Читать книгу: «Spur der Vergangenheit», страница 6

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„Schscht …“ Wieder kochte die Wut in ihm hoch. „Was muss das Mädchen noch alles durchmachen.“

Auch Anni war es gelungen, sich von dem festen Griff ihres Peinigers zu lösen. Sie preschte nach vorne und kam schlitternd neben Nik zum Stehen. Dieser zog auch sie mit schmerverzerrtem Gesicht zu sich. Mit zittrigen Händen berührte Anni seinen Oberarm. „Hat er Ihnen etwas getan?“

„Nein. Alles in Ordnung. Keine Sorge“, knurrte er und blickte mit hasserfüllten Augen über seine Schulter. „Was jetzt?“

Amüsiert verschränkte der Löwenmann seine Arme und ließ sich auf einen der Stühle nieder.

„Jetzt? Ich denke, jetzt haben wir viel Zeit, um uns alle besser kennenzulernen.“

Sechs

Freitag, 04. Mai, 22 Uhr 52

„Karsten! Ein Anruf für Sie auf Leitung eins.“

Kriminalhauptkommissar Karsten Behrend blickte auf, nahm seine Brille von der Nase und schaute über einen Berg von Akten hinweg, rüber zu seinem jungen Kollegen Sebastian, der immer noch in der Tür stand und auf eine Reaktion seines Vorgesetzten wartete.

Karsten schaute auf seine Uhr und runzelte die Stirn. Es war Freitagabend und außer ihnen war kaum noch jemand in den einzelnen Büros zu finden. Bis auf seine kleine Tischlampe und die Deckenleuchten in dem langen Korridor waren sämtliche Lichter bereits erloschen. Karsten mochte die Stille um diese Zeit. Oft blieb er an den Wochenenden bis spät in den Abend im Präsidium und schrieb Berichte über Fälle der letzten Wochen.

Im Augenblick führte er mal wieder ein Singledasein, deshalb gab es auch niemanden, der zu Hause auf ihn wartete. Manchmal hatte er genug von diesem Leben und wünschte sich auch eine funktionierende Beziehung. Jemanden, der einfach nur für ihn da war. Dann gab es wieder Zeiten, in denen er sich eingestehen musste, dass eine Partnerschaft mit seinem Beruf kaum zu vereinbaren war.

Ein paar Mal hatte er es probiert und die eine oder andere Frau wirklich gern gehabt, aber er war halt ein Bulle mit Leib und Seele. Ständige Gefahren, unregelmäßige Arbeitszeiten. Alles Dinge, mit denen keine Frau an seiner Seite lange fertig wurde, und er konnte es ihnen nicht mal verübeln. Also durchlebte er einmal mehr die Phase, indem er sein unbeschwertes Leben ohne Verpflichtungen zu schätzen wusste.

„Was ist denn jetzt noch so wichtig, dass es nicht wenigstens bis morgen warten kann?“, fragte Karsten.

„Nun. Herr Schuberth dachte sich schon, dass Sie so reagieren würden. Ich soll Ihnen ausrichten, dass es wirklich dringend ist. Außerdem hasst er es immer noch, in der Warteschleife hängen zu müssen.“

„Doch nicht etwa Dieter Schuberth?“ Erstaunt riss er die Augen auf.

„Doch, genauso hat er sich mir vorgestellt. Wer ist der Mann?“

Mit einem Schlag war alle Müdigkeit aus seinen Gliedern verschwunden und Karsten wieder hellwach.

„Der Typ hat mir alles beigebracht, was ich heute weiß. Wir sind damals zusammen auf Streife gewesen, bevor ich eine andere Laufbahn eingeschlagen und hier gelandet bin.“

„Dann darf ich durchstellen?“

„Du darfst, aber wieso bist du eigentlich noch hier?“

Sebastian zuckte mit den Schultern. „Ach. Ich hatte eh nichts weiter vor und noch einiges an Schreibarbeit zu erledigen.“

Karsten mochte den jungen Mann, seinen Eifer, seinen Einsatz. Oft ein bisschen übereifrig und mit dem Kopf immer durch die Wand, aber das Herz sprichwörtlich am rechten Fleck. Ein bisschen, wie er selbst in dem Alter gewesen war. Und er hatte sich bisher nicht von seiner kantigen Art abschrecken lassen. Karsten hatte schon einige Partner zugeteilt bekommen und alle mit Bravour vertrieben. Alle, bis auf diesen jungen Kerl dort.

„In Ordnung. Aber jetzt mach Schluss. Ich komm schon klar.“

„Dann sehen wir uns morgen. Schönen Feierabend!“

„Dir auch.“

Sebastian schloss die Tür und wenige Sekunden später leuchtete ein rotes Lämpchen an der Telefonanlage auf. Karsten nahm den Hörer ab und drückte einen Knopf auf der Tastatur.

„Behrend!“

„Hallo Karsten, Dieter Schuberth hier. Ich hoffe, du kannst dich noch an deinen alten Kollegen erinnern. Oder hast du unsere Provinz schon komplett aus deinem Gedächtnis verbannt?“ Die Stimme seines ehemaligen Partners hatte sich im Laufe der Zeit etwas verändert. Älter und rauchiger war sie geworden. Jedoch an der Art und Weise, wie er einige Silben aussprach, erkannte er ihn sofort wieder.

„Mensch, das ist ja eine Ewigkeit her. Ich dachte, sie hätten dich längst in Rente geschickt. Wie geht‘s dir?“

„Haha, danke der Nachfrage. Kann mich nicht beschweren. Noch ein halbes Jahr und ich habe es wohl geschafft. Und du? Hab gehört, du hast groß Karriere gemacht?“

„Na ja, wie man´s nimmt. Bin ganz zufrieden. Aber sag mal, du rufst mich doch nicht mitten in der Nacht an, nur um nach meinem Wohlbefinden zu fragen, oder?“ Karsten merkte, wie die Stimmung augenblicklich kippte, und wünschte sich, die Frage zurückziehen zu können. Nach einer sekundenlangen Pause räusperte sich der Polizist und begann wieder zu sprechen.

„Nein, leider nicht. Es ist so. Wir … wir haben hier ein großes Problem und könnten deine Hilfe und Erfahrung in diesem Fall brauchen.“

„Worum geht es denn?“

Er wusste nicht, warum, aber sein Instinkt riet ihm zur Vorsicht. Mit was für Nachrichten musste er nun rechnen?

„Versuchter Raub mit anschließender Geiselnahme.“

Karsten straffte seinen Körper und richtete den Blick starr an die Wand.

„O. k., aber wieso ich?“ Wieder eine Pause. „Dieter?“

Seufzend gab der Beamte nach. „Du schienst mir einfach die beste Lösung zu sein. Du bist hier aufgewachsen. Du kennst die Gegend, weißt, wie die Menschen hier ticken und …“

„Und nur deshalb soll ich mein schönes, warmes Büro verlassen? Weil ich die Gegend kenne? Ehrlich, deine Argumente waren auch schon überzeugender.“ Karsten zog scharf die Luft ein.

„Also? Worum geht es wirklich?“

„Um jemanden, den du kennst.“

„Wer?“, hakte Karsten nach, war sich aber überhaupt nicht mehr sicher, ob er die Antwort noch hören wollte.

„Dr. Nikolas Berger.“

„Nik? Was ist mit ihm?“

„Er ist einer der Geiseln und soweit wir wissen, noch zwei seiner Angestellten.“

Karsten merkte, wie ihm übel wurde, und versuchte kontrolliert ein- und auszuatmen, um sich nicht übergeben zu müssen.

„Du verarschst mich doch, oder?“

„Tut mir leid. Ich wünschte, es wäre nicht so. Und glaub mir, wir stehen hier alle ganz schön unter Schock. Natürlich ist mir bewusst, dass es für dich nicht einfach werden wird, und könnte gut verstehen, wenn du ablehnst. Ich glaube nur, dass es von Vorteil ist, wenn hier jemand den Einsatz nicht nur nach Schema F leitet, sondern mit Herz und Verstand. Ich will einfach den besten Mann hier haben und ich denke, das bist du. Wirst du uns helfen?“

Sein Magen füllte sich weiter mit Säure, denn die Vergangenheit drängte nun mit aller Macht an die Oberfläche. Und damit verbunden nicht nur die vielen schönen Erinnerungen, die er im Laufe der Zeit einfach vergessen hatte, sondern auch die weniger schönen Ereignisse, die für ihre Freundschaft ein abruptes Ende bedeutet hatten.

Er war wie ein Bruder gewesen. Sie hatten alles miteinander geteilt und hielten zusammen wie Pech und Schwefel. Nach dem Abi hatten sich dann erstmals ihre Wege getrennt.

Nik ging nach Hannover, um Veterinärmedizin zu studieren, und er zur örtlichen Polizei. Eine Zeit lang pflegten sie noch den Kontakt, telefonierten regelmäßig und versuchten sich zu besuchen, so oft es ging.

Nik lernte Claudia kennen und schon bald sollte sein bester Freund heiraten. Er mochte sie nicht sonderlich, akzeptierte aber die Entscheidung und war sogar sein Trauzeuge. Drei Jahre später wurde Maximilian geboren und Nik zog mit seiner Familie zurück ins Sauerland, wo er eine kleine eigene Praxis eröffnete. Karsten hingegen nahm eine Anstellung in Düsseldorf an und irgendwann schien die Entfernung wohl zu groß und sie verloren sich aus den Augen.

Hör auf, dir was vorzumachen. Die paar Kilometer hätten es nie geschafft, einen Keil zwischen uns zu treiben. Du weißt genau, wer daran die Schuld trägt.“ Und nun, nach all den Jahren, sollte er seinen besten Kumpel wiederfinden. Aber unter was für Umständen? „Und was soll ich ihm dann sagen?“ Wieder stieg ihm die Galle hoch und er kämpfte sie nieder.

„Karsten? Können wir auf dich zählen?“

„Bleib bitte kurz in der Leitung“, sagte er und drückte eine weitere Taste auf der Anlage. Erleichtert nahm er Sebastians Stimme zur Kenntnis.

„Ja, Chef?“

„Gut, du bist noch da. Sag mal, du hattest doch heute eh nichts mehr vor, oder?“

„Ähm, nee … hab ich nicht.“

„Prima. Wir brauchen dringend einen Helikopter, und zwar jetzt. Kannst du dich darum kümmern?“

„Natürlich. Und wo soll´s hingehen?“

„Wir müssen ins Sauerland.“ „Zurück in meine Heimat.“ „Ich erkläre es dir unterwegs.“

„Alles klar!“ Sebastian legte auf. Karsten drückte erneut eine Taste und augenblicklich war die Verbindung zu Dieter wieder frei.

„Pass auf! Wir kommen mit dem Heli zu euch, das geht schneller. Überleg dir in der Zwischenzeit, wo wir am besten landen können und gib mir unterwegs Bescheid.“

Er gab noch schnell seine Handynummer durch und wollte schon auflegen.

„Ach ja, noch was. Unternehmt nichts, bis wir da sind. Keine Alleingänge, hörst du.“

„Bitte, beeile dich! Die Typen scheinen unberechenbar.“

Karsten knallte den Hörer auf, schnappte sich seine Jacke vom Stuhl und rannte den langen Flur hinunter Richtung Ausgang. „Ich hol dich da raus, alter Kumpel.“ Ein wenig außer Atem drückte er eine der beiden schweren Glastüren auf. Vor dem Eingang parkte bereits ein weißer Kombi, den Sebastian schon vorgefahren hatte. Mit quietschenden Reifen setzte sich der Wagen in Bewegung und kurze Zeit später waren nur noch die roten Rücklichter des Kombis in der Ferne auszumachen. Zurück blieb ein fast leeres LKA-Gebäude.

Freitag, 04. Mai, 23 Uhr 15

„Winston Churchill!“, schrie Thea und schaute auf die mickrigen Überreste ihrer Porzellankatze herab. Eine gut ein Meter hohe Statue, die noch vor wenigen Minuten dekorativ ihr Wohnzimmer zierte und ihrer Englischen Bulldogge in einem Anflug von Spielwitz und Größenwahn zum Opfer gefallen war.

Nach einem anstrengenden Zwölf-Stunden-Tag war Thea endlich nach Hause gekommen und wurde freudetaumelnd von ihrem Hund und seinem Stofftier Willy in Empfang genommen. Ungestüm schleuderte Winston das schon ziemlich in Mitleidenschaft gezogene Etwas von rechts nach links. Dabei drehte er sich mehrfach im Kreis und nahm plötzlich die Pfoten in die Hand. Dummerweise hatte Winston vergessen, den Hinterradantrieb zu aktivieren. Die Folge, der behäbige Hund geriet auf dem glatten Fliesenboden ins Rutschten und krachte, mit dem Hinterteil voran, in die Statue, von der jetzt nicht mehr als ein Scherbenhaufen übrig war.

Schuldbewusst hatte sich die Bulldogge sofort in ihren Korb in die Ecke verzogen und beobachtete die Aufräumarbeiten seines Frauchens nur aus den Augenwinkeln. Thea war nicht wütend auf ihn, eigentlich eher erleichtert, dass Winston unbeschadet aus der Nummer herausgekommen war. Denn ein Tierarztbesuch um diese Zeit wäre nicht nur lästig gewesen, er wäre mit Sicherheit auch nicht ganz günstig geworden.

„Was hast du dir bloß dabei gedacht, du dummer, dicker Hund?“, zischte Thea gespielt und sah, wie Winston seufzend den Kopf noch ein wenig mehr von ihr wegdrehte. Amüsiert zuckten ihre Mundwinkel und sie begann, die Scherben aufzukehren.

Plötzlich klingelte im Flur das Telefon. Winston riss den Kopf hoch und bellte. Stirnrunzelnd schaute Thea auf die Uhr. Sofort ahnte sie, dass etwas passiert sein musste, denn ein Anruf um diese Uhrzeit verriet nichts Gutes. Sie erhob sich, legte das Kehrblech zur Seite und stapfte in den Flur. Aber nicht ohne sich noch einmal zu ihrem Hund umzudrehen.

„Wir sind noch nicht fertig“, schimpfte sie, und sofort nahmen Winstons braune Ohren eine Habacht-Stellung ein und er neigte wieder den Kopf.

Kopfschüttelnd griff Thea nach dem Hörer. „Ja, bitte?“, fragte sie.

Dass sie dabei nicht ihren Namen nannte, sollte nicht unhöflich klingen, aber es war dennoch reine Absicht. Tagsüber arbeitete sie hauptsächlich mit gestörten Persönlichkeiten. Um ihnen zu helfen, wieder ein normales Leben führen zu können. Das war ihr Job. Es gab viele Möglichkeiten, einen Menschen aus der Bahn zu werfen. Gewalt. Schwerwiegende Verluste von Job oder geliebten Menschen. Die Liste war lang. Aber hier war ihr Zuhause. Ein Rückzugsort, in dem sie einfach nur sie selbst sein konnte. Mit einem Hund, der im Begriff war, ihren Geschmack, was die Auswahl der Dekoelemente betraf, grundlegend infrage zu stellen.

„Thea? Tut mir leid, wenn ich dich geweckt haben sollte. Hier ist Leon.“

„Leon!“, begrüßte sie ihn freundlich. Er war Leiter eines SEK-Teams und gleichzeitig einer ihrer besten Freunde. „Du bist zurück? Wie war Italien?“

„Bezaubernd. Wirklich. Das nächste Mal kommst du mit.“ Sie hörte den besorgten Unterton in seiner Stimme.

„Aber deshalb rufst du nicht an, oder?“

„Nein. Es geht um Karsten.“

Oh nein.“ „Was hat er denn jetzt schon wieder ausgefressen?“

„Noch nichts, Thea. Aber es könnte sein, dass er schon bald unsere Hilfe braucht.“

Thea straffte sich und hörte Leon angespannt zu. Auch Winston hatte sich aus seinem Korb gestohlen und saß nun zu ihrer Rechten. Er schien zu merken, dass es schon lange nicht mehr um eine zerbrochene Katzenstatue ging und schaute sein Frauchen in erwartungsvoller Haltung an.

„Ich bin auf dem Weg zu einem Einsatz.“

„Bist du nicht offiziell noch bis Montag im Urlaub?“

„Ja. Es war reiner Zufall, dass ich davon erfahren habe. Als der Anruf kam, war ich auf der Dienststelle. Einer meiner Jungs hatte Geburtstag. Mir ist alles aus dem Gesicht gefallen, als ich gehört habe, um wen es sich handelt. Sagt dir der Name Nikolas Berger noch etwas?“

„Oh, mein Gott“, hauchte sie und hielt sich eine Hand vor den Mund.

„Genau das habe ich auch gedacht. Und rate mal, wer den Einsatz leitet.“

„Nein.“

„Doch. Ich habe keine Ahnung, warum ausgerechnet er dahin beordert wurde. Zumal das gar nicht mehr in sein Aufgabengebiet fällt. Aber genau das werde ich herausfinden.“

„Um was für einen Einsatz handelt es sich denn?“

„Geiselnahme.“

„Bitte, Leon. Sag mir, dass Berger nur ein Zeuge in dem Fall ist.“

„Nein, Thea. Leider nicht. Er ist eine der Geiseln.“

„Du musst mir versprechen, auf Karsten achtzugeben. Wenn Berger etwas zustößt, wird ihn das umbringen. Du kennst seine Vergangenheit. Er hat es nie überwunden. Und ruf mich sofort an, wenn es Probleme gibt.“

„Ganz sicher. Mach dir keine Sorgen. Ich werde den Idioten nicht aus den Augen lassen.“

Freitag, 04. Mai, 23 Uhr 45

„Alles in Ordnung?“ Sebastian saß ihm mit verschränkten Armen gegenüber und betrachtete seinen Vorgesetzten eingehend. Während der Fahrt zum Hubschrauber hatte Karsten ihn nur knapp über Ziel und Art des Einsatzes unterrichtet und seitdem kein einziges Wort mehr gesprochen. Stattdessen schaute er gedankenversunken aus dem Seitenfenster in die Dunkelheit. Sebastian probierte es noch einmal und rüttelte an Karstens Schulter.

„Was?“, fauchte er.

„Ob alles okay ist? Sie sehen nicht gut aus.“

„Blödsinn“, blaffte Karsten zurück. „Es ist mitten in der Nacht, eigentlich hätten wir Wochenende und sind trotzdem unterwegs in das ödeste Kaff, das es in NRW gibt. Und nur, weil wieder irgendein Vollpfosten meint, Rambo spielen zu müssen. Also? Ja, ich denke, es ist alles in bester Ordnung.“ Da war er wieder. Der stets übellaunige Hauptkommissar, um den das halbe LKA am liebsten einen großen Bogen machte.

„Na, dann ist ja gut. Ich dachte schon, Sie hätten Flugangst. Wir sind gleich da.“

Ich kann es kaum erwarten.“ Karsten neigte den Kopf wieder zur Seite und konnte zwei Blaulichter in der Ferne ausmachen, die am Rande eines Feldes kreisten. „Du wolltest nie wieder zurückkehren und trotzdem bist du wieder hier.“

Der Pilot leitete die Landung ein und wenige Augenblicke später ging ein kräftiger Ruck durch die Maschine.

„Entschuldigung. Der Boden ist sehr uneben“, sagte der Pilot. „Soll ich warten?“

„Nein, nein. Fliegen Sie nur zurück. Wir werden hier mit Sicherheit länger bleiben. Trotzdem danke.“ Karsten klopfte dem Mann kurz auf dessen Schulter und folgte Sebastian, der bereits ausgestiegen war und nun versuchte, sein Gesicht vor den umherfliegenden Gräsern zu schützen.

Langsam und behäbig erhob sich der Heli zurück in die Lüfte. Der Lärm war ohrenbetäubend und die Verwirbelungen, die die Maschine verursachte, gigantisch. Es dauerte einige Sekunden, bis sie sich wieder entspannt aufrichten konnten.

„Schön, dich wiederzusehen.“ Karsten drehte sich um und blickte in das rundliche Gesicht eines Polizisten.

„Alter. Was ist denn mit dir passiert?“, sagte er und betrachtete dabei die beleibte Silhouette seines ehemaligen Partners von Kopf bis Fuß.

„Tja, der Innendienst in den letzten Jahren hat Spuren hinterlassen.“ Dieter klopfte sich auf seinen Bauch. „Außerdem schmeckt es mir immer noch so gut wie früher. Und du? Was ist mit deinen Haaren passiert?“ Er hob eine Augenbraue.

„Nun ja. Spuren des Außendienstes und meines jungen Kollegen hier. Überaus fähig, kostet mich aber manchmal den letzten Nerv. Darf ich vorstellen? Sebastian Bartels. Mein Ausbilder und erster Kollege, Dieter Schuberth.“

Dieter hielt Sebastian die rechte Hand hin.

„Hören Sie ja nicht auf das, was er von sich gibt. Der Glatzkopf hier war früher kein Deut besser. Freut mich, Sie kennenzulernen.“

Sebastian schüttelte ihm die Hand. „Ganz meinerseits. Ich habe schon viel von Ihnen gehört.“

„Ich hoffe, nur Gutes.“ Seine Miene veränderte sich und wurde völlig ernst. „Wir gehen die paar Meter zu Fuß, dann kann ich euch erzählen, was genau passiert ist. Wollen wir?“

Nein, lieber nicht.“ „Fahren wir nicht in die Stadt?“

„Nein, Karsten. Der Hof liegt gleich dort drüben. Hinter der Baumkuppe. Nikolas hat ihn vor ein paar Jahren geerbt und alles neu aufgebaut.“

„Sie kennen Dr. Berger persönlich?“, wollte Sebastian wissen.

Bitte sag nichts.“

Etwas irritiert über diese Frage blieb Dieter stehen und begegnete Karstens warnendem Blick. Schließlich zuckte er mit den Schultern.

„Ich habe seit einem Jahr einen Schäferhund. Mein Hobby für den Ruhestand, wenn ihr so wollt. Allerdings hab ich mir da eine Montagsproduktion andrehen lassen. Der verdammte Köter hat alles, was man als Hund nur kriegen kann. Kaputte Knochen, Allergien, einen nervösen Magen usw. Ich bin sozusagen sein bester Kunde. Keine Ahnung, ob er mich sympathisch fand oder einfach nur Mitleid mit mir hatte. Auf jeden Fall hat er mir auf dem letzten Schützenfest das Du angeboten. Wir haben uns ein bisschen unterhalten. Wirklich ein netter Kerl, macht aber im Augenblick 'ne schwierige Zeit durch.“

Karsten wurde hellhörig. „Was für schwierige Zeiten?“

„Ich weiß nichts Genaues. Aber man munkelt, dass seine Frau ausgezogen ist. Und der Sohn ... lebt und arbeitet wohl irgendwo im Ausland. Mehr kann ich euch dazu nicht sagen.“

Die Männer hatten die Anhöhe hinter sich gelassen und es trennten sie nur noch wenige Meter von der Hofanlage. Karsten blieb stehen und schaute sich um. Alles hatte sich verändert, aber er erkannte den Ort trotzdem. Unmittelbar, nachdem dem sie das kleine Ortsschild von Riemke passiert hatten, wurde seine Ahnung zur Gewissheit. Er war schon mal hier gewesen. Früher einmal, vor vielen Jahren.

„Ganz schön abgelegen“, bemerkte Sebastian. „Warum haben die Geiselnehmer gerade diesen Weg gewählt? Es wäre doch viel schlauer gewesen, auf der Straße dort unten zu bleiben.“

„Ich nehme einfach an, die Jungs kannten sich nicht wirklich gut aus. Das Auto, das sie benutzt haben, hat Kölner Kennzeichen, höchstwahrscheinlich geklaut.“

„Oder sie dachten, hier oben könne man sich besser verschanzen. Erzähl uns am besten von Anfang an, was passiert ist.“

„Wir haben einen Anruf erhalten. Männerstimme, zwar verstellt, aber trotzdem eindeutig. Hat behauptet, dass für heute Abend ein Überfall auf den Juwelier im Nachbarort geplant wäre. Noch bevor ich nach seinem Namen fragen konnte, wurde die Leitung unterbrochen. Das war so gegen 18 Uhr 30. Ich dachte noch, was für ein Spinner. Trotzdem sind wir dem Hinweis nach gegangen und verstärkt dort in der Gegend Streife gefahren. Und Bingo.

Die Beamten Krüger und Lorentz haben einen auffällig geparkten schwarzen BMW entdeckt und wollten diesen sicherheitshalber kontrollieren. Dazu kam es aber nicht mehr. Einer der Männer kam aus einer kleinen Gasse gesprungen und fing sofort eine Schießerei an. Meine Jungs sind nur knapp davongekommen.“

„Beute?“

„Das ist ja das Komische. Weder Schmuck noch Uhren. Nichts. Entweder sind wir zu früh gekommen und haben sie gestört oder die Kerle haben das Sicherheitssystem unterschätzt. Jedenfalls ist die Bande geflohen. Wir konnten sie verfolgen, bis hierher.“

„Der Wagen dort drüben?“, fragte Sebastian.

„Genau.“

„Dann versteh ich erst recht nicht, warum die nicht Richtung Autobahn gefahren sind. Das ist ein Hamann.“

„Was zum Teufel ist ein Hamann?“, grollte Karsten und drehte sich gereizt um.

„Ein Edeltuner. Vorzugsweise BMW, aber auch andere teure Fabrikate. Das dort drüben ist ein M3. Hat mindestens 450 Pferde unter der Haube. Gelinde gesagt, unsere klassischen Streifenwagen hätten dem nicht das Geringste entgegen zu setzen, vorausgesetzt, man beherrscht so einen Wagen.“

„Woher weißt du so viel darüber?“ Karsten interessierte sich selbst für schöne Autos und dass ihm dieses Detail entgangen war, ärgerte ihn gewaltig. „Werd jetzt bloß nicht kindisch.

„Ich beschäftige mich sehr ausführlich mit dem Thema. Sozusagen mein Hobby. Außerdem ...“, Sebastian nickte knapp in die Richtung des dunklen Boliden, „steht der Name direkt über den seitlichen Lüftungsschlitzen. Das war einfach.“

„Ich nehme an, so ein Auto findet man nicht an jeder Straßenecke?“, gab Dieter zu bedenken.

„Nein, und selbst wenn der Wagen wirklich gestohlen ist, es sollte kein großes Problem darstellen, den Halter ausfindig zu machen. Der dort kostet gut und gerne zwischen einhundertzwanzig und einhundertvierzigtausend.“

Dieter stieß einen leisen Pfiff aus. „Darum kann ich mich kümmern.“

„Okay. Das wäre schon mal ein Anfang. Was müssen wir noch wissen?“

„Tja. Als wir die Burschen hier eingekreist hatten, hätte es danach unglücklicher nicht laufen können. Wir hatten sie schon so weit, aufzugeben, als plötzlich zwei Mädchen aus der Praxis marschierten. Wir konnten nichts tun, Karsten. Sie sind direkt in deren Arme gelaufen.“

„Dann haben wir zwei Geiseln. Warum gehst du davon aus, dass sich auch Nikolas Berger dort befindet?“

Dieter musste hart schlucken. „Weil einer der Männer ihn kurz darauf noch einmal mit vor die Tür gezerrt hat. Er hat ihm die Waffe an den Kopf gehalten und wild um sich geballert. Ich dachte, er bringt ihn um.“

Karsten war der traurige Gesichtsausdruck seines früheren Partners nicht entgangen. Er kannte das Gefühl der Hilflosigkeit aus eigener Erfahrung und wusste nur zu gut, dass man in solchen Momenten seinen Job am liebsten an den Nagel hängen würde. Zusehen zu müssen, ohne wirklich direkten Einfluss auf die Situation nehmen zu können. Aber genau das war es, was ihn immer und immer wieder antrieb. Sich dem Bösen zu stellen und die Welt damit vielleicht ein bisschen besser zu machen.

Beruhigend legte er seine Hand auf Dieters Schulter. „So schnell wird hier niemand umgebracht.“ Karsten wartete, bis er ihn wieder anschaute. „Sind Krüger und Lorentz noch hier? Ich muss zumindest mit einem der beiden sprechen.“

„Natürlich. Dort drüben beim RTW.“ Dieter zeigte auf den Rettungswagen, der etwas abseits stand. „Karsten, da ist noch was.“ Er hielt ihm einen Zettel hin. „Mit uns wollte das Schwein nicht verhandeln. Nur mit jemandem, der etwas zu sagen hat. Ich denke, das bist du ab jetzt. Die Nummer gehört zwar zum Praxisanschluss, ist aber so geschaltet, dass der Anruf über eine zweite Leitung direkt auf das Telefon in Nikolas‘ Büro geleitet wird.“

Karsten nahm das Stück Papier entgegen und betrachtete die Nummer angespannt. „Er hat sie nicht geändert.“ „Zuerst muss ich mit deinen Jungs sprechen. Ich will bestmöglich auf den ersten Kontakt vorbereitet sein.“

„Bitte sei nachsichtig. Sie sind noch grün hinter den Ohren und fühlen sich ohnehin schon beschissen genug.“

„Keine Sorge, ich habe nur ein paar Fragen. Sebastian, du hörst dich mal bei den Aasgeiern da drüben um.“

Ein paar der umliegenden Anwohner hatten sich zu einer Gruppe zusammengefunden und beobachteten neugierig das Geschehen aus der Ferne.

„Vielleicht hat jemand etwas gesehen oder hat in den letzten Tagen etwas Merkwürdiges beobachtet.“

Er ließ ihn stehen und folgte Dieter hinüber zu einem Rudel Beamten, die ihn teils abschätzend, teils missmutig anstarrten. Das Gemurmel endete abrupt, als er sich ihnen näherte. Nur zögerlich gaben sie den Weg frei und Karsten erblickte einen jungen Mann, der auf dem Treppenabsatz des RTW hockte und einen frischen Verband um seinen Oberarm trug. Daneben ein weiterer Polizist, kaum älter. Beide wirkten wie geprügelte Hunde.

„Fabian, Till. Kriminalhauptkommissar Karsten Behrend vom LKA.“ Dieter trug seine finstere Miene zur Schau und taxierte seine Leute mit einem warnenden Blick. „Ich will von jedem Einzelnen von euch bedingungslose Unterstützung. Er hat ab sofort das Sagen.“

„Stecken wir jetzt in Schwierigkeiten?“ Unsicher hob Fabian Krüger seinen Kopf. Er saß immer noch auf dem Treppenabsatz und wirkte sehr blass um die Nase.

„Wie kommst du darauf, mein Junge?“, fragte Karsten.

