Читать книгу: «Spur der Vergangenheit», страница 4

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Unfähig, sich bewegen zu können, starrte Tom immer noch auf die Stelle, wo vor wenigen Sekunden noch das Display seinen Blick kreuzte. Was war hier gerade passiert? Er brauchte einen Moment, um zu verstehen. Er wurde erpresst. Er. Aber warum nur? Er hatte keinen blassen Schimmer, worum es sich hier drehte. Und auf einmal war alles, was er liebte, in großer Gefahr. Falk. Er war der Einzige, der ihm alles erklären konnte. Allerdings hatte er das Café schon vor mehreren Stunden verlassen. Kurz entschlossen zog er sein Handy hervor und wählte Falks Nummer. Mailbox. „Scheiße.“

„Ruf mich sofort zurück, wenn du das abgehört hast.“ Tom legte auf. Was jetzt? „Nach Hause. Du musst nach Hause. Hoffentlich geht es ihr gut.“

Fünf

Freitag, 04. Mai, 10 Uhr 20

Sein Chauffeur bahnte sich den Weg durch ein Heer von wartenden Reportern und öffnete ihm die hintere Tür der Limousine. Blitzlichtgewitter brach über ihn herein. Er liebte diese Art von Aufmerksamkeit und stieg langsam und elegant aus dem Wagen. Sogleich wurden ein Dutzend Mikrofone wurden auf ihn gerichtet.

„Herr Mazzoni! Könnten Sie uns eine kurze Stellungnahme geben?“, fragte eine Reporterin.

„Die Stadt ist Ihnen sehr dankbar für Ihre Unterstützung. Was war der entscheidende Auslöser, dass Sie sich gerade für dieses Projekt entschieden haben?“, ein anderer. Er lächelte in die Menge und knöpfte sein Jackett zu.

„Kinder sind unsere Zukunft. Ich hatte das unverschämte Glück, einen perfekten Start ins Leben zu bekommen. Dafür danke ich Gott jeden Tag.“ Er war in seiner Rolle angekommen. Ein angesehener Geschäftsmann dieser Stadt, mit dem ambitionierten Ziel, auch in der Politik weiter Fuß zu fassen. Und sein Name war im Bundestag schon längst kein unbeschriebenes Blatt mehr.

„Die Fusion mit Amnitec ist so gut wie abgeschlossen“, rief ein Reporter von der Frankfurter Allgemeinen. „Eine Menge Arbeitsplätze stehen auf dem Spiel. Ihr Vorgehen ist dabei nicht ganz unumstritten.“ Der Mann trat jetzt in den Vordergrund. „Herr Mazzoni. Haben Sie den Spielplatz nur errichten lassen, um die aufgebrachten Stimmen der Bürger zum Schweigen zu bringen?“ Er hielt ihm das Mikro direkt ins Gesicht, gespannt auf eine Reaktion.

Langsam trat er einen Schritt vor und suchte den direkten Augenkontakt. Mit Entzücken stellte er fest, dass die Hand des Reporters leicht zu beben begann und der Mann schluckte.

„Dass Amnitec in wirtschaftliche Schieflage geraten ist, hat der bisherige Vorstand zu verantworten. Nicht ich. Und so leid es mir tut. Um die Firma wieder in sicheres Fahrwasser zu geleiten, werden Entlassungen nicht zu vermeiden sein. Immerhin trage ich auch eine gewisse Verantwortung gegenüber den Mitarbeitern meines Unternehmens. Das hat aber nichts mit der Entscheidung zu tun, die finanziellen Mittel für den Bau des Spielplatzes bereitzustellen. Das können Sie mir glauben. Die Kids dort leben in einem sozial schwachen Gebiet. Ich wollte ihren Alltag nur ein wenig freundlicher gestalten. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen wollen.“

Das Stimmengewirr nahm wieder Fahrt auf, während ihn Joseph, sein Chauffeur, gegen die aufgebrachte Meute abschirmte.

„Machen Sie Platz und lassen Sie uns durch“, blaffte er in die Runde. Die Fragen erloschen abrupt, als sich die Glastüren zum Eingangsbereich des riesigen Bürogebäudes schlossen.

„Menschen lassen sich so leicht manipulieren. Ein, zwei bedachte Worte und sie fressen einem aus der Hand. Nicht wahr?“

„Sie waren überzeugend wie immer, Sir“, pflichtete ihm Joseph bei und drückte den Knopf zum Aufzug.

