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KAPITEL FÜNFZEHN

Oliver stand an der gläsernen Wand und blickte in die Tiefe. Der Anblick war atemberaubend. Es ging etwa fünfzig Stockwerke hinunter, alles verschiedene Ebenen der Schule für Seher. Sie erinnerte Oliver an eine dieser modernen Universitäten. Über das offene zentrale Atrium waren kreuz und quer zahlreiche hängebrückenartige Gänge gespannt, auf denen Schüler mit Büchern unter dem Arm fröhlich hin und her gingen. Es waren unglaublich viele.

Sie alle waren wie Oliver. Er starrte mit großen Augen hinunter und beobachtete, wie sie zu ihrem Unterricht eilten. Sie bewegten sich unnatürlich schnell, als hätte jemand sie auf Schnelllauf programmiert. Da fiel ihm plötzlich auf, dass die Gänge eigentlich Förderbänder waren, die die Schritte der Kinder noch schneller machten.

Sobald eine Tür hinter einer Gruppe von Schülern geschlossen wurde, öffnete sich die nächste und eine neue Ladung Kinder strömte aus einem anderen Zimmer und verteilte sich über die Förderbänder zügig in alle Richtungen.

Der Anblick hatte etwas Hypnotisches an sich. Es war so faszinierend, wie eine Ameisenkolonie zu beobachten. Jeder hatte ein Ziel, niemand trödelte und doch geschah alles in einer gewissen Synchronie.

Die Schule war viel moderner, als Oliver erwartet hätte. Weit unter sich entdeckte er einen tropischen Baum, dessen Äste – obwohl er sehr groß war – lange nicht an Olivers Höhe heran kamen.

„Unglaublich“, flüsterte Oliver.

„Warte nur, bis ich dir den Rest gezeigt habe“, sagte Ralph grinsend. Bis zum Abendessen ist noch genug Zeit, dass ich dich etwas herumführen kann.“

Sie folgten dem hölzernen Weg und Oliver staunte mit jedem Schritt. Sein Kopf schwirrte.

„Professor Amethyst ist der Schulleiter“, sagte Ralph, „sein Büro ist hier auf der obersten Etage. Du wirst ihn bestimmt treffen, aber er ist oft in anderen Zeitachsen unterwegs.“

Sie gingen auf einen gläsernen Aufzug zu. Als sie einstiegen, stellte Oliver fest, dass für die verschiedenen Etagen negative Zahlen angegeben waren. Die gesamte Schule musste unter der Erde liegen, auch wenn man das kaum glauben konnte. Durch ein riesiges Oberlicht fiel echtes Tageslicht ein und auch die Luft kam Oliver so frisch vor, dass sie unmöglich von einer Klimaanlage erzeugt werden konnte.

„Professor Amethyst unterrichtet übrigens nicht selbst“, fuhr Ralph fort, als sich die Aufzugtüren schlossen. „Wir haben verschiedene Lehrer: Dr. Ziblatt, Mr. Lazzarato und Coach Finkle. Das sind jedenfalls die drei wichtigsten, die unsere Kurse für die Schüler im ersten Jahr geben.“

Ralph drückte auf die Taste für das Erdgeschoss und schon zischte der Aufzug beinahe unangenehm schnell in die Tiefe. Oliver hielt sich am Handlauf fest. Sein Magen hob sich. Durch das Glas sah er all die verschiedenen Stockwerke an sich vorbeiziehen.

„An das Tempo gewöhnt man sich schnell“, lachte Ralph. Er musste laut sprechen um den Fahrtwind zu übertönen. „Bei einem so großen Gebäude ist es wichtig, schnell voranzukommen. Was eigentlich ironisch ist, denn wir leben hier unabhängig von der Zeit.“

Oliver wurde schlecht. Er kämpfte mit seiner Übelkeit und konnte nichts erwidern. Vorerst musste er Ralphs Informationen einfach hinnehmen. Er würde bestimmt später noch die Gelegenheit bekommen, ein paar Fragen zu stellen.

Hoffentlich.

Sie erreichten schließlich das unterste Stockwerk – Ebene -55, als sich die Fahrstuhltüren öffneten. Mit wackligen Beinen stieg Oliver aus. Er fühlte sich wie nach einer Achterbahnfahrt.

Hier unten im Bauch des Gebäudes konnte er den Trubel richtiggehend fühlen. Es summte und vibrierte von Stimmen und Bewegung, als wäre das Gebäude lebendig.

Erstaunt bemerkte Oliver den Geruch von blühenden Pflanzen. Es musste der Baum sein. Bei näherem Hinsehen stellte Oliver fest, dass es ein Kapokbaum war, einer der größten Bäume der Welt. Normalerweise würde man ihn im Regenwald finden, aber dieser hier schien in seinem ganz eigenen Ökosystem bestens zu florieren. Sein Stamm war so dick, dass es mindestens zehn Leute brauchte, um ihn zu umfassen. Tausende von Ästen wuchsen in das Atrium hinein und seine Wurzeln schlängelten sich über den Boden.

Von hier unter hochzublicken war eine vollkommen neue Erfahrung. Die Decke war so weit weg, dass sie nur wie ein Lichtschein wirkte. Dennoch war das komplette Innere so hell, dass es Oliver wie echtes Tageslicht vorkam.

„Wie kann es hier unten so hell sein?“, fragte Oliver neugierig.

„Das hat irgendetwas mit Reflektoren zu tun“, erklärte Ralph. „Das habe ich zumindest an meinem ersten Tag gehört, auch wenn ich es nicht ganz verstanden habe. Wenn man Spiegel im richtigen Winkel aufstellt, kann man damit Licht erzeugen oder so ähnlich…“

„Wie bei einem Periskop“, ergänzte Oliver. Natürlich kannte er sich durch sein Erfinderbuch bestens damit aus. Das Wissen war ihm ja bereits in der Fabrik zugutegekommen.

„Ja, genau“, bestätigte Ralph nickend. „Du bist ziemlich clever für einen … wie alt bist du eigentlich?“

„Elf“, sagte Oliver und fragte sich, wie alt Ralph wohl sein mochte. Seine Körpergröße und sein Selbstbewusstsein ließen ihn jedenfalls fast erwachsen wirken. „Und du?“

„Ich bin dreizehn“, sagte Ralph. „Aber meistens werde ich älter geschätzt. Ich bin auch erst seit Kurzem hier. Wir werden nicht unbedingt nach Alter trainiert, aber die meisten Kinder an der Schule sind zwischen zehn und sechzehn Jahre alt. Es hängt immer davon ab, wann Professor Amethyst von den Sehern erfährt und sie zu sich ruft. Ich schätze, es ist nicht ganz einfach bei den vielen Zeitachsen den Überblick zu behalten.“ Er lächelte. „Hier entlang, bitte. Ich will dir die coolen Sachen zeigen, nicht nur die Klassenzimmer.“

Er ging auf eine große Tür mit einem rieseigen S zu. Oliver runzelte die Stirn.

„Wofür steht ‚S‘?

Ralph wackelte mit den Augenbrauen auf und ab.

„Sport!“

Er drückte die große Tür auf und Oliver schnappte nach Luft. Dahinter befand sich eine Halle, die fast noch größer war als das Atrium, das sie gerade hinter sich gelassen hatten. Hier gab es hier so ziemlich alle Arten von Sportfeldern, die man sich nur vorstellen konnte. Jedes einzelne war in einem eigenen gigantischen Glaskasten. Oliver sah ein paar Kinder auf einer Ebene Tennis spielen, darüber wurde geturnt. Auf der gegenüberliegenden Seite fand gerade ein Basketballspiel statt und ein paar Etagen weiter oben sah Oliver ein großes Baseballfeld. Eine breite Skipiste erstreckte sich gleich über mehrere Etagen und ein Eistunnel zum Bobschlittenfahren war auch dort. Weiter hinten leuchtete ein blaues Schwimmbecken mit gläsernen Wänden, in dem einige Kinder gerade trainierten, ein kleinerer, aber dafür tieferer Pool musste zum Kunstspringen dienen. Es gab wirklich alles, was man sich nur wünschen konnte: Eine Joggingstrecke, Turngeräte, Tischtennistische, einen Skatepark und vieles mehr.

„Es ist sehr wichtig, dass sich die Seher auch körperlich fit halten“, erklärte Ralph. „Jeder muss sich mindestens einmal am Tag sportlich betätigen. Darum kümmert sich Coach Finkle.“

Oliver verzog das Gesicht. Er war nicht besonders sportlich und bisher hatte sich auch niemand – weder die Schule noch seine Familie – darum geschert. Er hatte sich bisher immer sehr gut vor sportlichen Aktivitäten gedrückt.

„Müssen wir?“, fragte er.

Ralph nickte. „Ja, das ist eine der Regeln hier. Es ist egal, welche Aktivität du dir aussuchst. Du hast freie Wahl. Ich verspreche dir, dass du etwas findest, das dir Spaß macht.“

Er lächelte Oliver aufmunternd an. Dann drehte er sich um und verließ die Halle durch die gleiche Tür, durch die sie gekommen waren. Als nächstes führte Ralph Oliver zu einer Tür mit einem großen B.

„B steht für Belohnung“, erklärte er.

Dann schob er Oliver durch die Tür. Staunend blieb er stehen. Er stand in einer weiteren großen Halle, die mit riesigen Süßigkeiten-Automaten gefüllt war. Sie führten wie Murmelbahnen durch den gesamten Raum. Oliver sah sich mit offen stehendem Mund um. Kinder drückten auf verschieden farbige Knöpfe und sahen zu, wie ihre Süßigkeiten die Bahnen und Röhren entlang sausten, bevor sie den Kindern in die Hände fielen.

„WOW“, flüsterte Oliver und sah Ralph mit großen Augen an. „Was muss man tun um sich eine Belohnung zu verdienen?“

„Sich an die Regeln halten“, sagte Ralph. „Es gibt eine Menge Regeln.“

Sie verließen die Halle wieder und gingen zurück ins Atrium. Hier sah Oliver eine Tür mit einem großen BIB.

„Das ist bestimmt die Bibliothek“, tippte Oliver und konnte kaum erwarten einzutreten.

Ralph nickte.

Oliver öffnete die Tür. Wieder stand er in einer großen Halle, die sich über fünfzig Stockwerke erstreckte. Lange Leitern verbanden alle Regale auf allen Ebenen miteinander und jede Menge Schüler schwirrten fröhlich umher. Ein paar trugen sogar Klettergurte und kletterten wie Affen an den Regalen entlang. Sobald sie das richtige Buch gefunden hatten, sprangen sie wieder zurück auf den Boden. In der Mitte war eine lange Sitzreihe. Eine gigantische rote Ledercouch, einzelne Sitzecken mit Ohrensesseln und andere Rückzugsgelegenheiten standen überall bereit.

„Das ist mein Lieblingsort“, sagte Oliver staunend. „Ich liebe Bücher!“

„Du darfst dir aber noch keine Bücher nehmen“, sagte Ralph. „Ich weiß auch nicht genau warum, aber es ist eine Regel. Hat angeblich etwas mit paradoxen Textexplosionen zu tun.“ Er lachte. „Aber jetzt lass uns weitergehen, sonst bekomme ich dich hier nie wieder weg.“

In einem anderen Gang, der von Atrium wegführte, war eine Tür mit einem X.

„X? Vielleicht für Xylophone?“, scherzte Oliver. Ihm fiel keine gute Verwendung mit X ein.

„X bedeutet Kein Zutritt. Es gibt ein paar wenige Räume, die die Schüler nicht betreten dürfen. Also wenn du irgendwo ein X siehst, dann geh einfach weiter.“

„Oh, okay“, sagte Oliver etwas enttäuscht. Er hatte sich eine aufregendere Erklärung erhofft. „Und warum?“

„Ist auch eine Regel“, sagte Ralph. „Stell dir einfach vor es wären Lehrerzimmer. Die gibt es an jeder Schule.“

Das holte Oliver wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Er war hier um zu lernen, nicht um Süßigkeiten zu essen und Tischtennis zu spielen. So sehr er auch den Rundgang mit Ralph genoss, er hatte noch immer wahnsinnig viele Fragen im Kopf.

„Wie sind die Lehrer hier?“, fragte er Ralph. „Und was wird unterrichtet?“

„In unserem ersten Jahr haben wir drei Kurse. Dr. Ziblatt unterrichtet Hellsehen, also in die Zukunft, die Vergangenheit und parallele Dimensionen sehen. Mr. Lazzarato ist unser Lehrer für Transformation. Er bringt uns bei, wie wir unsere Kräfte einsetzen, um die Realität zu verändern. Und Coach Finkle arbeitet mit uns, damit wir stark und fit sind. Wir haben bei jedem Lehrer zwei Stunden Unterricht pro Tag.“

Das hörte sich nach viel Arbeit an. Oliver war aufgeregt und eingeschüchtert zugleich. Er arbeitete gerne, vor allem wenn es bedeutete, dass er mehr über seine Kräfte erfuhr. Aber er war auch etwas nervös. Alles erschien ihm so unglaublich.

„Was passiert nach einem Jahr?“, fragte Oliver.

„Dann kommt das zweite Jahr. Mehr Unterricht, andere Lehrer, ein neuer Stundenplan. Das ist sehr wichtig. Alles ist genau geplant, damit sich bei so vielen Schülern auch nichts überschneidet.“

Noch nie hatte Oliver sich so sehr unter Druck gesetzt gefühlt. Er kannte die Regeln nicht und sollte sich doch daran halten, um keine Schwierigkeiten zu machen? Alles war genau geregelt. Nicht einmal ein Buch durfte er sich ausleihen!

„Du wirst dich schnell zurecht finden“, sagte Ralph. „Ich werde dir helfen, ich und meine Freunde. Alle sind hier total nett. Naja… nicht alle. In meiner Gruppe sind Walter, Simon und Hazel. Du wirst sie mögen, da bin ich ganz sicher. Und Ichiro auch! Er ist schon im zweiten Jahr, aber er hängt oft mit uns zusammen. Halte dich aber von Edmund und Vinnie fern.“

Oliver nickte. Er wollte sich alles merken, aber Ralph ging so schnell von einem Thema zum nächsten, dass Oliver bestimmt einiges wieder vergaß.

Er deutete auf eine Tür mit einem großen Z. „Was gibt es hier? Einen Zoo vielleicht?“

Ralph lachte. „Nein, aber das wäre super. Z steht für das Ende unseres Tages. Hier wird geschlafen. Hast du schon mal eine Schlafkapsel gesehen?“

„Eine Schlafkapsel?“, fragte Oliver. „Nein, noch nie! Darf ich mir eine ansehen?“

Ralph schüttelte den Kopf. „Wir haben ganz bestimmte Schlafzeiten und an die müssen wir uns halten. Hier drinnen ist immer Nacht. Das ist auch eine ganz wichtige…“

„…Regel“, ergänzte Oliver den Satz.

In dieser Schule gab es mehr Regeln, als er sich je vorgestellt hätte.

„Kann ich zusehen, wie jemand seine Kräfte einsetzt?“, fragte Oliver. „Ich verstehe immer noch nicht ganz, wie das aussehen soll.“

„Hat dein Mentor dir das nicht erklärt?“, fragte Ralph erstaunt.

„Mein Mentor? Bist das nicht du?“, fragte Oliver.

Ralph lachte. „Nein, ich meine deinen Mentor in der Zeitachse, aus der du kommst. Du musst doch einen gehabt haben. Er ist dir erschienen, als du ihn am dringendsten gebraucht hast. Er hat dir Antworteten gegeben, die du immer gesucht hast.“

„Meinst du vielleicht …. Armando?“, fragte Oliver. Sein Herz schmerzte, als er wieder vor sich sah, wie sein lieber Freund in seinen Armen gestorben war.

„Wir alle haben einen Mentor“, sagte Ralph. „Das ist der Mensch, der den Auftrag hat uns zu helfen und uns auf den richtigen Weg zu bringen. Oft halten ihn die Leute für verrückt. Kein Wunder, wenn man sich überlegt, was uns hier alles erwartet.“

Er lachte. Für Ralph schien alles ganz einfach zu sein, wie ein großes, verrücktes Abenteuer. Oliver bewunderte seine Sorglosigkeit.

„Armando sollte mich also zu euch bringen?“, fragte Oliver noch einmal. „Das erklärt. Warum er so viel über mich wusste. Er wurde getötet, bevor er mir alles sagen konnte.“

„Er wurde getötet?“, fragte Ralph mitfühlend. „Das tut mir wirklich leid.“

Oliver spürte, wie Tränen in seine Augen stiegen. Er hielt die Luft an, weil er vor Ralph nicht weinen wollte.

„Sei nicht traurig“, sagte Ralph. „Ich werde dir alles sagen, was du wissen musst. Hast du irgendwelche Fragen?“

Oliver schluckte seine Trauer herunter und versuchte sich zu freuen, dass er endlich ein paar Antworten bekommen würde. Es war ihm ein bisschen peinlich, dass er so wenig wusste. Normalerweise war er derjenige, der mehr wusste als die anderen.

„Kannst du mir genau erklären, was ein Seher eigentlich ist?“

Ralph machte ein überraschtes Gesicht.

„Oh. Okay. Wir müssen wirklich ganz vorne anfangen.“

Oliver wurde rot.

„Also dann. Suchen wir uns einen gemütlichen Platz und fangen wir an.“

KAPITEL SECHZEHN

Sie gingen zurück zur Bibliothek und setzten sich auf eines der roten Ledersofas. Ralph holte ein Buch aus einem der Regale und legte es offen auf den kleinen Couchtisch. Es war abgegriffen und hatte einige Eselsohren. Oliver musste an sein Erfinderbuch denken.

„Fangen wir ganz am Anfang an“, sagte Ralph und blätterte auf Seite eins. „Vergiss alles, was du glaubst über Zeit zu wissen. Das allgemein verbreitete Konzept von Zeit ist nicht real. Es gibt keinen Anfang und kein Ende. Alles existiert gleichzeitig. Immer.“

Oliver sah ihn ungläubig an. „Das klingt nicht gerade einfach.“

„Hier“, sagte Ralph und zeigte auf eine Textpassage. „Das hier erklärt es vielleicht besser.“

Oliver begann zu lesen.

Zeit verläuft simultan. Alles, was je geschehen wird, ist bereits geschehen und geschieht in genau diesem Augenblick.

Oliver rieb sich die Stirn. „Ich verstehe es nicht ganz.“

„Nun ja, ich bin selbst noch kein Experte, vielleicht bin ich nicht der Beste um dir diese Dinge zu erklären. Aber im Grunde genommen kann Zeit gar nicht real sein, sonst dürften Zeitreisen nicht möglich sein. Aber die Tatsache, dass wir beide hier zusammen sitzen – im Jahr 1944 – beweist, dass sie möglich sind. Man könnte ja nicht an einen Ort und in eine Zeit reisen, die es nicht gibt. Verstehst du?“

„Mhm…“ Oliver nickte zaghaft. Er war noch immer nicht überzeugt. „Aber da es eben doch möglich ist, muss alles konstant sein. Damit alles für alle Zeit konstant bleibt, darf nichts einfach so verändert werden, sonst würden zu viele Unstimmigkeiten entstehen.“

Ralph schüttelte heftig den Kopf. „Das ist so nicht ganz richtig, weil es eine unendliche Anzahl von Dimensionen gibt. Das Universum will, dass eine Hauptdimension einer bestimmten Zeitachse folgt – nämlich der Besten. Damit alle auch dem richtigen Pfad folgen, verleiht das Universum den Sehern die Macht, Zeitachsen zu verändern, um Fehler auszugleichen und alles wieder auf den besten Weg zu bringen. Keiner merkt, dass etwas verändert wurde, und dass es eine neue Realität gibt, aber wir Seher wissen es. Normale Menschen tendieren dazu, Ungereimtheiten in der Abfolge von Ereignissen zu vergessen, aber wir können verschiedene Ebenen in unserem Bewusstsein festhalten. Deswegen müssen wir ein Leben lang immer wieder lernen, wie die Geschichte verändert wird.“

Oliver verzog das Gesicht. Sein Kopf pochte und sein Geist konnte nicht richtig fassen, was er soeben gehört hatte. „Dann sind wir nur Spielbälle des Universums?“

Ralph blinzelte. Er sah irgendwie verletzt aus. Als er wieder zu reden begann, klang seine Stimme sanfter und nicht mehr ganz so enthusiastisch. „Unsere Kräfte sind ein Geschenk des Universums. Es hat uns ausgewählt. Wir sind Teil der Materie, die die Wirklichkeit ausmacht. Ich glaube, das ist eine große Ehre.“

Oliver blickte in Ralphs ernste, grüne Augen. Es tat ihm leid, dass er Ralphs Stolz nicht teilen konnte, aber für Oliver klang alles wie ein Gedankenspiel, das ihn vollkommen überwältigte.

„Kannst du mir vielleicht mehr über unsere Kräfte erzählen?“, schlug Oliver vor.

Ralphs Miene hellte sich umgehend auf. „Gerne! Wir alle haben eine spezielle Kraft, die es uns ermöglicht, die physikalischen Gegebenheiten unserer Welt zu manipulieren und damit die Zukunft zu verändern. Meine Begabung ist biologisch. Ich kann Materie beeinflussen. Zum Beispiel kann ich Ranken wachsen lassen und damit jemanden fesseln, oder ich kann die Bäume eines Waldes so teilen, dass sich ein Weg öffnet. Weißt du noch, wie ich vorhin das Blatt altern und zerfallen lassen konnte? Ich kann es noch nicht richtig kontrollieren, aber bald werden meine Kräfte voll ausgebildet sein. Im Augenblick kann ich nicht viel mehr als ein Blütenblatt von einer Blüte fallen lassen.“

„Und die anderen? Welche Kräfte haben sie?“, fragte Oliver.

