheinend ausgeflogen. Die Tür der zehn Jahre jüngeren Mareike, eine Volontärin beim Hamburger Abendblatt, war hingegen verschlossen. Aus dem Raum dahinter kamen Geräusche, die Rosa vorerst nicht zu identifizieren vermochte.

Sie hing ihre Jacke an die Garderobe im Flur und ging in ihr eigenes Zimmer. Dort drehte sie die Heizung auf. Anschließend legte sie sich aufs Bett, weil sich auf dem kleinen Schreibtisch unter dem Fenster allerlei Krimskrams zollhoch stapelte und der Schreibtischstuhl bereits von einem unentwirrbaren Kleiderknäuel okkupiert wurde.

Allmählich wurde Rosa klar, worum es sich bei den durch die hellhörige Wand nun gut vernehmbaren Geräuschen handelte. Ihre Mitbewohnerin, die ein unglaublicher Schreihals beim Liebesspiel zu sein imstande war, hatte mal wieder Sex. In letzter Zeit hatte Mareike ihren Verschleiß an Sexualpartnern signifikant gesteigert. Jetzt kam beinahe alle drei Tage ein neuer Typ an die Reihe, mit dem sie es laut stöhnend, manchmal vier Mal an einem einzigen Abend, hemmungslos trieb.

Es hatte Zeiten gegeben, da war Rosa ganz verrückt nach Sex gewesen und hätte vermutlich eine Weile vergnügt zugehört. Doch heute Abend fühlte sie sich extrem unwohl dabei. Sie nahm ihr MacBook, setzte einen Kopfhörer auf und hörte online über den Streamingdienst Spotify Musik.

Während sie die Nachrichten im Internet durchging, sah sie aus dem Augenwinkel einen behaarten, recht hässlichen, an die fünfzig Jahre zählenden Mann an ihrem Zimmer vorbei zur Toilette schlurfen. Sie erschrak. Hoffentlich hatte Mareike nicht ebenfalls was mit ihrem Chef. Angewidert beschloss Rosa, dass es langsam Zeit für sie wurde, das WG-Leben an den Nagel zu hängen und sich eine eigene kleine Wohnung zu mieten.

Sie ging alle Nachrichten-Portale durch, die sie für gewöhnlich frequentierte. Darunter befanden sich sowohl progressivere Webseiten wie diejenigen etwa von Vice Media, der Huffington Post und Gawker, aber auch die Online-Angebote der etablierten Print-Medien, als da wären die Bildzeitung, die FAZ, der Spiegel, etc.

Als sie handelsblatt.com aufrief, entdeckte sie ein bekanntes Gesicht auf einem Photo. Der Titel darüber lautete: „Ex-Banker der Germanischen Bank seit heute Nachmittag in Untersuchungshaft“. Sie verschlang den Artikel regelrecht. Es handelte sich um Alexander Büsking, einen ehemaligen Mitarbeiter im Londoner Büros der Germanischen Bank, den man seitens der britischen Strafverfolgungsbehörden verdächtigte, an der Manipulation des LIBOR beteiligt gewesen zu sein. Die Anklage stützte sich auf kompromittierende Emails, die kürzlich aufgetaucht waren.

Rosa kannte Büsking. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Zuerst Griedl, jetzt kurz darauf Büsking. Irgendetwas war im Gange.

Sie stand auf und machte sich in der Küche einen Kaffee. Auf dem Rückweg schloss sie ihre Zimmertür. Zurück im Bett und dankbar darüber, unterwegs nicht den Misnick – Mareikes haariges Ungeheuer – getroffen zu haben, dachte sie nach.

Was wäre, wenn all dies nicht auf Zufall basierte; wenn Griedl und auch Büsking Opfer desselben Finanzbetrügers bzw. derselben Finanzbetrügerin waren wie offensichtlich der Hannoveraner Drückerkönig Walter Rokamp? Wenn all dies System hätte? Wenn der oder die Unbekannte das gestohlene Geld gezielt dafür einsetzte, die Bestohlenen für ihre Sünden dranzukriegen? Wenn er oder sie sich als moderne Robin Hood-Version entpuppen sollte? Wer war ihm oder ihr noch alles aus der Welt der korrupten Reichen zum Opfer gefallen?

Ein kalter Schauer lief Rosa den Rücken herunter. Das wäre eine Story, wenn sie alles aufdeckte und diesen Robin Hood als Erste interviewte, weil sie ihn vor der Polizei fände. Wer war es nur? Was für eine Person? Wie hat sie es hinbekommen, die reichsten und gewieftesten Finanzgauner mit ihren eigenen Waffen aufs Kreuz zu legen? Bestimmt nicht mit dem einfältigen Verkauf von Lebensversicherungspolicen und Schiffsfonds, das war ein alter Hut, so viel war sicher. Und viel wichtiger noch: Wo befand diese Person sich jetzt?

286,32 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
340 стр.
ISBN:
9783737594141
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают