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Vier

Mittwoch, 02. Mai, 10 Uhr 15

„Miau …“

Ähnlich wie eine thailändische Statue saß die kleine Siamkatze auf einem der vier Küchenstühle und bewegte ihren Schwanz rhythmisch von rechts nach links. Ihre himmelblauen Augen folgten jeder ihrer Bewegungen. In der Hoffnung, vielleicht auch eine Kleinigkeit der Leckereien, die sich dort auf der Anrichte befanden, abstauben zu können.

Christin, kurz Chris genannt, hatte gerade den frisch gebackenen Marmorkuchen in eine Folie gehüllt und mit blauem und weißem Geschenkband hübsch verpackt.

„Und? Wie findest du es, Sarami?“

„Brrrrrr …“, schnurrte sie anerkennend.

Chris stellte den Kuchen zur Seite und blickte sanft und dabei lächelnd auf ihren Stubentiger herab.

„Sie müssen sich noch etwas gedulden, junge Dame.“

Chris öffnete die Tür zum Kühlschrank, nahm zwei Becher Sahne heraus und füllte den Inhalt in einen Messbecher. Nun tänzelte Sarami unruhig auf dem Stuhl hin und her. Chris stellte den Mixer an und schon wenige Augenblicke später hatte die Sahne eine feste Konsistenz angenommen. Um sicherzugehen, dass geschmacklich alles in Ordnung war, holte sie einen Löffel aus der Schublade und probierte.

„Mhhhhh …“

Das war zu viel für den Siamesen. Theatralisch ließ sie eine Reihe der unterschiedlichsten Tonfolgen erklingen und hatte mit ihrem energischen Getue auch schnell Erfolg.

„Schon gut, schon gut!“, gab Chris auf und füllte eine Esslöffelportion in Saramis Napf. Die Katze sprang vom Stuhl, hastete zu ihrem Futterplatz und ließ die Zunge vor- und zurückschnellen, sodass die Sahne in Nullkommanichts verputzt war. Zufrieden verließ sie die Küche, sprang auf ihren Kratzbaum im Wohnzimmer und fing an, sich ausgiebig zu putzen.

Chris hatte unterdessen die fertige Sahne in eine Dose umgefüllt und zusammen mit dem Kuchen in ihrem grünen Einkaufskorb verstaut. Sie räumte noch schnell das schmutzige Geschirr in die Spülmaschine und folgte Sarami in den hellen, freundlichen Raum, wo sie nach ihrer Jacke und den Autoschlüsseln griff. Die Katze war immer noch mit der Fellpflege beschäftigt und schaute nur kurz auf, als Chris im Begriff war, die Wohnung zu verlassen.

„So, Süße, du hältst hier die Stellung. Ich bin gleich wieder da. In Ordnung?“

„Mauuu …“, antwortete Sarami prompt. Es war typisch für diese Rasse, immer das letzte Wort zu haben. Lächelnd ging Chris zu ihr, nahm den Kopf der Katze zwischen ihre Hände und legte die Stirn sanft auf die ihre. Sie liebte dieses Tier über alles und hätte nicht gewusst, wie sie die letzten Monate ohne ihre kleine Sarami hätte überstehen sollen. Das Gespür, gepaart mit dem Instinkt, einfach da zu sein, wenn es ihr schlecht ging, schien allgegenwärtig. Auch in den letzten Tagen, in denen Chris endlich die Kraft gefunden hatte, Tobias‘ Sachen auszusortieren, gab Sarami ihr Halt und brachte sie hin und wieder sogar zum Lachen. Eigentlich hatte sie sich so viel vorgenommen, wollte die Wohnung komplett verändern. Aber wie so oft brachte sie es nicht übers Herz, auch die letzte Erinnerung an ihren verstorbenen Verlobten zu beseitigen.

Ein sanfter Kopfstoß der Katze riss sie aus ihren Gedanken und Chris erinnerte sich wieder daran, was sie eigentlich gerade vorhatte. Nik hatte heute Geburtstag und sie wollte es sich auch in diesem Jahr nicht nehmen lassen, ihn mit einem selbstgebackenen Kuchen zu überraschen. Für sie war er einer der letzten verbliebenden Menschen, die ihr wirklich etwas bedeuteten. Abgesehen natürlich von Anni, ihrer besten Freundin, und Maximilian, seinem Sohn. Schon früh hatte sich der Tierarzt ihrer angenommen und Gott weiß, wie ihr Leben verlaufen wäre, hätte es diesen Mann nicht gegeben.

Deshalb hatte sie sich auch in diesem Jahr die Mühe gemacht, den Kuchen nach Tante Hannas Rezept zu backen. Sie wusste, wie sehr er ihn mochte. Chris straffte sich und ging zurück in die Küche, um den Korb zu holen. Sie überprüfte noch kurz, ob auch alles gut verpackt war, und verließ die Wohnung.

Bereits zehn Minuten später bog der rote Kleinwagen von der langen Zufahrt auf den großen geschotterten Parkplatz vor der Kleintierpraxis ein. Nahezu alle Stellplätze waren besetzt, doch Chris erspähte noch eine freie Stelle direkt neben einem Monster von einem Auto. Einem silberfarbenen Dodge RAM. Zwei parallel laufende, mattschwarze Streifen zierten die Motorhaube und ließen den Wagen noch bulliger erscheinen.

Dagegen wirkt meiner wie das reinste Spielzeugauto“, dachte sie und parkte ein. Sie stellte den Motor ab, stieg aus und ging zum Kofferraum, als ihr das Kennzeichen des Ungetüms ins Auge fiel. Sie stieß einen leisen Pfiff aus, denn anhand der Buchstaben und Ziffern konnte es sich nur um Niks neuen Truck handeln.

„Nette Kiste, Dr. Berger.“ Sie schnalzte mit der Zunge und ging zum Praxiseingang.

Die Tür stand offen und Chris schlug lautes Hundegebell entgegen. Sie hatte bereits einige Fahrzeuge auf dem Parkplatz wiedererkannt und wusste, dass der hiesige Golden Retriever Club anwesend war.

Das bedeutete Großkampftag für alle Beteiligten. Das Erstellen und Auswerten der Röntgenbilder von Hüfte und Ellbogen der jungen Hunde nahm immer sehr viel Zeit in Anspruch. Für die Züchter ging es um viel. Wurden ihre großen Erwartungen bestätigt oder mussten sie Hunde von der Zucht ausschließen? Chris nahm sich vor, nicht lange zu stören, und ging in Richtung der Anmeldung. Eine dunkelhaarige, konzentriert dreinblickende junge Frau saß dahinter und war gerade damit beschäftigt, einzelne Laborergebnisse in den Computer einzutragen. Sie blickte auf und als sie Chris erkannte, machte sich ein Grinsen in ihrem Gesicht breit, das ein kleines Piercing in der Oberlippe zum Glitzern brachte.

„Sonnenschein!! Was machst du denn hier? Was machen die Malerarbeiten?“

Chris hielt ihr den Korb entgegen und lächelte sie an.

„Nervennahrung. Ich sehe schon, was hier los ist, deshalb will ich nur schnell gratulieren und bin dann auch schon wieder verschwunden.“

„Kuchen! Damit retten Sie mir den Vormittag, Frau Bachmann.“

„Das dachte ich mir. Waren wir heute Morgen mal wieder spät dran?“

„Kennst mich doch! Ich schlafe halt gerne.“

„Klar, das wird sich wohl auch nie ändern, oder?“

Was wohl der Wahrheit entsprach. Bereits in der Berufsschule hatte Anni immer eine Notfallreserve in ihrem Rucksack, um das aufkommende Hungergefühl im Unterricht bekämpfen zu können. Entspannte Frühstückszeiten waren halt nie so ihr Ding. Chris hatte sich immer schon gewundert, wie man es schaffen konnte, bei dem Schokoladen-Konsum eine solche Figur beizubehalten. Anni hatte ihre veterinärmedizinische Karriere in einer Praxis im Ruhrgebiet gestartet und die ersten Jahre auch dort gearbeitet, bevor sie vor gut zwei Jahren bei Dr. Berger gelandet war. Das war kurz nach Tobias‘ tödlichem Unfall gewesen. Chris hatte eine sehr lange Auszeit gebraucht und hatte es bis heute nicht geschafft, ihre Vollzeitstelle hier wieder aufzunehmen. In der Acrylmalerei fand sie die innere Ruhe, die sie benötigte, um wieder einigermaßen mit dem Leben klarzukommen. Und sie war gar nicht schlecht darin. Von dem Verkauf einiger Bilder und den wenigen Stunden, die sie in der Praxis aushalf, konnte sie sich gut über Wasser halten. Auch hier hingen einige ihrer Werke, für die Sarami posierte, an den Wänden. Und auch auf Annis Unterstützung und Hilfe konnte sie sich von Anfang an verlassen und so wurden die beiden im Laufe der Zeit zu besten Freundinnen.

„Aber Spaß beiseite. Wenn du noch etwas Zeit hast, dann bleib doch. Wir könnten dann gemeinsam einen Kaffee trinken. So lang wird es wohl nicht mehr dauern“, riss Anni sie aus den Gedanken, als in diesem Augenblick ein Retriever an ihnen vorbeihastete, seinen Besitzer im Schlepptau. Das Tier hatte eindeutig genug von diesen Räumlichkeiten und stürmte forsch nach vorne, um an die frische Luft zu gelangen.

„Bis nächste Woche, Frau Winter“, verabschiedete sich der Mann hastig und war auch schon verschwunden.

„Siehst du. Wir sind heute von der schnellen Truppe“, bemerkte Anni beiläufig, als plötzlich eine tiefe Stimme durch den Flur donnerte.

„Anni! Sind die beiden letzten Aufnahmen von Dorian und Doolittle schon entwickelt?“

„Ja, Chef! Entwickelt und bereits auf Ihrem Server.“

„Und wann genau wolltest du mir das mitteilen?“

„Ähm …, also eigentlich direkt, nachdem ich Ihnen Herrn Richter in Behandlung Zwei geschickt und noch bevor ich das Rezept für Frau Becker geschrieben hätte.“

„Sehr witzig, Anni.“ Eine Tür wurde wieder zugestoßen.

Anni stützte ihren Kopf auf dem linken Arm ab und grinste Chris in ihrer typisch lockeren Art an.

„Was ist denn mit dem los?“

„Oh. Das geht schon den ganzen Tag so. Prinz Charming himself.“

„Und gibt es einen Grund für seine schlechte Laune?“

Anni schnaubte verächtlich. „Derselbe wie immer. Er hat dunkelbraune, lange Haare und ist mit ihm verheiratet.“

„Aha. Daher weht der Wind. Sag mal, wo steckt eigentlich Julia?“

„Die ist mit Patrick beim alten Pröpper und …“ Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf den Parkplatz, als ein alter, schwarzer Range Rover mit Vollbremsung vor der Tür zum Stehen kam.

„… wenn man vom Teufel spricht“, vollendete sie den Satz.

Quietschend öffnete sich die Wagentür und begleitet von fluchenden Schimpfwörtern stieg der junge Assistenzarzt aus. Mit voller Wucht knallte er die Autotür zu, hastete in den Flur und nickte den beiden kurz zu.

„Also ehrlich, Anni. Nik muss sich wirklich langsam mal um die Bremsen kümmern. Das Ding ist lebensgefährlich!!“

„Und trotzdem hast du überlebt. Patrick, du bist mein persönlicher Held“, spottete sie, denn sie wusste, dass er unter Stress gerne mal zu Übertreibungen neigte, weshalb sie ihn nie wirklich ernst nehmen konnte. Wobei sie für seine heutige schlechte Laune durchaus Verständnis zeigte.

Bereits in der Früh hatte es eine Auseinandersetzung zwischen ihm und ihrem Chef gegeben. Es ging wie immer um dasselbe. Patrick wollte mehr Verantwortung und damit eigenständiger arbeiten. Und Nik kümmerte sich am liebsten um alles selbst. Es lag nicht daran, dass er kein Vertrauen zu seinem Assistenzarzt besaß. Vielmehr konnte Nik einfach nicht loslassen. Das hier war sein Baby, über das er niemals die Kontrolle, wenn auch nur ansatzweise, abgeben konnte. Dazu kam, dass Nik im Augenblick schwere Zeiten durchlebte, was allen Anwesenden bewusst war.

Aber heute Morgen war er einfach zu weit gegangen. Patrick gegenüber hatte er einzelne Bemerkungen fallen lassen, die ihn zutiefst gekränkt hatten. Diesmal würde es noch einige Stunden brauchen, bis sich die Wogen wieder geglättet hätten.

„Sag mal, hast du nicht was vergessen?“, fragte Anni, und Patrick musterte sie mit einem nichtssagenden Gesichtsausdruck.

„Falls du Julia meinst, die hab ich zum Duschen nach Hause gebracht.“

„Hääähh …?“

„Willst du die Kurzform oder die lange Version?“

„Kurzform reicht völlig.“ Sie zuckte mit den Schultern.

„Also, ich ziehe an Kalb, Julia an mir, Kalb gibt nach und na ja ... wer im Scheißhaufen gelandet ist, könnt ihr euch ja denken.“

Chris verzog das Gesicht. „Die Entschuldigung lass ich gelten. Dann bleib ich hier und helf euch solange.“

„Auf gar keinen Fall!“, protestierte Anni. „Du hast zu tun und soweit ich weiß, davon eine Menge. Wie weit bist du eigentlich mit der Umgestaltung deiner vier Wände?“

Chris vermied es, ihrem Blick zu begegnen, und schaute verlegen zu Boden. „Es geht voran“, antwortete sie leichthin.

„Wie viel Patienten haben wir noch?“, unterbrach sie Patrick barsch.

„Noch sechs. Und alle warten nur darauf, von Ihnen persönlich behandelt zu werden, Dr. Weimer.“ Sie rollte mit den Augen und hoffte, er würde sich endlich ein wenig entspannen und wieder verschwinden.

„Na, wunderbar, was habt ihr eigentlich die ganze Zeit gemacht?“

Verärgert über diesen überflüssigen Kommentar setzte Anni zur Verteidigung an.

„Du fährst über eine Stunde in der Gegend rum, nimmst noch Julia mit, obwohl du sonst auch allein unterwegs bist, lässt uns mit einer vollen Hütte zurück und fragst auch noch so blöd, was wir hier gemacht haben?“

Völlig erschrocken über diese Reaktion ruderte Patrick sofort zurück.

„Tut mir leid. Es war 'ne Scheißgeburt und ich … ich dachte, es wäre eine gute Gelegenheit gewesen, Julia auch einmal in die Welt der Großtiere einzuführen. Außerdem mache ich es ihm eh n…“ Er wiegelte ab und schüttelte den Kopf. „Vergiss es einfach. Ich hab´s wirklich nicht so gemeint.“

„Schon gut. Entschuldigung akzeptiert“, gab sie nach. Patrick war die Situation nun sehr unangenehm. Er fühlte sich wie das fünfte Rad am Wagen, deshalb schaute er noch schnell in der Wartezimmerliste nach, wer der Nächste war, und setzte sich in Bewegung.

„Kann ich in die Eins?“

„Klar, hab ich gerade aufgeräumt.“

„Danke. Lieb von dir“, sagte er und verschwand.

„Was, bitte schön, war das denn?“, begann Chris, als eine ältere Dame durch die Tür herein kam.

„Oh, Mann. Heute nerven aber auch wirklich alle. Ich erkläre dir gleich alles.“ Sie schaute auf und lächelte ihr entgegen. „Guten Morgen, Frau Kuhlisch. Geht es Ihrem Hündchen etwa schlechter?“

Völlig außer Atem blieb die kleine, rundliche Frau an der Anmeldung stehen und musste sich erst mal sammeln.

„Entschuldigen Sie, meine Liebe, dass ich Sie noch mal belästigen muss“, sagte sie und holte tief Luft. „Aber ich habe doch glatt vergessen, das Diätfutter für meinen Flocki mitzunehmen. Haben Sie vielleicht noch eine Tüte da?“

„Klar doch. Für Sie immer, Frau Kuhlisch“, antwortete Anni und zwinkerte der alten Dame zu.

„Ich hol es Ihnen schnell. Einen Zwei-Kilo-Beutel wie immer?“

„Ja, bitte. Das ist wirklich nett von Ihnen.“

Erst jetzt bemerkte sie, dass auch Chris an der Anmeldung lehnte und sie freundlich ansah.

„Ach, hallo, Frau Bachmann. Entschuldigung, ich habe Sie gar nicht bemerkt. Wie geht es Ihnen?“

„Prima. Danke“, erwiderte Chris, auch wenn das gelogen war. „Ich bin heute in privater Mission hier“, erklärte sie weiter und holte den Kuchen aus dem Korb. Inzwischen war Anni wieder zurück und legte den Beutel mit dem Trockenfutter auf die Ablage.

„Das ist aber wirklich taktlos von mir. Ich wünsche Ihnen alles Liebe zum Geburtstag, Frau Winter.“

Anni blieb wie angewurzelt stehen und bedachte Chris mit einem überraschten Blick.

„Nein, nein, Frau Kuhlisch. Der Kuchen ist für den Chef. Er hat heute seinen Ehrentag.“

„Aha“, sagte sie erleichtert und fügte hinzu. „Zweiundfünfzig, richtig? Da wird mir allerdings einiges klar.“

Ratlose Gesichter.

„Wie meinen Sie das?“, hakte Anni neugierig nach.

„Na ja, sagen wir mal so. Ihr Chef ist in letzter Zeit nicht so auf der Höhe, oder?“

„Das ist Ihnen aufgefallen?“

„Ja klar, ist doch nicht zu übersehen.“ Sie hob ihren wulstigen Zeigefinger in die Höhe und sah aus, als imitiere sie gerade den Lehrer von Max und Moritz.

„Neulich hat er mich dreimal innerhalb von 10 Minuten nach dem Entwurmungsstatus meines Hundes gefragt. Überhaupt nicht bei der Sache, der Mann. Glauben Sie mir, ich weiß Bescheid, denn das hab ich mit meinem Heinzi, Gott hab ihn selig, auch schon durchgemacht. Ist für Männer halt eine schlimme Sache, so eine … ähm, wie sagt man doch gleich … Midlife Crisis?“

„Also von der Seite haben wir das noch gar nicht betrachtet, oder Chrissi?“

„Absolut nicht. Nein.“

„Und es wird schlimmer, meine Liebe. Erst sind sie ständig schlecht gelaunt und unkonzentriert. Irgendwann legen sie sich dann ein neues Spielzeug zu. Stellen Sie sich vor, plötzlich meinte mein Mann, er müsse unbedingt auch so ein Internet-Dings haben. Dabei hatte er von Computern so viel Ahnung wie mein Hündchen vom Kartenspielen.“

Chris und Anni nickten knapp und drehten ihre Köpfe zur gleichen Zeit in Richtung Parkplatz, wo ihre Blicke den neuen Dodge fanden, der in der Sonne glänzte. Anni konnte nicht mehr an sich halten und prustete los vor Lachen und die Tränen kullerten ihr über die Wangen.

„Sie sind wirklich 'ne Marke, Frau Kuhlisch.“

Die Frau verstand zwar nicht, was so komisch an ihrer Ausführung gewesen sein sollte, ließ sich aber von der Heiterkeit anstecken. Plötzlich wurde es dunkel hinter Anni.

„Er steht hinter mir, oder?“, fragte sie und rang immer noch sichtlich nach Luft.

„Mhhh … tut er und ist ganz versessen darauf zu erfahren, warum hier nicht gearbeitet wird und die Damen so viel Spaß haben.“ Mit vor der Brust verschränkten Armen stand Dr. Nikolas Berger, meist Nik genannt, einfach nur da und bedachte die drei mit einem auffordernden Blick. Wie üblich trug der gut 1,90 Meter große Mann legere Jeans, einen grünen OP-Kasack und darunter ein eng anliegendes, weißes Langarmshirt, welches seine muskulösen Arme perfekt zur Geltung brachte. Der moderne Kurzhaarschnitt sowie der akkurat gestutzte Drei-Tage-Bart machten das Bild eines attraktiven Mannes perfekt, auch wenn die mittlerweile ergrauten Haare dem früheren Dunkelbraun den Rang abgelaufen hatten.

Chris musterte ihn von der Seite und erkannte sofort, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Seine braunen Augen, die sonst so freundlich dreinblickten und damit Lebensfreude pur verströmten, wirkten heute leer und ausdruckslos. Adern und Venen, die über seine kräftigen Unterarme verliefen, traten besonders stark hervor. Chris vermutete, dass er, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, mindestens sechs bis acht Pfund an Gewicht verloren hatte. Sein ganzes Auftreten wirkte angestrengt und gespielt. Wie so oft, wenn es ihm nicht gut ging. Sie machte sich eine Notiz an sich selber, ihn am Wochenende zu sich zum Essen einzuladen.

„Meinen herzlichsten Glückwunsch, Dr. Berger“, preschte die alte Dame voran, in der Hoffnung, die Situation retten zu können. „Wissen Sie, wir drei haben uns lediglich über Männer und ihre Spielzeuge unterhalten.“

Sofort kicherte Anni wieder drauflos und vergrub sich unterm Schreibtisch.

„Spielzeuge?“, wiederholte er und hob dabei eine Augenbraue.

„Ja, genau. Das ist ja so ein Thema für sich und ich würde Ihnen das auch gerne weiter erläutern, aber leider muss ich mich jetzt auch von Ihnen verabschieden. Ich bin noch mit den Damen von unserem Canasta-Club zum Tee verabredet. Schreiben Sie das Futter bitte auf, Frau Winter? Ich begleiche die Rechnung dann nächste Woche. Haben Sie noch einen schönen Tag.“

Anni hob einen Daumen und bedeutete der Frau, dass sie verstanden hatte.

„Hey, Boss, Happy Birthday!“, beglückwünschte ihn nun auch Chris, kam um die Anmeldung herum und drückte ihn fest an sich. „Wünsch dir alles Gute, Nik.“

„Danke, lieb von dir.“ Er löste langsam die Umarmung.

„Sag mal, ist alles in Ordnung mit dir? Du wirkst irgendwie angespannt.“

„Alles bestens.“ Sein Blick erspähte den Marmorkuchen und er hob einen Mundwinkel. „Ich hoffe doch, nach Tante Hannas Rezept?“

„Aber natürlich!“, antwortete sie und tat dabei so, als wäre sie empört über diese Frage. „Für unseren Lieblingschef nur das Beste.“

„Also, soweit mir bekannt ist, habt ihr ja auch nur einen. Oder ist mir da was entgangen?“ Seine Haltung blieb unverändert.

„Nein. Genauso ist es. Und deshalb müssen wir Sie ja auch pflegen“, fügte Anni frech hinzu und verspürte sogleich einen leichten Klaps auf dem Hinterkopf.

„Aua! Verdammt, das tat weh. Das nennt man aktives Mobbing am Arbeitsplatz.“ Natürlich tat es gar nicht weh, dennoch rieb sie sich übertrieben mit der rechten Hand über ihren Schopf. „Was wollten Sie eigentlich hier vorne?“

„Ich suche die Bestelllisten.“ Er beugte sich vor, um in der Ablage danach zu suchen.

„Na, die werden Sie hier aber nicht finden“, bemerkte Anni, ohne ihn dabei anzusehen.

„Sondern?“ Er ließ genervt den Kopf nach vorne fallen und hatte keine Lust darauf, seiner Helferin jedes Wort aus der Nase ziehen zu müssen. Wieder ein Stimmungswandel, den man so von ihm nicht gewohnt war.

„Na, in Ihrem Büro. Da, wo sie immer liegen. Zweiter Stapel von links, oben drauf. Soll ich sie holen?“

„Nein, nicht nötig. Ich kümmere mich noch eben um unseren Mr. Snuggles. Danach mach ich die Bestellung. Patrick soll bitte weiterbehandeln. Und sag ihm, dass ich ihn später noch sprechen will.“ Er richtete sich wieder auf. „Danke noch mal, Chris. Wir sehen uns Freitag?“, sagte er und begegnete ihrem fragenden Blick.

„Was ist Freitag? Braucht ihr meine Hilfe?“

„Ah, sorry, Chef, bin noch nicht dazugekommen, es ihr zu sagen.“

„Na, dann besprecht das noch mal. Mach´s gut, Kleine.“ Er drückte sich von der Ablage ab, lächelte ihr freundlich zu und verließ die Anmeldung in Richtung eines der drei Behandlungsräume.

Sie hörten eine Tür ins Schloss fallen und waren wieder allein.

„Der Boss hat uns alle am Freitagabend eingeladen“, begann Anni. „Nichts Wildes, nur ein bisschen was vom Grill, ein, zwei Bier zusammen trinken, und das war´s. Das Wetter soll ja etwas besser werden.“

Die Heiterkeit, die kurz zuvor noch geherrscht hatte, war plötzlich wie weggefegt. Anni blickte angespannt auf ihre Finger.

„Anni? Was ist los? So schlecht drauf hab ich ihn nicht mehr erlebt, seit … seit …“

„Seit Maximilian weggegangen ist“, beendete Anni den Satz. „Am Montag gab sich Madame Pompadour mal wieder die Ehre. Kein guten Morgen, kein auf Wiedersehen. Rannte gleich in sein Büro und machte ihn mal wieder rund.“ Der sorgenvolle Tonfall in ihrer Stimme gefiel Chris überhaupt nicht.

„Diesmal war es echt schlimm, Chris. Ich hatte wirklich Schwierigkeiten, den Streit von unseren Kunden fernzuhalten. Man hat zwar nicht viel mitbekommen, aber das Wort Scheidung war allgegenwärtig. Seitdem ist er wie ausgewechselt und deshalb glaube ich, es würde ihm guttun, wenn wir Freitag einfach alle da sind. Du kommst doch?“

In einer Geste des Unbehagens rollte Chris die Schultern und ließ den Kopf in den Nacken fallen.

„Ich kann noch nicht sagen, ob ich es schaffen werde“, log sie bereits zum zweiten Male an diesem Vormittag.

„Verdammt, Chris, ich weiß auch, was für ein Tag Freitag ist. Mensch, gib dir einen Ruck, du kannst dich nicht ewig vergraben!“ Über den anklagenden Ton hätte sich Chris normalerweise sehr geärgert, aber komischerweise konnte sie ihrer Freundin einfach nicht böse sein. Sie hatte ja recht.

