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KAPITEL DREIZEHN

Oliver blickte schwermütig zurück zur Fabrik. Auch wenn sie nur kurz sein Zuhause gewesen war, hatte sie ihm mehr bedeutet als alle Häuser seines ganzen vorherigen Lebens. Er hatte keine Ahnung, was er jetzt tun sollte.

Von außen gesehen war der Unterschied zur gleichen Fabrik siebzig Jahre später noch frappierender. Die verblassten, ergrauten Backsteine waren noch hellrot, die Flecken von Wasserschäden und Vogeldreck waren noch nicht einmal im Ansatz zu erahnen. Wo zuvor eingefallene Dachziegel und eingeschlagene Fenster waren, sah jetzt alles makellos aus.

Der Efeu, der noch vor ein paar Tagen das gesamte Gebäude bedeckt hatte, war jetzt nicht mehr als kleine Zierstöcke entlang der Fassade. Von den beinahe mannshohen Brennnesseln war nichts zu sehen. Über dem Eingang prangte ein Schild, Illstroms Erfindungen, geschrieben in der gleichen altmodischen Schriftart wie man sie von Postern aus dem Zweiten Weltkrieg kannte. An der Straße sah Oliver ein Brandneues Schild, das die Bushaltestelle ankündigte. Nur bei näherem Hinsehen konnte Oliver erkennen, dass es das gleiche war, an dem er bei seinem ersten Besuch gestanden hatte.

„Und jetzt?“, fragte Oliver sich laut.

Er dachte an den Moment, als er in den Wirbel gesprungen ist. Die Zeitmaschine war nicht seine Erfindung und er hatte auch nicht geplant in die Vergangenheit zu reisen, aber auf der Flucht vor Lucas und den Wachmännern hatte ihn eine unsichtbare Kraft in diesen geheimen Raum getrieben und in diesen Wirbel springen lassen. Wenn es sein Schicksal war, hier zu sein, was sollte er dann als nächstes tun? Was würde hier mit ihm geschehen?

Gedankenverloren wanderte Oliver durch die Straßen. Die Häuser und Gärten sahen hübsch und gepflegt aus, kein Vergleich zu der verlassenen und heruntergekommenen Gegend, die Oliver aus dem Busfenster gesehen hatte. Sämtliche Wände und Gemäuer, die halb verfallen und voller Graffiti waren, waren plötzlich vollkommen intakt und frisch gestrichen. Die überwucherten und vermüllten Gärten waren gemäht und mit hübschen Blumen bestückt.

Auch zusätzliche Lagerhallen, die zwischen den Wohnhäusern verteilt lagen, pulsierten nur so vor Leben. Oliver las die Schilder im Vorbeigehen. In allen Hallen waren Kriegsmaschinen und Ausrüstung gelagert. Von thermoplastischen Scheiben hin zu Pistolen, Munition und Stiefeln. Es war verblüffend zu sehen, wie viele Menschen hier lebten und arbeiteten.

Doch Oliver wusste immer noch nicht, was jetzt aus ihm werden sollte. Indem er versucht hatte, Armando zu retten, war er aus seiner eigenen Zeit in die Vergangenheit geraten. Damit hatte er Armando zwar auf gewisse Weise wieder zum Leben erweckt, aber das war keine Lösung für sein Problem! Wohin sollte er jetzt gehen? Was sollte er tun? Er konnte doch nicht den Rest seines Lebens in der Vergangenheit verbringen!

Gerade als er immer mehr in Panik geriet, bemerkte er eine Gestalt im Schatten, die ihn zu beobachten schien. Überrascht sah Oliver zu, wie sich die Gestalt von der Wand abstieß und ins Licht trat.

Es war ein großer, schlaksiger Junge, der etwas älter aussah als Oliver. Er schätzte den Fremden auf vierzehn Jahre, also ein paar Jahre älter als er. Er hatte freundliche grüne Augen und jede Menge Sommersprossen auf seiner schiefen Nase. Mit seinen dunklen Locken und den Grübchen in seiner Wange war er Oliver auf Anhieb sympathisch.