Fabian senkte wieder den Blick und ließ die Schultern nach vorne fallen. „Weil wir es nicht verhindern konnten.“

„Was mich betrifft, bin ich sehr froh darüber, dass du nicht den Helden gespielt hast. Es gibt nichts, was einem den Tag mehr versauen könnte, als einer Mutter sagen zu müssen, dass ihr Sohn nie wieder nach Hause kommen wird.“ Er tastete nach dem Verband. „Schlimm?“

„Streifschuss. Ich werd´s überleben.“

„Gut. Ich möchte einfach nur noch mal eure Sicht der Dinge hören. Jede Kleinigkeit kann hilfreich sein.“

Fabian atmete einmal tief durch, drückte sich vom Absatz hoch und krempelte seinen Ärmel wieder herunter. „Till und ich hatten gerade die Schicht übernommen und unseren Wagen so geparkt, dass wir gute Sicht auf den Juwelier hatten. Zuerst war alles ruhig.“

„Mir ist dann der BMW aufgefallen“, meldete sich jetzt auch Till zu Wort. „Er kam aus einer Seitengasse und hielt dann direkt vor dem Laden. Schönes Auto. So was sieht man nicht jeden Tag.“

„Da der Fahrer keine Anstalten machte, auszusteigen, beschlossen wir, uns den Wagen mal aus der Nähe anzuschauen. Dort angekommen, setzte Till einen Funkspruch ab und informierte Dieter über den verdächtigen Wagen. Ich war bereits ausgestiegen.“

„Und dann brach auch schon die Hölle los. Als ich sah, dass Fabian anscheinend etwas ab bekommen hatte, bin ich raus aus dem Wagen, um ihm zu helfen. Es ging alles so furchtbar schnell.“

„Till hat mich zurück gezogen und wir blieben in Deckung, bis wir den Motor hörten. Wir haben dann einfach nur reagiert …“

“… und sind hinterher“, beendete Till den Satz. „Dieter hat uns zwar schnell Unterstützung geschickt, aber wir konnten den Wagen einfach nicht stoppen. Er war zu schnell.“

„Wären wir doch nur nicht so naiv vorgegangen. Dann wäre das alles nicht passiert und Nikolas und Chris wären jetzt nicht in Gefahr.“

„Hör auf damit, Fabian.“ Dieters Stimme klang hart. „Es bringt rein gar nichts, wenn du dich selber zerfleischt. Ihr habt eure Arbeit vorschriftsmäßig gemacht. Also reiß dich zusammen.“

„Ich entnehme dem, dass ihr Dr. Berger näher kennt?“, fragte Karsten. Die Tatsache, dass sein alter Kumpel beinahe im gesamten Sauerland beliebt war, überraschte ihn gar nicht und interessierte ihn im Augenblick auch eher weniger. Er wollte nur etwas Ruhe in die angespannte Stimmung bringen. „Und um vielleicht mehr über sein Leben zu erfahren.

Fabian zuckte mit der Schulter. „Fast jeder hier kennt Nik. Entweder weil die meisten hier in irgendeiner Form Tiere haben oder einfach weil er ein ausgesprochen angenehmer Mensch ist, der sich gern bei allen möglichen Aktivitäten mit einbringt. Ich habe mit seinem Sohn eine Zeit lang Fußball gespielt. Er war, so oft es ging, dabei. Na ja, und Chris eben auch.“

„Chris weiter?“

„Bachmann. Christin Bachmann.“

Karsten hatte kein genaues Gesicht mehr vor Augen, aber er kannte das Mädchen und wusste, dass Nik sich immer sehr um sie bemüht hatte.

„In Ordnung. Danke, Jungs, und nun fahrt nach Hause und ruht euch aus.“

Karsten wollte sich schon abwenden, als Till noch etwas einfiel.

„Moment noch! Warten Sie.“ Er verschränkte die Hände und suchte nach den richtigen Worten. „Ich weiß nicht, ob es wichtig ist oder ob ich es mir nur eingebildet habe. Aber vorhin … ich meine, als zwei der Männer die Mädchen in ihre Gewalt gebracht hatten.“

„Was war da?“

„Ich hatte das Gefühl, dass der Fahrer nicht ganz freiwillig dabei war.“

„So? Warum?“

„Na ja … er war an keiner Handlung wirklich direkt beteiligt. Zum Schluss hat man ihn aus dem Wagen zerren müssen. Seine ganze Körperhaltung wirkte sehr unsicher und angespannt.“

„Dann sind sie sich uneins. Das könnte uns später vielleicht noch nützlich sein. Gute Arbeit.“

„Ich würde gerne bleiben, wenn es Ihnen nichts ausmacht. Schlafen kann ich jetzt sowieso nicht. Ich würde lieber mit anpacken und helfen“, sagte Fabian.

„Das gilt auch für mich“, fügte Till hinzu.

„Von mir aus. Wie siehst du das, Dieter?“

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