„Mein Freund Simon hat eine molekulare Begabung“, erklärte Ralph. „Er kann Flüssigkeiten zu Gas werden lassen, Blei zu Gold machen, solche Dinge eben. Hazel hat eine chemische Begabung. Sie kann menschliche Launen beeinflussen, einen traurigen Menschen fröhlich machen und so. Sie hat mir einmal geholfen mexikanisches Essen zu verdauen. Wenn du also deine Kräfte als prädestinierte Last sehen willst, dann kannst du das natürlich tun. Oder aber du betrachtest sie wie ich – als etwas ganz FANTASTISCHES!“

„Okay, okay“, lachte Oliver. „Das klingt wirklich fantastisch. Es ist ziemlich cool, Atome und Moleküle einfach verändern zu können. Aber wie genau funktioniert es?“

„Du musst dich auf die Zukunft konzentrieren und ganz genau vor dir sehen, was du brauchst. Dann überlegst du dir, welche Veränderung das erreichen würde. Wenn ich also zum Beispiel einen Berg wachsen lassen möchte, dann muss ich mir genau vorstellen, wie der Berg aussieht, wenn er gewachsen ist und dann das manipulieren, was dazu nötig ist. Hast du schon eine Ahnung, was deine Spezialität ist?“

Oliver dachte nach. Er hatte bisher seine Kräfte nur eingesetzt, um ein Tischbein zu zerbrechen und eine riesige Stahltüre zu öffnen.

„Wäre es eine Spezialität, bestimmte Materialien zu beeinflussen? Holz und Stahl zum Beispiel?“, fragte Oliver.

Ralph sah ihn ratlos an. „Ich weiß nicht genau. Ich schätze, das wäre eine atomische Begabung. Das ist die stärkste Kraft und sie ist am schwersten zu beherrschen, kommst aber auch ziemlich selten vor…“ Er sah ihn nachdenklich an. Plötzlich leuchteten Ralphs Augen auf. „Außer du bist der, auf den wir gewartet haben!“

„Was meinst du?“, fragte Oliver.

Plötzlich war Ralph ganz aufgeregt. „Wir warten auf einen besonderen Menschen, der der mächtigste Seher überhaupt sein soll. Bei jedem Neuankömmling hoffen wir, ihn gefunden zu haben, aber bisher war er noch nicht dabei.“

„Und jetzt glaubst du, dass ich es sein könnte?“ Oliver schluckte.

Ralph zuckte mit den Schultern. „Das werden wir herausfinden.“ Dann sprang er auf und rieb sich den Bauch. „Ich verhungere! Lass uns essen gehen!“

Oliver stand auf und sah noch einmal auf das schwere alte Buch, das alle Theorien über Raum und Zeit enthielt, über die er gerade mit Ralph geredet hatte. Er beschloss, so bald wie möglich zurück zu kommen und mehr darüber zu lesen. Er würde sich alles ganz genau anschauen. Diese Theorien klangen für ihn noch viel faszinierender als Einsteins Relativitätstheorie.

Jetzt musste Oliver aber akzeptieren, dass sein knurrender Magen Vorrang hatte.

Sie gingen wieder durch die BIB-Tür und Ralph führte ihn zu einer Tür mit einem großen E. Das musste also das Esszimmer – oder besser der Speisesaal sein.

Ralph stieß die Tür auf und vor Olivers Augen erschien das wunderbarste Esszimmer, das Oliver sich je hätte vorstellen können.

Wie die anderen Hallen erstreckte sich auch diese über fünfzig Stockwerke. Bunt beleuchtete Röhren verliefen kreuz und quer durch den Raum. Darin bewegten sich Teller mit verschiedenen Speisen auf Förderbändern. Es war wie eine gigantische Sushi-Bar in Leuchtfarben.