„Hast du dich verlaufen?“, fragte er Oliver, als er in Hörweite kam. „Kann ich dir vielleicht helfen?“

Oliver wollte ihm sagen, dass er sich tatsächlich verlaufen hatte, aber das war nicht ganz richtig. Er wusste eigentlich genau, wo er war. Das Problem war nur, dass er in der falschen Zeit war.

Schüchtern sah er dem Jungen ins Gesicht. Dieser hob erwartungsvoll die Augenbrauen. Er wartete auf Olivers Antwort.

„Ich sollte mich dir zuerst vorstellen“, sagte der Junge freundlich. Er hielt Oliver die Hand hin. „Ich heiße Ralph Black.“

Oliver blickte auf seine Hand, die sich ihm wie eine angebotene Freundschaft entgegenstreckte. Obwohl er nicht sicher war, ob er ihm vertrauen sollte, hatte Oliver nie zuvor so dringend einen Freund gebraucht. Und Ralph kam ihm durchaus vertrauenserweckend vor.

Nach kurzer Erwägung nahm Oliver die knochige Hand des Jungen und schüttelte sie sanft.

„Ich bin Oliver. Oliver Blue.“

Ralphs Gesichtsausdruck veränderte sich schlagartig – von freundlich zu erstaunt. Seine grünen Augen weiteten sich.

„Du bist Oliver?“, rief er. „Wirklich? Was für ein Glück! Ich hätte gedacht, dass du viel älter bist! Und größer!“

Ralph freute sich anscheinend sehr über dieses Treffen, auch wenn Oliver nicht ganz verstand, warum. Ralph umkreiste ihn aufgeregt und plapperte immer weiter darüber, wie anders er sich Oliver vorgestellt hatte. Oliver hingegen fragte sich, warum er ihn sich überhaupt irgendwie vorgestellt hatte! Wie konnte es sein, dass ein Junge im Jahr 1944 damit gerechnet hatte, ihm zu begegnen?

Ich dachte wirklich, dass ich viel, viel länger warten muss, bis ich dich endlich treffe“, sagte Ralph.

Er drückte Oliver fest an sich, dann hielt er ihn auf Armlänge vor sich.

„Warum hast du diesen merkwürdigen Anzug an?“, fragte er beim Anblick des viel zu großen Overalls. „Wolltest du dich unter den Arbeitern verstecken? Echt gut, dass ich dich zufällig angesprochen habe, sonst hätte ich dich in diesen Klamotten nie erkannt! Ich wäre einfach an dir vorbei gegangen! Ich dachte, du kommst in Jeans und T-Shirt. Das tragen die Kinder im dritten Jahrtausend doch, oder nicht?“

Oliver sah an sich hinab. Mit diesem Overall passte er wirklich bestens in die 1940er Jahre.

„Lange Geschichte“, murmelte er verwirrt. „Moment mal. Drittes Jahrtausend? Du weißt Bescheid?“ Die ganze Unterhaltung erschien Oliver verrückt. Aber Ralphs Begeisterung war ansteckend. Auch wenn er noch nicht verstand, warum er hierher kommen sollte, so war er jetzt doch überzeugt, das Richtige getan zu haben.

Ja. Er sollte im Jahre 1944 vor der Fabrik seines großen Vorbilds Armando Illstrom stehen und diesem Jungen, Ralph Black, in die Arme laufen. Sofort fühlte er sich nicht mehr ganz so verloren, denn wenigstens war er jetzt nicht mehr alleine.

„Komm, lass uns gehen“, sagte Ralph fröhlich, ohne auf Olivers Frage einzugehen.

„Gehen? Wohin denn?“, fragte Oliver.

Ralph blieb stehen du sah ihn fragend an.

„In die Schule natürlich“, sagte Ralph, als wäre es die größte Selbstverständlichkeit. Als Oliver zur Antwort nur die Stirn runzelte, fügte Ralph schnell hinzu, „…das ist doch der Grund, warum du gekommen bist, oder nicht? Also zu uns, in die Vergangenheit…“

Oliver schüttelte den Kopf. „Also… eigentlich… eigentlich habe ich das gar nicht geplant. Es war eher… ein Unfall…“

Ralph staunte. Dann zuckte er mit der rechten Schulter. „Nun, das ändert nichts daran, dass die Geschichte sich nicht selbst neu schreibt. Und ich nehme an, sie hätten mich nicht geschickt um dich abzuholen, wenn du nicht hier sein solltest. Vielleicht sind wir auf einer Zeitachse, in der du zufällig kommst, ohne zu wissen, dass es dein Schicksal ist.“ Wieder hob er eine Schulter. „Lass uns trotzdem gehen, sonst verpassen wir das Abendessen.“

Er wollte wieder losgehen, aber Oliver würde ihm nicht einfach folgen. Zuerst brauchte er ein paar Antworten.

„Entschuldige, aber ich verstehe nicht ganz“, sagte er zu Ralph.

„Was verstehst du nicht?“, fragte er.

„Dass ich in die Vergangenheit reise, um in eine Schule zu gehen“, stammelte Oliver. „Das ergibt doch keinen Sinn.“

„Doch, natürlich“, entgegnete Ralph und kam wieder zurück zu Oliver, „Wie sollst du denn sonst lernen?“

„Ich wäre auf eine der abertausend Schulen im dritten Jahrtausend gegangen!“, rief Oliver und warf frustriert die Arme in die Höhe.

Jetzt sah Ralph noch verwirrter aus. „Wovon redest du da? Es gibt im ganzen Universum nur diese eine Schule für Seher!“

Oliver erstarrte.

Seher?

Er dachte an Armandos Worte.

„Willst du damit etwa sagen…“, flüsterte Oliver.

„Ja. Ich bringe dich zur Schule für Seher. Du bist doch ein Seher, oder? Du weißt nur noch nicht, wie du mit deinen Kräften umgehen kannst, richtig?“

Oliver schüttelte ungläubig den Kopf. Das war es also, was Armando ihm nicht sagen wollte! Er sollte auf diese Schule im vergangenen Jahrtausend gehen!

Aber dann dachte er daran, wie Armando angedeutet hatte, dass er womöglich der einzige Seher auf der Erde war. Skeptisch blickte er zu Ralph.

„Bist du etwa auch ein Seher?“

Ralph grinste. „Ja.“

„Aber wie kann das sein?“, fragte Oliver. „Ich dachte, ich wäre der einzige.“

Ralph kicherte leise. „Wer auch immer dir das gesagt hat, hat einen guten Sinn für Humor“, sagte. „Vielleicht meinte er, dass du einzigartig bist.“

Oliver verzog das Gesicht. Er fand das alles überhaupt nicht lustig.

„Bitte“, sagte er leise zu Ralph. „Ich habe viel durchgemacht und bin sehr durcheinander, Kannst du mir bitte alles so erklären, dass ich es auch verstehe?“

Ralph legte seine Hände auf Olivers Schultern. „Ich bringe dich jetzt zu unserer Schule, damit du lernst, wie du mit deinen Kräften umgehen kannst. Alle Seher aus allen Zeitachsen kommen an diesen Ort um zu lernen. Vielleicht hast du recht und du bist in deiner Welt der einzige Seher, aber insgesamt gibt es viel, viel mehr von uns. Jeder von uns kommt zu einem gewissen Zeitpunkt im Leben an diesen Ort in diese Zeit, weil die Schule für Seher nur hier und jetzt existiert.“

Oliver war sprachlos. Selbst das Atmen fiel ihm schwer. Er hatte das Gefühl, gleich in Ohnmacht zu fallen. Das war einfach zu viel für ihn. Wenn Ralphs Hände ihn nicht im festgehalten hätten, wäre er auf die Knie gesunken.

Er atmete tief ein und blickte in Ralphs wohlwollende grüne Augen.

„Ist das wirklich wahr?“, fragte Oliver. Ein Teil seines Geistes wollte einfach nicht akzeptieren, dass das sein konnte. „Es gibt wirklich noch mehr Seher? Eine ganze Schule voller Kinder, denen es genauso geht wie mir?“

Wenn dieser Junge wirklich die Wahrheit gesagt hatte, dann wäre er nicht der einzige Seher. Dann wäre er kein einsamer Verrückter!

„Glaube mir, wo ich herkomme, sind mehr“, sagte Ralph nickend. „Naja, nicht wo ich herkomme, sondern wann. Ach, du weißt schon.“

Oliver wusste es nicht, aber langsam begann er sich ein Bild zu machen. Doch je mehr er das versuchte, desto verrückter kam ihm alles vor. Er ging ein paar Schritte vorwärts, dann fuhr er sich mit beiden Händen durch sein blondes Haar. „Eine Schule, die Seher ausbildet? In genau dieser Zeit an genau diesem Ort?“ Er drehte sich zu Ralph um. „Und du bist hierher geschickt worden, um mich abzuholen?“

Ralph nickte. „Naja, nicht unbedingt genau jetzt. Wie ich schon gesagt habe, Geschichte kann verändert werden. Aber mehr oder weniger hier und jetzt sollte ich dich finden.“

Oliver konnte es einfach nicht ganz fassen. Das bloße Konzept von parallelen Zeitachsen kam ihm völlig paradox vor. Theoretisch war es möglich, aber in der Praxis nicht einmal vorstellbar. Doch jetzt hatte Oliver noch dringendere Fragen. Was er eigentlich wissen wollte, war…

„Warum?“

„Warum was?“, fragte Ralph.

„Warum?“, wiederholte Oliver. „Warum gibt es eine Schule für Seher? Warum solltest du mich finden? Warum soll ich auf diese Schule gehen?“

Ralph sah ihn lange nachdenklich an. Dann zuckte er mit den Schultern.

„Das weiß ich auch nicht so genau“, sagte er. „Professor Amethyst – der Direktor unserer Schule – hat gesagt, dass der Kopf explodieren kann, wenn man alles auf einmal erfährt. Also buchstäblich explodieren. Deswegen bekommen wir die Antworten nach und nach. Am wichtigsten ist aber, dass wir verstehen, dass wir für den Schutz der Menschheit eine ganz besondere Rolle spielen. Das ist eine wichtige Aufgabe, für die wir lernen müssen, unsere Kräften richtig einzusetzen und sie zu kontrollieren.“

Ralph brachte diese Tatsache absolut überzeugend hervor, sodass Oliver sie beinahe einfach akzeptiert hätte. Aber es war eine große Sache! Sogar eine gigantisch große Sache! Alles, was Ralph von sich gab, klang vollkommen verrückt. Was, wenn er ausgerechnet einem Wahnsinnigen in die Arme gelaufen und auf seinen Irrsinn hereingefallen war?

Doch das konnte kaum sein. Schließlich war er wirklich durch die Zeit gereist. Er hatte es am eigenen Leib erfahren. Und Armando hatte ihm gesagt, dass er ein Seher war. Es wäre schon ein großer Zufall, wenn er jetzt einem Verrückten über den Weg lief, der zufällig mit die gleiche Geschichte erzählte. Vielleicht war es doch wahrscheinlicher, dass Ralph wirklich der war, der zu sein er behauptete und dass Oliver wirklich dazu auserwählt war, auf diese Schule für Seher zu gehen.

Aber vielleicht wollte er das gar nicht! Vielleicht wollte er lieber ein ganz normales Leben führen!

Er dachte an die Alternative: Campbell Junior High. Abgesehen von Mrs. Belfry war diese Schule abscheulich! Wollte er wirklich zurück in sein altes Leben, in dem Chris ihn schikanierte und Mr. Portendorfer ihn absichtlich vor der ganzen Klasse bloßstellte? Und was sollte aus Armando werden? In seinem alten Leben war Armando tot. Aber hier, 1944, war Armando jung und hatte sein Leben noch vor sich! Wenn Oliver auf diese Schule ging und lernte, mit seinen Kräften umzugehen, würde er vielleicht einen Weg finden, zurückzukehren und Armandos Leben zu retten.