„Ich weiß.“

„Fräulein … Ich kann Sie auch abholen und hierher schleifen!“

„Ich versuch´s, okay?“

„Noch was … Bringst du einen Nudelsalat mit?“ Annis Stimme war nun wieder sanfter und Chris einfach überwältigt von ihrer Fähigkeit, eine schier aussichtslose Situation in etwas Positives, etwas Gutes zu verwandeln. Sie spürte die Wärme in ihrem Herzen und wusste in diesem Moment, dass sie nie allein war.

„Einfach nur Nudelsalat?“

Geschmeidig wie eine Katze war Anni aufgesprungen und hatte bereits Stellung neben ihr bezogen. Sie legte eine Hand auf ihre Schulter und mit der anderen berührte sie sanft ihre Wange.

„Es ist in Ordnung, wieder am Leben teilzunehmen, und ja, einfach nur Nudelsalat. Ich werde es nicht schaffen, einen zu machen.“

„Schon gut. Ich bin da. Ist zwanzig Uhr in Ordnung?“ Mit einem verlegenen Lächeln wollte sie sich schon abwenden, als sich ein Mann mit einem Rottweiler der Anmeldung näherte.

„Guten Morgen, die Damen.“

„Was kann ich für Sie tun?“, fragte Anni freundlich und besetzte wieder den Platz vor dem Computer.

„Ich bin gerade hergezogen und auf der Suche nach einem Tierarzt. Dr. Berger wurde mir wärmstens empfohlen.“

„Haben Sie einen Termin?“

„Leider nein. Ich hatte gehofft, ich könne einfach warten. Spike hat einen nervösen Magen und gestern Abend ist ihm der Mülleimer zum Opfer gefallen. Das Ergebnis hat er mir heute Morgen im Wohnzimmer präsentiert.“

„So ein Schlingel“, bemerkte Chris, ging vor dem schwarzen Hund in die Hocke und kraulte ohne Furcht seine Ohren. Der angsteinflößende Hund genoss die Streicheleinheit sichtlich und legte den Kopf zur Seite.

„Ich denke, da können wir was machen. Haben Sie denn etwas Zeit mitgebracht?“

„Selbstverständlich. Wäre es wohl möglich, dass Dr. Berger sich den Hund persönlich anschaut? Ich habe gehört, er kann besonders gut mit … na ja … sogenannten Kampfhunden.“

„Bestimmt. Ich frag ihn gleich. Nehmen Sie doch bitte schon mal im Wartezimmer Platz. In der Zwischenzeit wäre es nett von Ihnen, mir das Anmeldeformular auszufüllen. Wenn Sie fertig sind, einfach hier vorne ablegen.“

„Gern. Vielen Dank.“ Der Mann nickte ihnen knapp zu und zog den schweren Hund mit sich ins Wartezimmer.

„Der Typ ist irgendwie unheimlich, findest du nicht?“

„Was meinst du? Ich fand ihn eigentlich ganz nett“, antwortete Anni.

„Hast du bemerkt, wie angespannt der Rotti auf jede seiner Bewegungen reagiert hat? Und diese blauen Augen … richtig angsteinflößend.“

„Ich glaube, du siehst zu viele Horrorfilme.“

„Wie dem auch sei. Ich muss los. Wir sehen uns Freitag.“ Chris war schon fast am Ausgang, als sie sich noch mal umdrehte und die linke Hand hob. „Quäl dich langsam.“

„Du dich auch.“

Mittwoch, 02. Mai, 11 Uhr 04

Mr. Snuggles lag seelenruhig auf dem Behandlungstisch und schnurrte. Wie immer ließ er die Nachsorge seiner Bisswunden in einer heroischen Ruhe über sich ergehen. Er war der heimliche Star der Praxis. Alle liebten diesen Kater. Freundlich und immer gut gelaunt. So präsentierte er sich meistens dem Menschen gegenüber. Er hatte nur ein Problem. Er konnte einfach keinem Artgenossen aus dem Wege gehen. Kerben an Ohren und Nase zeugten von unzähligen Revierkämpfen, in denen er zuletzt vermutlich oft den Kürzeren gezogen hatte. Und auch diesmal hatte es ihn übel erwischt. Sein Hinterteil war übersät von unzähligen Schrammen und Bissen. Die Rasur reichte vom Schwanzansatz bis hinunter zum Kniegelenk des linken Beines.

Nik begutachtete vorsichtig die tieferen Löcher, die er mit stark verdünntem Wasserstoffperoxyd durchspülte. Dieser Teil der Behandlung war alles andere als angenehm. Ähnlich wie bei einer chemischen Reaktion schäumte die Flüssigkeit auf und es knisterte gefährlich. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass die Wunde mit Bakterien verunreinigt war. Der Kater hob beleidigt den Kopf und kommentierte das Vorgehen mit einem Maunzen.