„Ich weiß. Aber dieser Möchtegernreporter von der Zeitung liegt mir schwer im Magen. Ich würde zu gern wissen, wie er an diese Informationen gelangen konnte. Ein offizielles Statement wurde weder von mir noch von Amnitec selbst veröffentlicht. Und ich werde das Gefühl nicht los, dass der Kerl keine Ruhe geben wird. Jemand sollte ihm einen Denkzettel verpassen. Wenn herauskommt, dass ich in den letzten Jahren einige Leute manipuliert habe, um nach und nach an Amitecs Aufträge zu kommen, dann habe ich ein Problem.“

„Soll ich mich darum kümmern?“

„Alles zu seiner Zeit. Ich werde mich der Angelegenheit erst einmal selbst annehmen. Ich kenne da jemanden, der mir noch einen Gefallen schuldig ist.“

„Darf ich sonst noch etwas für Sie tun?“

„Danke, Joseph. Fürs Erste nicht. Seien Sie nur pünktlich gegen 16 Uhr wieder hier.“

„Sehr wohl. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Tag.“

Der Lift stoppte in der obersten Etage. Die Türen glitten auf und gaben den Blick frei auf ein lichtdurchflutetes, teuer eingerichtetes Büro. Mit bodentiefem Fensterglas und einem opulenten, aus dunklem Holz gefertigten Schreibtisch, der so platziert davor stand, dass man zu jeder Zeit eine freie Sicht auf die Skyline Frankfurts genießen konnte. Rechts daneben stand ein weißer Betonsockel, auf dem eine schwarze Statue thronte. Zwei fest umschlungene Körper, die auf ewig miteinander verbunden schienen. An der gegenüberliegenden Wand hingen zwei überdimensional große, sehr bunte Gemälde, die auf den Normalsterblichen mit Sicherheit keine besonders hohe Wirkung ausgeübt hätten. Wahllose Pinselstriche, ohne jede Bedeutung. „ Chaos in der Ruhe“ stand unter einem der Bilder geschrieben. Eine durchaus zutreffende Floskel. Jedenfalls auf seinen bemerkenswert erfolgreichen Lebensstil bezogen. Er spürte das Vibrieren seines Handys in der Innentasche, zog es hervor und nahm das Gespräch entgegen.

„Guten Morgen“, sagte er sanft und ohne Umschweife.

„Die Party steigt heute Abend. Ich hoffe doch, du wirst anwesend sein?“

„Um nichts in der Welt werde ich mir das Ereignis entgehen lassen.“ Er hob einen Mundwinkel, während er zufrieden auf die Dächer schaute.

„Es wird viel Aufsehen geben.“

„Wahrscheinlich, ja.“

„Ich …“

Er hörte einen kurzen Seufzer. „Du hast Zweifel?“

„Nein. Nicht, was uns betrifft.“

„Aber?“

„Es ist nur … was ist, wenn alles auffliegt, noch bevor es begonnen hat? Ich habe ein ungutes Gefühl, was diesen Erik betrifft. Außerdem …“ Wieder eine kleine Pause. „Es wäre mir einfach lieber, wenn du jemanden mit etwas mehr Erfahrung für diesen Job eingeteilt hättest.“

Er lachte leise auf. „Du machst dir zu viele Gedanken. Ich dulde keine Fehler, das weißt du. Bereits morgen beginnt für dich ein neues Leben. Du wirst sehen.“

„Ich kann es kaum erwarten.“

„Mir geht es ebenso.“

„Ich würde mich nur besser fühlen, wenn wir bereits alles hinter uns hätten.“

„Sei nicht ungeduldig. Schon morgen um diese Zeit komme ich dich holen, versprochen.“

„Dann sehen wir uns heute nicht mehr?“

Er hörte die Enttäuschung gepaart mit Nervosität in der Stimme.

„Nun, vielleicht lasse ich mich ja doch noch umstimmen und komme auf ein Tänzchen vorbei. Wer weiß das schon.“

„Ich will dich zu nichts überreden, was du nicht möchtest. Verzeih mir, wenn ich dich bedrängt haben sollte.“

„Es gibt nichts zu verzeihen. Wenn ich Lust auf das Spielchen habe, dann tue ich das aus freien Stücken.“ Seine Stimme wurde sinnlicher. „Du bist stark und ich vertraue dir. Aber wenn du dich besser fühlst, werde ich kommen.“

„Womit habe ich dich nur verdient?“

„Du wirst noch genügend Zeit haben, das herauszufinden. Aber jetzt habe ich noch etwas zu erledigen. Und du musst dich vorbereiten. Ich denk an dich. Immer. Und ich rufe dich an, wenn die Zeit reif dazu ist.“

„Danke. Das bedeutet mir sehr viel.“

„Du bedeutest mir sehr viel. Ich liebe dich.“

„Ich liebe dich auch.“

Freitag, 04. Mai, 20 Uhr 11

Chris eilte über den Parkplatz hinüber zum Praxiseingang, dessen Türen in einem ehemaligen Scheunentor eingefasst waren. Sie mühte sich mit einer Hand und ihrem Schlüsselbund ab. Unter dem anderen Arm trug sie eine große Schüssel mit dem von Anni gewünschten Nudelsalat. Sie hatte sich etwas verspätet und das stank ihr gewaltig. Denn Unpünktlichkeit war eigentlich überhaupt nicht ihr Ding. Vor der Tür angekommen fand sie endlich den richtigen Schlüssel, der sich aber zwischen zwei weiteren verkeilt hatte.

„Komm schon …“, murrte sie genervt und schüttelte den Bund so lang hin und her, bis sich der von den anderen löste. „Mann!“

Chris drückte ihn in das Schloss, als sich die Eingangstür wie von selber öffnete. Anni stand im Türrahmen und trocknete sich gerade die Hände mit einem Geschirrtuch ab.

„Alles in Ordnung?“

„Tut mir leid. Ich hab mich etwas verspätet.“

„Jetzt bist du da und das ist alles, was zählt.“

Sie machte einen Satz nach vorne und zog Chris so fest an sich, dass sie fast die Schüssel hätte fallen lassen.

„Ich bin stolz auf dich“, flüsterte sie ihr ins Ohr und verpasste ihr in ihrer gut gelaunten Art einen Boxhieb auf den Oberarm.

„Aua! Spinnst du? Das tat weh.“

„Du wirst es überleben“, spottete sie. „Geh doch schon mal nach hinten. Der Boss ist schon im Garten und lässt die Kohlen heiß laufen. Ich komme mit dem Geschirr sofort nach.“

„Und die anderen beiden?“

„Auch gleich so weit. Patrick versorgt noch schnell einen unserer neusten Stationsgäste und Julia hilft ihm.“

„Ach so. Soll ich schon mal etwas mit nach hinten nehmen?“

„Mhhhh … Mal überlegen …“ Anni tippte sich mit dem Zeigefinger auf die Nasenspitze.

„Du bist da, der Nudelsalat natürlich. Nö. Alles bestens!“

„Sehr witzig, Fräulein Winter.“ Chris drehte sich um und ging in Richtung des kleinen Gartentores, das direkt an das Ende des Gebäudes angrenzte. Der Kies unter ihren Füßen gab bei jedem ihrer Schritte nach und ließ ein rasselndes Geräusch ertönen.

Am Zaun angekommen drehte sich Chris um und drückte das Tor mit ihrem Hinterteil schwungvoll auf. Grundsätzlich war es so gut wie nie verschlossen. Dafür gab es auch keinen Grund, denn das ganze Anwesen lag so weit abseits von der Straße, dass sich nur Patientenbesitzer oder Freunde und Bekannte der Bergers hierhin verirrten. Sie ging den schmalen Trampelpfad entlang und achtete dabei akribisch genau darauf, wo sie hintrat, um nicht ins Straucheln zu geraten. Der Weg war übersät mit kleinen Wurzeln und anderen Hölzern, die von den umliegenden Obstbäumen stammten. An ihrem Lieblingsbaum angekommen gönnte sich Chris einen Augenblick der Ruhe und schwelgte in Gedanken. Hier hatte sie schon als Kind viele schöne und unbeschwerte Stunden zusammen mit Maximilian und Tobi verbringen dürfen. Sie würde niemals den Tag vergessen, an dem Nik und sein kleiner Sohn in ihr Leben getreten waren.

20 Jahre zuvor

Heute war der erste Schultag und Chris wurde der Platz neben Maximilian zugeteilt. Jeder Schüler durfte sich nun vorstellen und etwas über sich und seine Familie erzählen. Irgendwann war auch ihr Tisch an der Reihe. Max nannte seinen Namen. Er erzählte über seine Hobbys und fügte voller Stolz hinzu, dass sein Papa der hiesige Tierarzt war. Auf die Frage hin, was sein Vater den ganzen lieben langen Tag so erlebte, ratterte Max eine Reihe der lustigsten Geschichten herunter.

Chris hing an seinen Lippen, war geradezu fasziniert von seinen Ausführungen und wünschte sich auch so einen Papa. Nun war sie an der Reihe. Sie nannte ihren Namen, ihr Alter und die Lehrerin fragte, ob sie auch etwas über ihre Eltern erzählen wolle.