„Ich sehe schon, du bist nicht überzeugt.“ Ralphs Stimme durchbrach den Strudel von Gedanken. „Du kannst immer noch umkehren, wenn du das willst. Ein kleines Zeitfenster hast du noch. Aber das würde ich an deiner Stelle nicht tun. Vielleicht bekommst du keine zweite Chance. Man kann nicht einfach kommen und gehen wie man möchte. Wenn du jetzt gehst, ist die Schule für Seher für dich vielleicht für immer verloren.“

Oliver schüttelte den Kopf. Er steckte in einem Dilemma. „Es ist eine wichtige Entscheidung. Ich kenne dich gar nicht. Du könntest mich anlügen.“

„Ich kann es dir beweisen“, sagte Ralph. „Auch wenn Dr. Ziblatt immer sagt, dass ich der schlechteste Schüler bin, der die Schule je besucht hat. Leider musst du mit mir Vorlieb nehmen.“

Grinsend hob er ein vertrocknetes Blatt vom Boden auf. Er legte es auf die offene Hand und konzentrierte sich darauf. Oliver sah interessiert zu, was Ralph damit tun würde.

Ralphs Blick wurde weich und unscharf, als würde er sich selbst hypnotisieren. Zuerst passierte gar nichts und Oliver dachte schon, dass er sich einen Scherz mit ihm erlaubte, doch dann, ganz langsam begann das Blatt sich zu verändern. Es rollte sich langsam nach innen. Oliver staunte. Es schrumpfte! Seine orange Farbe wurde immer brauner und plötzlich zerfiel es in Ralphs Händen zu Staub, bevor es im Wind davonwehte.

Olivers Mund stand offen. Er sah Ralph erschrocken und fasziniert an. So etwas hatte er noch nie gesehen! Aber jetzt hatte er den Beweis. Ralphs Geschichte stimmte wirklich!

„Uff. Ich dachte schon, es funktioniert nicht.“

Er lächelte. „Also“, sagte er, „noch kannst du dich entscheiden. Wenn du nicht willst, brauchst du nichts über deine Kräfte zu erfahren. Aber dann wirst du nie die Antworten auf deine Fragen bekommen.“ Er schwieg einen Augenblick. „Oder du kommst mit mir zur Schule für Seher und findest heraus, was das Schicksal mit dir vorhat.“

Oliver starrte ihn an. Er dachte daran, wie dieser Junge vor seinen Augen das Blatt manipuliert hatte und wägte seine Worte immer wieder ab. Es war keine leichte Entscheidung.

Aber hatte er wirklich noch eine Wahl? Die Zeitmaschine hatte ihn hierher gebracht und dann war sie explodiert. Sie existierte nicht mehr. Damit war eigentlich alles entschieden.

Er schluckte.

„Okay, ich komme mit.“

KAPITEL VIERZEHN

Ralph und Oliver gingen die Straße entlang, die Oliver sowohl bekannt als auch fremd vorkam. Die kleinen Häuser lagen bis zum Horizont in der grünen Landschaft verstreut. Altmodische Autos, an deren Steuer Männer mit dunklen Filzhüten saßen, fuhren an ihnen vorbei. Viele der Grundstücke, die in Olivers Erinnerung lückenlos bebaut waren, waren noch unberührt.

Sie gingen an einer Schule vorbei, vor der Kinder in altmodischen, grauen Schuluniformen mit Ringen aus Holz spielten. Das alles war Oliver unheimlich.

Er konnte immer noch nicht glauben, dass er in das Jahr 1944 gereist war.

Sie kamen an einem alten Schild zwischen ein paar Lagerhallen vorbei. Ralph blieb stehen und zeigte nach oben. Das Schild war aus Holz und Eisen, wie die, die in diesen historischen Dörfern vor der Kneipe hingen. Oliver bemerkte ein Symbol, das in das verrostete Eisen eingeprägt war. Es sah aus wie ein Ring. Drei Augen waren in gleichmäßigem Abstand an dem Ring entlang abgebildet.

„Was ist das?“, fragte Oliver.