In der Mitte befand sich ein riesiger Würfel aus Beton, um den herum unzählige, lange Glastische auf allen Ebenen waren. Oliver sah zu, wie Kinder von allen Seiten zu den Tischen strömten, sich auf die Bänke setzten und mit Sitzgurten anschnallten. Sobald alle Plätze besetzt waren, hob der Tisch mit den Kindern ab. Der Würfel musste eine Art Aufzugsystem sein. Sobald ein Tisch seinen Platz auf der jeweiligen Etage erreicht hatte, rastete er in der richtigen Position ein. Oliver sah, wie die Kinder dann die Teller ihrer Wahl ganz bequem vom Förderband nahmen. Dabei plapperten sie fröhlich durcheinander.

Der Anblick machte Oliver sprachlos. Wie alles andere in dieser Schule, schien auch das Essen besonders schnell zu gehen.

„Verrückt“, flüsterte er.

„Komm schon“, sagte Ralph und zog an seinem Ärmel. „Lass uns schnell einen Platz suchen, sonst müssen wir auf den nächsten Tisch warten.“

Oliver ging mit Ralph auf den großen Würfel zu, als gerade der nächste Tisch vom Boden abhob. Überall sprangen Kinder auf die Bänke und schnallten sich an. Auch Ralph schob Oliver auf einen Platz und rutschte neben ihn.

„Schnall‘ dich an!“, forderte er Oliver auf.

Es dauerte eine Weile, bis Oliver den Gurt verschlossen hatte. Die freien Plätze hatten sich schnell gefüllt.

Sobald er es geschafft hatte, begann die Bank zu beben und schoss in die Höhe. Oliver sah nach unten. Das war ein großer Fehler. Er sah, wie seine Beine weit über dem Boden baumelten. Sie flogen schnell in die Höhe, bis der Tisch plötzlich stoppte. Oliver fühlte sich mulmig.

„Alles okay?“, fragte Ralph.

„Ich glaube schon“, antwortete er und wischte sich eine Haarsträhne aus der Stirn.

Mechanisches Pfeifen ertönte und Oliver sah, wie hunderte von Tellern durch verschiedenfarbige Röhren auf ihren Tisch zukamen: Schüsseln mit lilafarbenem Reis, bunte Hamburger, glitzernder Brokkoli.

„Was ist…“, murmelte Oliver.

Er sah zu Ralph hinüber, der sich bereits ein paar Speisen ausgesucht hatte und sich jetzt hungrig darüber hermachte. Drei Teller standen bereits vor ihm: Er hatte sich einen Hot Dog, einen Teller mit Pommes und Gemüsenuggets in der Form von Dinosauriern ausgesucht. Dann griff auch Oliver nach einem Teller.

Erleichtert stellte er fest, dass es ein ganz normal aussehendes Stück Salamipizza war. Hungrig biss er hinein. Die Pizza schmeckte köstlich.

Als er seine erste Scheu überwunden und den größten Hunger gestillt hatte, sah er sich die Gesichter der anderen Kinder am Tisch an. Unter ihnen war ein Mädchen mit zwei ordentlich geflochtenen Zöpfen, ein Junge mit dunkler Haut und einem halblangen Afro und ein sehr blasser Junge mit großen blauen Augen, die weit auseinander standen. Sein Haar war so hell, dass es fast silberfarben glänzte.

„Du bist neu“, sagte das Mädchen, als sich ihre Blicke trafen. Sie hatte graue Augen, die sich an den Winkeln leicht nach unten neigten. Das ließ sie fast etwas traurig erscheinen.

„Woher weißt du das?“, fragte Oliver.

„Du siehst irgendwie eingeschüchtert aus“, antwortete sie. „So sehen alle aus, wenn sie zum ersten Mal im Esszimmer sind. Außerdem hast du nur einen Teller genommen.“

Oliver blickte auf die Auswahl, die sie vor sich stehen hatte: blauer Kartoffelstampf, rote Erbsen und eine riesige Wurst in der Form eines Flugzeuges. Ihr Getränk sah aus wie ein Milchshake. Oliver leckte sich die Lippen.

„Das ist Hazel“, sagte Ralph. „Hazel, das ist Oliver, der Junge, den ich für Professor Amethyst abholen sollte.“

Hazel schob ihm ihren Milchshake hin. „Hier, ich habe gesehen, dass du Lust darauf hast. Du musst schnell zugreifen, wenn du etwas siehst, das du haben willst.“

„Danke“, sagte Oliver. „Ich bin so eine tolle Auswahl nicht gewöhnt.“ Er lief rot an, als er an die armen Verhältnisse dachte, aus denen er selbst kam. „So viel Essen hat es bei mir zu Hause nie gegeben.“

„Das hätte mich auch gewundert“, kicherte Hazel.