„Meistens verbringe ich die Zeit bei meiner Tante, da meine Eltern tagsüber oft schlafen.“

„Dann müssen deine Eltern aber einen harten Beruf haben, wenn sie nachts arbeiten. Sind deine Eltern vielleicht auch Ärzte? Bestimmt arbeiten sie im Krankenhaus, richtig?“, forschte sie weiter nach.

„Nein.“ Chris schüttelte entschlossen den Kopf. „Tante Doris sagt immer, dass sie von Berufswegen Alkoholiker sind.“

„Was soll denn das für ein Beruf sein?“, ätzte ein Mädchen aus der hinteren Reihe. Die Lehrerin war fassungslos und rang um Selbstbeherrschung. Ihr dummes Gesicht würde sich auf ewig in Chris‘ Gedanken einbrennen. Da sie nicht wusste, wie sie mit der peinlichen Situation umgehen sollte, entschied sie kurzerhand, nicht näher darauf einzugehen, und nahm den nächsten Schüler an die Reihe. Chris war unendlich wütend und traurig zugleich. Sie sollte erst sehr viel später verstehen, was ihre Worte bedeutet hatten. Sie merkte nicht einmal, dass Max voller Neugier ihren Ausführungen gelauscht hatte. Nie zuvor hatte er von so einem Beruf gehört und konnte es kaum erwarten, mehr darüber zu erfahren.

„Ist bestimmt richtig wichtig, was deine Eltern machen“, flüsterte er ihr ins Ohr, und sie fühlte sich gleich besser. Nach Schulschluss verließen sie gemeinsam das Gebäude. Nik stand bereits auf dem Schulhof und wartete auf seinen Jüngsten.

„Schau, Chris. Da hinten. Das ist mein Papa. Los, ich zeig ihn dir.“

„Ich muss aber nach Hause …“

„Ach, komm schon. Nur ganz kurz.“

Im Nachhinein war sie einfach nur dankbar für seine Hartnäckigkeit, denn sonst wäre ihr Leben wahrscheinlich ganz anders verlaufen. Max watschelte voran, wobei der übergroße Tornister auf seinen Schultern hin und her schaukelte.

„Hallo, Papa!“

„Na, wie war der erste Tag?“

„Gut.“

„Und du hast schon jemanden kennengelernt, wie ich sehe.“

Chris war Max gefolgt und hatte zu ihnen aufgeschlossen. Voller Respekt blickte sie zu dem großen Mann hinauf. Er war schlank und durchtrainiert, hatte dunkelbraunes, glänzendes Haar und in seinen Augen lag ein warmherziger Blick.

„Ja. Stell dir vor, ihre Eltern haben einen total wichtigen Beruf. Die müssen immer nachts arbeiten.“

„Aha. Und was genau machen deine Eltern?“

„Die sind ... ähm … bei den ... ähm … Allo… Allo…“ Er drehte sich zu ihr um. „Wie heißt das noch mal?“

„Alkoholikern.“ Auch den konsternierten Gesichtsausdruck ihres späteren Mentors würde Chris niemals vergessen.

Nach einer kurzen Pause räusperte er sich und fragte: „Wirst du nicht abgeholt?“

„Nein. Aber es ist nicht weit. Ich laufe immer.“

„Tja. Heute nicht. Du kannst mit uns fahren.“

„Ich darf aber nicht mit Fremden mitgehen. Hat mir meine Tante beigebracht. Und sie wäre bestimmt sehr böse auf mich, wenn ich mich nicht daran halte.“

„Womit du absolut recht hast.“ Nik ging vor ihr in die Hocke und hielt ihr seine rechte Hand hin.

„Da die Knalltüte da versäumt hat, uns miteinander bekannt zu machen, hole ich das jetzt nach.“

„Ey! Selber Knalltüte!“

„Ich bin Nikolas. Und wer bist du?“, fragte er sanft.

„Ich heiße Christin, aber du darfst mich Chris nennen“, gab sie frech zurück.

„Nett, dich kennenzulernen, Chris.“ Er schüttelte ihre kleine Hand.

„Na ja. Und die Knalltüte da kennst du ja bereits.“

„Boah, Papa! Du bist so peinlich!“

„So! Und nun sind wir nicht mehr fremd und du kannst mit uns fahren. Oder was meinst du?“ Nik stand wieder auf und lächelte auf sie herab.

„Ich glaube, das stimmt wohl.“

„Na, dann los!“

Sie gingen gemeinsam zu seinem Auto hinüber. Nik öffnete die hintere Tür seines VW Busses.