„Das ist das Symbol der Schule für Seher“, erklärte Ralph. „Der Ring symbolisiert, dass Zeit nicht linear ist, und die Augen bedeuten, dass man in alle Richtungen sehen kann: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Nur Seher können das Symbol sehen. Alle anderen sehen nur das Schild. Wenn du dieses Symbol siehst, findest du zurück zur Schule. Hier lang.“

Er ging weiter. Oliver fand, dass Ralph über diese Dinge viel zu locker sprach. Seine Gelassenheit stand in absolutem Gegensatz zu Olivers Gefühlen. Er hatte den Eindruck, dass der Boden unter seinen Füßen jeden Augenblick zu beben begann und sein Leben von neuem auf den Kopf gestellt wurde. Er hatte kaum Zeit gehabt, sich damit zurechtzufinden, dass er besondere Fähigkeiten hatte, Armandos plötzlicher Tod, seine Reise in die Vergangenheit und das Aufeinandertreffen mit Ralph machten ihn fast schwindelig.

Oliver folgte Ralph in eine dunkle Gasse. Ohne das wärmende Sonnenlicht fror Oliver. Er trug schließlich nur den dünnen Overall.

Ein paar wenige Leute kamen ihnen entgegen, aber Ralph bog in eine noch engere Gasse ab und Oliver folgte ihm. Es erinnerte ihn an die Labyrinth-ähnlichen Gänge in Armandos Fabrik. Die Hauswände waren auf beiden Seiten waren steil und hoch. Der Himmel war nur noch als schmales, silbernes Band direkt über ihren Köpfen zu sehen. An einigen Stellen wurde die Gasse so eng, dass seine Schultern die Wände auf beiden Seiten streiften.

Schließlich blieb Ralph neben einem kleinen Busch stehen und ging in die Hocke. Oliver sah wieder das dreiäugige Ringsymbol. Ralph griff in den Busch und dort erschien ein Schalter.

Sobald Ralph ihn umgelegt hatte, verschwand die Wand und es kam eine Lücke im Gemäuer zum Vorschein, die etwa so groß war wie eine Tür. Dahinter lag eine weitere Gasse.

Oliver staunte. Es war fast wie sein Unsichtbarkeitsumhang – nur umgekehrt. Anstatt etwas zu verbergen, das es gab, verschleierte die Mauer den Durchgang an einem Ort, wo es keine Mauer gab.

„Ein optischer Trick“, erklärte Ralph, als er Olivers Überraschung bemerkte. „Eine Illusion.“

Oliver überlegte, was man für eine solche Technologie wohl brauchte. Es gab hier kein Licht um eine Illusion zu projizieren. Es war kein Hologramm. Bei seinem Umhang hatte er zuvor gewusst, dass es theoretisch möglich sein musste, bevor er es geschafft hatte, aber diese Erscheinung konnte er nicht erklären.

„Wahnsinn“, murmelte Oliver. „Ich würde gerne wissen, wie es funktioniert. Ich bin so etwas wie ein Wissenschaftler.“

Er blickte auf und stellte fest, dass Ralph bereits gegangen war. Er war schon die halbe Gasse hinuntergelaufen. „Mach wieder zu, wenn du durch bist. Wir wollen nicht, dass aus Versehen die Falschen hereinkommen!“, rief er Oliver zu.

Oliver hatte plötzlich den Eindruck, dass Ralph es eilig hatte.

Schnell trat er durch die Öffnung und drückte auf der anderen Seite auf den Schalter. Die Illusion der Backsteinmauer erschien wieder und Oliver überkam das unangenehme Gefühl, eingeschlossen zu sein. Er rannte zu Ralph.

Die Gasse, die sie jetzt entlanggingen, war nicht nur schmal, sondern wurde auch immer dunkler. Es drang kaum noch Tageslicht zu ihnen durch. Oliver hatte den Eindruck, dass sie in einer Art Gebäude waren.