„Sorry, Kumpel, das kann ich dir leider nicht ersparen.“ Nik wiederholte diese Prozedur so lange, bis keine aufschäumende Aktivität mehr zu erkennen war. Dann legte er dem getigerten Gefährten ein weiteres Leckerli vor die Nase und kraulte ihm den Kopf. Mr. Snuggles verspeiste die Knuspertasche mit großem Appetit und schnurrte weiter. „Im Allgemeinen wird man im Alter doch erfahrener und ruhiger. Zumindest sagt man so.“

„Haha. Ich denke, darauf können wir bei unserem Snuggles lange warten. Der wird niemals daraus lernen“, erwiderte Karl Richter, der Besitzer des Katers, und lächelte amüsiert.

„Keine Sorge. Auch das kriegen wir wieder hin. Antibiotisch ist er noch bis morgen versorgt.“ Nik blickte kurz auf. „Ein Schmerzmittel und einen Entzündungshemmer sollten Sie ihm trotzdem noch ein paar Tage geben. Haben Sie noch Metacam zu Hause?“ Ein Schmerzmittel mit entzündungshemmender Wirkung.

„Ich glaube nicht. Bei der letzten Keilerei haben wir alles aufgebraucht.“

„Dann gebe ich Ihnen vorsichtshalber noch eine Flasche mit. Normalerweise würde eine kleine Packung reichen.“ Wieder kraulte er den Kater hinter den Ohren. „Aber in diesem speziellen Fall nehmen wir lieber gleich die große Packung. Nur für alle Fälle“, sagte er und stellte die Transportbox zurück auf den Tisch.

Mr. Snuggles erhob sich und schlenderte hinein. Er ließ sich auf die rechte Seite fallen und fing an, sich ausgiebig zu belecken, ohne dabei das Schnurren einzustellen.

„In ein paar Tagen ist er wieder der Alte“, sagte Nik, stand auf und ging hinüber zu dem weißen Apothekerschrank. Er öffnete ihn, hielt sich an der Schranktür fest und starrte in das Innere. Die einzelnen Regale waren nach Wirkungsgruppen unterteilt. Es gab Medikamente für Herz und Kreislauf, für Schilddrüsenerkrankungen, zur Bekämpfung von Würmern und anderen Parasiten und natürlich zur Schmerz- und Wundbehandlung. Er holte eine lilafarbene Packung aus dem obersten Regal und betrachtete diese gedankenversunken. Die Sekunden verstrichen, ohne dass sich Nik rührte.

„Ist alles in Ordnung mit Ihnen, Dr. Berger?“ Die Antwort ließ auf sich warten. Es herrschte nur Schweigen. Karl Richter ging vorsichtig auf seinen Tierarzt zu und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Hey, alles okay?“

Aufgeschreckt blickte ihn Nik über seine Schulter an.

„Ähm, ja. Natürlich. Ich habe mir nur gerade Gedanken über die Dosierung gemacht.“

„Auf den Bahamas?“ Der alte Mann hob eine Augenbraue.

„Mhhh?“

„Entschuldigen Sie, Dr. Berger, aber Sie waren gerade so weit weg, dass Sie vermutlich noch nicht einmal mitbekommen hätten, wenn Ihre Superchemikalie da drüben explodiert wäre.“

Nik lächelte verlegen. „Tut mir leid. Ich war wohl nicht ganz bei der Sache. Bitte entschuldigen Sie.“

„Wie auch immer. Jedenfalls sehen Sie bescheiden aus, mein Junge. Ganz sicher, dass Ihnen nichts fehlt?“

„Nichts weiter, außer Schlafmangel.“

„Sie sollten ein wenig besser auf sich achtgeben. Immerhin sind Sie auch nicht mehr der Jüngste.“

Treffer, versenkt.“ „Eine Weisheit des Alters?“

„Nur ein gut gemeinter Rat, mein Junge. Glauben Sie mir. Es bringt nichts, ständig über den Sinn des Lebens nachzudenken und warum manche Dinge so laufen, wie sie eben laufen. Sich auch mal Zeit für sich zu nehmen, das ist der Schlüssel zum Glück, lassen Sie sich das von einem alten Mann gesagt sein.“

„Ich werde es beherzigen, danke.“ Nik legte das Schmerzmittel auf die Transportbox und hielt ihm seine rechte Hand entgegen.

„Nicht dafür.“ Karl Richter ergriff sie seinerseits.

„Ich möchte Snuggles in zwei Tagen noch einmal sehen, wenn das geht?“

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9783738092103
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