„Die Herrschaften, darf ich bitten!“

Max sprang als Erster hinein, gefolgt von Chris. Sie hatte bis dahin noch nie in einem so großen Auto gesessen.

„Dein Papa ist lustig!“, flüsterte sie Max ins Ohr und musste kichern. Nik stieg vorne ein und schaute in den Rückspiegel.

„Sagst du mir noch, wo wir hinmüssen?“

„Ja. Die Straße rauf und dann rechts.“

„Alles klar. Los geht’s.“

Bereits wenige Minuten später parkte Nik den saphirblauen VW vor dem Haus, in dem Chris die meiste Zeit bei ihrer Tante Doris verbrachte. Inmitten einer heruntergekommenen Wohnsiedlung. Alle Häuser versprühten den gleichen ungepflegten Charme, der einer Müllhalde gleichkam. Der graue Außenputz bröckelte überall von den Wänden. In einzelnen Vorgärten, sofern man überhaupt davon sprechen konnte, standen alte, verrostete Campingmöbel. Umringt von umgefallenen oder zerschlagenen Bierflaschen. Definitiv nicht der passendste Ort für ein Kleinkind. Aber sie kannte nichts anderes. Es war das normale Leben. Ihr normales Leben.

Nik stieg aus und öffnete die Schiebetür, damit sie aussteigen konnte.

„Hier wohnst du also?“ Seine Miene war unergründlich.

„Ja. Meistens“, sagte sie zögerlich. Auf einmal hatte sie das Gefühl, dass er böse auf sie war. Aber warum bloß? War sie zu frech gewesen? Mit gesenktem Kopf hüpfte sie von der Rückbank.

„Danke fürs Nachhausebringen.“ Plötzlich hatte sie Angst, Maximilians Vater in die Augen zu blicken. Sie vergeudete keine Zeit und schlenderte davon.

„Hey! Warte mal.“

Erschrocken zuckte sie zusammen. Nik stand mit ausgestrecktem Arm an seinem Wagen und schaute sie über das Dach hinweg mit einem sanften Lächeln an.

„Du hast was vergessen.“ Mit der anderen Hand hielt er ihren bunten Tornister in die Höhe. Aber sie rührte sich nicht und blickte weiter zu Boden. Nik spürte, dass sich etwas in dem kleinen, blonden Mädchen verändert hatte. Er folgte ihr auf dem schmalen, betonierten Weg, an dem das Unkraut rechts und links schon längst die Oberhand gewonnen hatte. Vor ihr angekommen, verlagerte er sein Gewicht auf das rechte Knie und schaute in ihre traurigen Augen.

„Außerdem dachte ich, du wolltest uns deiner Tante vorstellen. Jetzt, da wir doch keine Fremden mehr für dich sind.“

Sein Lächeln wirkte ansteckend und mit einem Male war die Keckheit der kleinen Christin zurückgekehrt. Sie nickte begeistert und reckte sogleich ihren Arm in die Höhe, um an die richtige Türklingel zu gelangen. Als der Summer ertönte, drückte Chris die dreckige Haustür mit ihren kleinen Händen auf und sprang in den Hausflur.

„Max! Komm schon“, rief Nik seinem Sohn zu, der die Szene aus dem Seitenfenster des Busses beobachtet hatte. Schmollend stieg er aus und drückte die Schiebetür zu.

„Ich habe Hunger, Papa“, sagte er verstimmt.

„Sei nicht so unhöflich, alter Griesgram.“

„Ich habe noch Kekse!“, verkündete Chris stolz, und Max‘ Miene erhellte sich schlagartig.

Vor der Haustür im ersten Stock angekommen, öffnete eine hager wirkende Dame, etwa Mitte vierzig, die Tür. Der letzte Friseurbesuch lag schon mehrere Wochen zurück und war mehr als überfällig. Der graue Haaransatz stellte einen krassen Kontrast zum Rest der dunkelrot gefärbten Haare dar und ließ sie noch älter wirken, als sie in Wirklichkeit war. Erschrocken wich sie zurück.