Ralph ging mit schnellen Schritten weiter. Oliver sah, dass er jetzt gebückt ging. Die Decke über ihnen war inzwischen sichtbar und sie wurde niedriger und niedriger. Auch Oliver zog den Kopf ein, doch schon bald konnte er überhaupt nicht mehr aufrecht gehen. Wie Ralph es vor ihm tat, musste auch Oliver auf Händen und Knien weiter kriechen. Es war keine Gasse mehr, es war ein Tunnel. Er versuchte gegen sein mulmiges Gefühl anzukämpfen, aber er fühlte sich immer beengter und panischer.

Plötzlich stieß Oliver gegen Ralphs Hinterteil. Er hatte angehalten und setzte sich mit eingezogenem Kopf auf den Hosenboden.

„Jetzt kommt der beste Teil“, sagte Ralph. „Bist du bereit?“

„Bereit wofür?“, fragte Oliver.

Doch es war schon zu spät. Ralph lehnte sich nach vorne und verschwand.

Erschrocken kroch Oliver an die Stelle, an der gerade noch Ralph gesessen hatte. Er sah eine viereckige Öffnung im Boden, kaum größer als ein Belüftungsschacht. Darüber war ein merkwürdiges Netz gespannt, kaum dicker als ein Spinnennetz, darunter war alles schwarz.

„Ralph!“, rief Oliver. „Ralph, wo bist du? Ist alles in Ordnung? Ralph! Antworte doch!“

Es dauerte einen Augenblick, bis Ralphs Antwort aus der Dunkelheit kam. „Jetzt komm schon!“ Er klang, als wäre er ziemlich weit weg.

Oliver atmete erleichtert auf. Wenigstens war er okay.

„Wo bist du?“, rief Oliver. „Ich kann nichts sehen!“

„Es ist eine Rutsche“, rief Ralph von noch weiter weg.

Eine Rutsche?

„Da ist ein Netz“, rief Oliver.

„Nur eine Illusion!“ Ralphs Stimme wurde immer leiser.

Stille.

Vorsichtig streckte Oliver die Hand aus. Er erwartete den Widerstand des Netzes, aber er spürte in der Tat nichts. Seine Hand war direkt durch das Netz hindurchgeglitten. Es war wirklich eine Illusion.

Oliver wusste, was er zu tun hatte. Er musste Ralph folgen, aber in die ungewisse Finsternis zu springen war leichter gesagt als getan.

Er atmete tief ein um seine Nerven zu beruhigen. Er hatte schon schwierigere Dinge in seinem Leben getan. Zum Beispiel als Neuling vor eine Klasse zu treten und sich von neugierigen Gesichtern beäugen zu lassen. Dagegen kam ihm diese Mutprobe hier harmlos vor.

Oliver schloss die Augen und ließ sich über die Kante fallen.

Sein Magen machte einen Sprung, als er fiel. Er glitt so schnell über die glatte Rutsche, dass es fast mit einem freien Fall zu vergleichen war. Der Wind pfiff an seinen Ohren und wäre er nicht so erschöpft gewesen, hätte ihm diese wilde Fahrt vielleicht sogar Spaß gemacht.

Dann landete er auf etwas Weichem. Er öffnete die Augen und sah, dass er in einem hell erleuchteten Raum gelandet war. Er lang auf dem Rücken und federte sanft auf einem Trampolin auf und ab.

Oliver tastete rasch seinen Körper ab und war froh, dass alles an heil war. Das grelle Licht ließ ihn blinzeln.

Dann erschien auf einmal Ralphs grinsendes Gesicht über ihm. Oliver war erleichtert, ihn wieder zu sehen.

Aber Ralph ließ Oliver keine Zeit, sich von dem Schreck zu erholen. Er zerrte ihn am Arm vom Trampolin und Oliver landete unsanft auf dem Boden. Als er sich umsah, stellte er fest, dass sie jetzt auf einem Gehweg aus Holzbrettern waren. Er führte um ein Loch im Boden, das mit einer aus Glas gesichert war.

„Oliver Blue“, sagte Ralph feierlich. „Willkommen in der Schule für Seher.“

Возрастное ограничение:
16+
Дата выхода на Литрес:
10 октября 2019
Объем:
321 стр. 3 иллюстрации
ISBN:
9781640296862
Правообладатель:
Lukeman Literary Management Ltd
Формат скачивания:
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