Der dunkle Junge neben Hazel lehnte sich zu ihr hinüber und nahm sich eine Gabel von ihren Kartoffeln. Er grinste frech und schob sich die Gabel in den Mund.

„Walter!“, rief Ralph von der anderen Seite des Tisches. Er kreuzte die Amre vor der Brust. „Hol‘ dir deinen eigenen Teller!“

Walter gab sich unbeeindruckt. Er grinste einfach weiter. Oliver hatte den Eindruck, dass Ralph, der mit Abstand der älteste war, eine Art Erzieherrolle übernahm. Vielleicht war das auch nötig, da es hier zwar unzählige Kinder, aber kaum Erwachsene gab. Oliver fragte sich, ob sie sich hin und wieder einsam fühlten. Er vermisste seine Familie kein bisschen, aber er konnte sich vorstellen, dass andere Kinder ihre Eltern und Geschwister sehr liebten. Es musste schwer für sie sein, so ganz alleine in dieser Schule zu sein. Ob einige von ihnen Heimweh hatten?

„Also, was denkst du?“, fragte Walter, der Junge mit dem Afro, nachdem er den geklauten Kartoffelbrei heruntergeschluckt hatte.

„Ganz schön viel auf einmal“, gestand Oliver und dachte wieder an die Unterhaltung mit Ralph in der Bibliothek. „Es ist sehr anders hier, als die Welt, aus der ich komme.“

„Woher kommst du denn?“, fragte Walter.

Von wann, dachte Oliver, nicht woher? Er war nicht ganz sicher, wie er es am besten beschreiben sollte.

„Aus dem dritten Jahrtausend“, begann er.

„Gar nicht so weit weg“, entgegnete Walter. „Ich komme aus 1982. Hazel kommt aus dem vierten Jahrtausend – 3032.“

Olivers Augen wurden groß. Hazels Wangen liefen rot an.

„Ich weiß“, sagte sie. „Ganz schön schaurig.“

Oliver verstand nicht, warum sie das sagte. Ihm kam es nur wahnsinnig verrückt vor. Hazel kam aus der Zukunft!

„Gibt es hier auch Kinder aus der Vergangenheit?“, fragte Oliver.

Ralph blickte auf und lachte. „Das kommt darauf an, was du als Gegenwart bezeichnest. Für dich ist Walter aus der Vergangenheit. Für mich bist du aus der Vergangenheit.“

„Aus welcher Zeit kommst du eigentlich“, fragte Oliver Ralph. Er war noch nicht auf den Gedanken gekommen, dass Ralph aus einer vollkommen anderen Zeit stammen konnte als er selbst.

„Ich bin 4040 geboren worden“, antwortete Ralph. „Fünftes Jahrtausend.“ Er grinste, als wäre diese Information etwas, worauf man sehr stolz sein durfte. Er sah den blassen Jungen neben sich an. „Und du, Simon?“

„1890“, sagte der Junge mit einem breiten britischen Akzent.

Oliver konnte kaum glauben, was er da hörte. Er war in einer Schule, die völlig unabhängig von Jahreszahlen war und von Schülern aus der Zukunft und der Vergangenheit besucht wurde. Alles drehte sich in seinem Kopf.

„Hast du schon ein paar Lehrer getroffen?“, fragte Hazel. Sie nahm sich eine große Schüssel Popcorn vom Förderband.

Oliver schüttelte den Kopf. „Seit ich hier bin, bin ich noch keinem einzigen Erwachsenen begegnet.“

Hazel lachte. „Man muss sich erst daran gewöhnen. Die Erwachsenen vertrauen darauf, dass wir uns an die Regeln und Stundenpläne halten. Abgesehen davon haben wir alle Freiheiten, die wir uns nur wünschen können.“

„Aber es gibt viele Regeln“, wiederholte Ralph.

„Die einzigen Erwachsenen, die es hier gibt, sind die Lehrer“, fügte Hazel hinzu ohne Ralphs Kommentar zu beachten. Dabei kaute sie eine Handvoll Popcorn. „Und natürlich hat man hin und wieder Gespräche mit seinem Hologramm-Mentor.“

Возрастное ограничение:
16+
Дата выхода на Литрес:
10 октября 2019
Объем:
321 стр. 3 иллюстрации
ISBN:
9781640296862
Правообладатель:
Lukeman Literary Management Ltd
Формат скачивания:
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