„Hast du etwas angestellt?“

„Nein, nein. Alles in Ordnung. Mein Name ist Nikolas Berger. Das ist mein Sohn Maximilian. Die beiden gehen in die gleiche Klasse. Ich habe mich einfach gewundert, dass sie am ersten Tag niemand abholt, und hab sie mitgenommen.“

„Oh, vielen Dank. Darf ich Ihnen vielleicht einen Kaffee anbieten, als kleine Wiedergutmachung?“

„Wenn es keine Umstände macht, sehr gern.“

„Kommen Sie doch bitte rein.“

Nik war mit ihrer Tante in der Küche verschwunden, während sie mit Max im Wohnzimmer Mau-Mau spielte. Welche Dinge dort in der Küche genau besprochen wurden, sollte Chris nie erfahren. Es war ihr auch egal, aber sie vermutete, dass Tante Doris ihm einiges über ihre Lebenssituation erzählt hatte. Ihr Geld reichte kaum für sich selbst, geschweige denn für zwei. Nik hatte sich spontan bereit erklärt, sie künftig auch weiterhin von der Schule abzuholen, und es dauerte nicht lang und schon bald ging Chris bei den Bergers ein und aus.

Und mehr noch. Ihre Eltern scherten sich einen Dreck um ihre Tochter und als man bei Doris Krebs diagnostizierte, nahmen die Bergers, oder besser gesagt Nikolas, Chris ganz bei sich auf. Nicht dass sie mit Claudia irgendwelche Probleme gehabt hätte, aber ihre Beziehung beruhte doch eher auf gegenseitigem Respekt. Sie hatte ihre Einwände durchaus vorgebracht, allerdings Niks Entscheidung und damit auch das kleine blonde Mädchen mit der Zeit akzeptiert.

Tobias kam erst einige Zeit später dazu. Er war mit seinen Eltern aus dem Norden hierher ins Sauerland gezogen. Sie verstanden sich auf Anhieb und immer dann, wenn Nik Tante Hannah auf dem Hof zur Hand ging, durften alle mit. Fortan waren sie die „gemeine Hofbande“.

Eines Tages kam Max auf die Idee, einen bestimmten Baum als Ausguck zu benutzen. Er stieg hinauf, als plötzlich ein Ast unter seinen Füßen wegbrach. Beim Sturz hatte er sich den Arm gebrochen. Nik war gerade damit beschäftigt, einen neuen Holzpfahl in die Erde zu schlagen, als er von dem Geschrei seines Sohnes aufgeschreckt wurde. Er eilte herbei, begutachtete den Schaden und fuhr mit Max ins Krankenhaus.

Sie und Tobi blieben zurück und fühlten sich hundeelend. Daran konnte auch Hannahs heißer Kakao mit Sahne nichts ändern. Bald schon waren Vater und Sohn wieder zurück und Max präsentierte stolz seinen Gips, auf dem sie sich als Erste verewigte. Die nachträgliche Standpauke kam zwar spät, aber sie kam, und seither hatte niemand von ihnen auch nur einen Fuß auf einen dieser Bäume gesetzt.

Das war nun gut zwanzig Jahre her, doch ihre Freundschaft hatte bis heute Bestand. Zumindest zu Max. Ihre Gefühle und Zuneigung zu Tobias hatten sich erst viel später eingestellt. Mit der flachen Hand gab sie der Rinde noch einen Klaps und wandte sich um, ohne jedoch den Weg fortzusetzen.

Nik stand gut zehn Meter entfernt von ihr am Grill und stocherte gedankenversunken in der Glut umher. In der anderen Hand hielt er eine Flasche Bier, aus der er hin und wieder einen Schluck trank. Den grünen OP-Kasack hatte er gegen ein frisches Shirt und eine graue Kapuzenjacke mit der weißen Aufschrift Abercrombie & Fitch eingetauscht. Es war ein Weihnachtsgeschenk seines Sohnes und Chris mochte diesen Hoody sehr an ihm. Bei dem Gedanken verstand sie endlich, wie allein er sich in den letzten Wochen gefühlt haben musste. Und wenn sie ganz ehrlich zu sich war, hatte sie eigentlich vorgehabt, unter irgendeinem Vorwand nicht hier sein zu müssen. Doch jetzt, als sie sah, wie verloren er wirkte, kam es ihr gut und richtig vor, der Einladung gefolgt zu sein.

Was war nur aus diesem immerwährend glücklichen und positiv denkenden Menschen geworden? Wieder überkam sie das schlechte Gewissen, nur an ihre Probleme gedacht zu haben, und war sofort sauer auf sich und ihren verdammten Egoismus. Anni hatte recht. Die Ablenkung konnte ihm nur guttun. Und ihr wohl auch, zumindest hoffte sie das.

Nik nahm einen letzten Schluck und stellte die leere Flasche auf den kleinen Tisch direkt neben dem Grill ab. Dann drehte er sich mit dem Rücken zu ihr, stopfte seine Hände in die Jeans und ließ seinen Blick in die Ferne schweifen. Chris beschloss, ihr kleines Versteck aufzugeben und sich zu zeigen. Sie ging den kleinen unauffälligen Weg weiter hinüber zur Terrasse.

Dieser Teil des Gartens erschien immer sehr gepflegt, wenngleich die Beete schon bessere Tage gesehen hatten. Sie nahm sich vor, in der kommenden Woche einfach neue Blumen zu pflanzen und den Rest vom Unkraut zu befreien. An dem großen Tisch angekommen stellte sie den Nudelsalat in der Mitte ab. Etwas abseits, mehr im Schatten gelegen, entdeckte sie einen Kasten mit gemischten Getränken. Sie nahm für sich ein Radler und eine weitere Flasche Bier für Nik heraus. Dann drehte sie sich wieder zu ihm um und ihr Herz fühlte sich schwerer denn je an. Nik stand unverändert da und hatte immer noch keine Notiz von ihr genommen. Sie ging zu ihm hinüber und reichte ihm die Flasche.

„Salut!“, sagte sie und hielt ihm ihre Flasche entgegen. „Auf dich.“

„Danke.“ Er lächelte sie freundlich an und ließ seine Flasche gegen ihre gleiten, sodass ein klangvolles Geräusch entstand. Minutenlang standen sie nebeneinander und schauten über die Wiesen und Wälder seines riesigen Anwesens. Bis auf das gelegentliche Knistern der Holzkohle und den aufgebrachten Gesang einer Amsel war rund um den Hof kaum etwas anderes zu hören.

„Ich hab ehrlich gesagt gar nicht mit dir gerechnet“, unterbrach er plötzlich die Stille und betrachtete sie eindringlich.

„Ich wurde genötigt“, überspielte sie die Bemerkung und fügte noch hinzu. „Ich hoffe doch, du hast trotzdem noch etwas Essbares für mich eingeplant?“

„So viel du willst.“

Er wandte sich wieder von ihr ab und seine Miene wurde ernster.

„Chris?“

„Mhh?“

„Ich wollte dich etwas fragen.“

„Schieß los.“

„Könntest du dir vorstellen, wieder mehr für mich zu arbeiten? Anni würde sich über etwas mehr Unterstützung bestimmt sehr freuen. Ich im Übrigen auch.“

„Das kommt jetzt sehr überraschend. Ich ...“

„Du musst das nicht sofort entscheiden. Es ist nur so …“ Er schaute sie wieder an. „Ich denke einfach, Tobias hätte nicht gewollt, dass du aufhörst zu leben. Es ist an der Zeit, loszulassen. Findest du nicht?“

Chris hielt inne, schlug die Arme übereinander und schaute ihn vorwurfsvoll an.

„Sag mal, nimmst du dir deine Ratschläge manchmal auch selber zu Herzen?“ Sie klang schroffer als eigentlich beabsichtigt, aber er tat es schon wieder. Er stellte seine eigenen Probleme und Bedürfnisse zurück, nur um für sie da zu sein. Damit sie sich besser fühlte. Das machte sie wütend, obwohl dafür ja eigentlich kein Grund bestand. Er meinte es nur gut. Er meinte es immer gut. Aber diesmal sollte er keine Chance bekommen, von sich abzulenken. Chris hatte sich fest vorgenommen, ihn heute aus der Reserve zu locken, aber als sie seinem erschrockenen Gesichtsausdruck begegnete, wurde sie wieder sanfter.

„Entschuldige bitte. Ich wollte dich nicht so anfahren. Du hast ja recht. Aber ich bin noch nicht so weit. Im Übrigen …“ Sie bemerkte erst jetzt, wie angespannt sie innerlich war. Ihr ganzer Körper schien vor Unsicherheit zu vibrieren. Sie löste sich etwas von ihm, trat ein Stück zur Seite und überlegte, wie sie am besten anfangen sollte, ohne ihn zu verärgern.

„Ich glaube einfach, jetzt wäre mal der ideale Zeitpunkt, über dich zu sprechen. Darüber, was in letzter Zeit mit dir los ist.“ Sie wandte sich langsam zu ihm um und wartete auf eine Reaktion. Er hob eine Augenbraue.

„Ehrlich gesagt, ich weiß nicht, was du meinst.“

„Ach bitte, Nik. Du hast wirklich viele Talente. Schauspielerei gehört nicht dazu.“

„Touché!“ Er hielt sich eine Hand vor die Brust und wirkte belustigt. „Ich dachte wirklich, ich hätte es drauf.“ Er machte einen Schmollmund, aber seine Heiterkeit erreichte seine Augen nicht. Sie wusste, was er vorhatte. Nämlich von seiner eigenen Unsicherheit abzulenken.

„Bitte, tu das nicht.“

„Was?“

„Hör auf, dich immer verstellen zu wollen. Du läufst schon seit einiger Zeit neben der Spur. Und außerdem …“, sie blickte wieder verlegen zur Seite, „... weiß ich ohnehin schon längst Bescheid. Anni hat mir gesagt, dass du Streit mit Claudia hattest. Schon wieder.“

Ein Muskel in seinem Kiefer fing gefährlich an zu zucken und Chris hatte Angst, zu weit gegangen zu sein.

„Konnte ich mir ja denken, dass da jemand seinen Mund wieder nicht halten konnte“, presste er hervor.

„Das ist nicht fair von dir. Sie macht sich auch nur Sorgen, genau wie wir alle. Wir wollen dir doch nur helfen. Aber du lässt seit Wochen keinen an dich heran. Es ist, als wenn du zwischen zwei Welten pendelst.“

„Ich weiß …“ Er atmete tief durch.

„Bitte, sei nicht wütend auf Anni.“

„Bin ich ja nicht.“

„Dann rede endlich mit mir. Wie schlimm ist es diesmal?“ Chris ließ ihn jetzt nicht mehr aus den Augen.

„Ich gehe davon aus, dass unsere Ehe beendet ist.“

Er wandte sich von ihr ab und trank einen weiteren großen Schluck von seinem Bier. Für einen Augenblick hatte sie das Gefühl, ein Aufblitzen in seinem Augenwinkel ausgemacht zu haben, war sich aber nicht sicher.

„Weiß Max schon davon?“

„Nein, und dabei will ich es auch erst mal belassen. Noch ist nichts entschieden.“

„Meinst du nicht, er hat ein Recht darauf, es zu erfahren?“

„Dafür bleibt noch genug Zeit. Können wir vielleicht wieder über etwas anderes reden?“

Hilfesuchend wandte er sich zu ihr um. Chris merkte, dass er sich unwohl in seiner Haut fühlte. Er war es einfach nicht gewohnt, dass ihn jemand so derart bedrängte, um Einblick in seine Gefühlslage zu bekommen, aber etwas in ihr sagte ihr, dass sie auf dem richtigen Weg war, ihn zu erreichen.

„Nik, ich versteh es nur nicht. Du und Claudia, ihr wirktet schon lange nicht mehr wie ein glückliches Paar. Es schien dir bis vor Kurzem noch nicht einmal etwas auszumachen, dass sie sich eine eigene Wohnung genommen hat. Was hat sich verändert?“

Er schloss die Augen und ließ den Kopf nach vorne fallen.

„Du gibst nicht auf, oder?“

„Nein.“

„Na schön. Es stimmt. Viel Gemeinsames hat uns wirklich nicht mehr miteinander verbunden. Aber es stimmt nicht, dass es mir nichts ausgemacht hat, als sie fortgegangen ist. Ich habe es nur irgendwie ... na ja … einfach hingenommen und mir höchstwahrscheinlich auch selber etwas vorgemacht. Letzte Woche wurde mir die Stille im Haus dann einfach zu viel. Ich hatte das Gefühl, vor Einsamkeit zu ersticken. Stundenlang habe ich auf den Sandsack eingeschlagen, aber es half nicht. Dann beschloss ich, mich ins Auto zu setzen und zu ihr zu fahren. Ich wollte einfach mal wieder vernünftig mit ihr reden. Sie bitten, wieder nach Hause zu kommen. Job hin oder her.“ Mühsam öffnete er seine Augen und blickte gequält auf sein Bier.

„Auf der Fahrt zu ihrer Wohnung hatte ich mir genau zurechtgelegt, was ich ihr alles sagen wollte. Alles, was ich ihr schon viel früher hätte sagen sollen. Verdammt, ich habe einen Großteil meines Lebens mit dieser Frau verbracht. Das wollte ich nicht einfach so wegwerfen.“

„Verständlich. Euch nur noch getrennt zu sehen, ist auch für mich ein komisches Gefühl. Aber es geht dir schon einige Zeit sehr schlecht. Du weißt doch, dass du auch mal zu mir hättest kommen können?“

„Um genau was zu tun? Dir mit meinem Gejammer die Abende zu verderben?“

„Ich dachte, genau dafür ist Familie da“, gab sie kleinlaut zurück und schaute verstohlen zu Boden. Nik seufzte und zog sie unvermittelt in seine Arme.

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