Читать книгу: «Die Zauberfabrik », страница 8

Шрифт:

KAPITEL ZEHN

An diesem Abend kroch Oliver erschöpft in sein Bett. Der Tag hatte ihn angestrengt und er war immer noch aufgewühlt von dem Gespräch mit Armando.

Doch so merkwürdig und schwierig es für ihn auch gewesen sein mochte, Oliver fürchtete sich nicht vor der Zukunft. Ob er wirklich ein Seher war? Seit er in der Fabrik war, hatte er seltsame Träume, aber sie machten ihm keine Angst.

Auch heute dauerte es nicht lange, bis er eingeschlafen war. Er träumte, dass er in der Fabrik war. Es war mitten in der Nacht, überall um ihn herum standen riesige Roboter und Maschinen in der Dunkelheit.

Er hörte ein Geräusch in der Ferne und erkannte sofort, dass es das Summen eines Motors war. Blinzelnd sah er ein silbernes Licht in Armandos Büro. Als er darauf zuging, wurde das Summen immer lauter. Oliver schlüpfte in Armandos Büro, das eigentlich aussah wie immer, abgesehen von einer kleinen, bizarren Ausnahme: In der Mitte des Raumes stand ein großer silberner Kokon mit Türen aus mattem Glas. Er war so groß, dass kaum noch Platz war, daran vorbei zu gehen.

„Armando! Wo sind Sie?“, rief Oliver über das Summen der Maschine hinweg.

Er bekam keine Antwort.

Plötzlich wurde es still. Zischend öffneten sich die Glastüren. Etwas fiel aus dem Inneren heraus.

Oliver sprang erschrocken zurück. Denn vor ihm lag – mit weit geöffneten, starren Augen – Armandos lebloser Körper.

Oliver schoss in die Höhe. Er saß in seinem Bett und schnappte nach Luft. Seine Stirn war nass geschwitzt.

Der Alptraum hatte ihn sehr beunruhigt und Oliver wusste, dass er nicht mehr schlafen würde. Es war noch sehr früh am Morgen, aber er beschloss, aufzustehen und in die Werkräume hinunter zu gehen.

Wie er erwartet hatte, war alles noch still. Lucas war bestimmt in seinem Zimmer am Ende der Wendeltreppe und Armando schlief wahrscheinlich noch.

Doch plötzlich hörte Oliver Stimmen.

Sie kamen von der anderen Seite der beweglichen Wand. Er rannte hinüber und drückte sein Ohr dagegen. Sehr dick konnte sie nicht sein, denn Oliver konnte fast jedes Wort verstehen, das auf der anderen Seite gesprochen wurde.

„Dann werden Sie sicherlich wissen, wie wertvoll eine solche Technologie für Sie sein kann“, sagte die erste Stimme. Es war eindeutig Lucas, der da sprach.

„Einfach fantastisch“, entgegnete die zweite Stimme. „Ich stimme Ihnen vollkommen zu. Wir von ChemCorp können dieses bahnbrechende Meisterwerk sehr gut gebrauchen.“

Oliver schluckte. Was er da hörte, gefiel ihm überhaupt nicht. ChemCorp war bestimmt die Abkürzung für Chemicals Corporation. War das einer dieser gefährlichen Waffenhersteller, vor denen Armando Oliver gewarnt hatte? Das, was er als die falschen Hände für seine Erfindungen bezeichnet hatte?

Ob er diese Firma gemeint hatte oder nicht, Lucas war gerade dabei, ihnen irgendetwas zu verkaufen.

In diesem Moment hörte Oliver, wie der Hebel betätigt wurde und sich die Wand ächzend in Bewegung setzte. Schnell sprang er in den Schatten einer riesigen Maschine und versteckte sich dort.

Mehrere Männer in Anzug und Krawatte gingen an ihm vorbei. Wie Oliver vermutet hatte, war Lucas bei ihnen. Mit Schreck erkannte er, dass Lucas seine Erfindung in der Hand hielt! Er wollte Olivers Arbeit verkaufen! An diese furchtbaren Männer!

Oliver hatte genug gesehen. Er rannte so schnell und leise er konnte von Schatten zu Schatten. Er musste Armando warnen!

Sobald er seine Tür erreicht hatte, klopfte er wie wild an. Armando antwortete nicht, aber Oliver öffnete dennoch die Tür. Alles war dunkel. Oliver knipste das Licht an und schrie auf.

Das Zimmer war völlig auf den Kopf gestellt. Überall waren Bücher und Papiere achtlos auf den Boden geworfen. Dann gefror Oliver das Blut in den Adern: Mitten in diesem Durcheinander steckten zwei Füße aus dem Teppich von Papieren.

„Armando! Nein!“

Er sprang hinüber und wischte die Blätter von seinem Körper. Als er Armandos Gesicht befreit hatte, hielt er die Luft an. Armandos Augen standen offen. Er schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen.

„Oliver“, krächzte er.

Oliver lehnte sich zu ihm und legte ihm seine Hände auf die Schultern. „Ich hole Hilfe! Ich rufe den Rettungsdienst!“

Er wollte aufstehen, doch Armando packte ihn am Ärmel.

„Oliver“, flüsterte er noch einmal.

Er versuchte, ihm etwas mitzuteilen. Oliver musste sich zwingen, nicht zum Telefon zu rennen um Hilfe zu holen. Stattdessen hielt er sein Ohr direkt vor Armandos Gesicht.

„Ich wusste, dass du kommst.“

Oliver sah dem alten Mann tief in die Augen. „Was meinen Sie damit?“

„Ich wusste es. Ich habe gewartet. Du musst deinem Schicksal folgen…“

Oliver schüttelte den Kopf. Dafür war keine Zeit. Er musste Hilfe holen, aber der alte Mann ließ ihn nicht los.

„Der Raum…“, flüsterte er.

Oliver verstand nicht, was er ihm sagen wollte. Wieder versuchte er sich loszureißen.

„Der Raum“, sagte Armando lauter.

„Welcher Raum?“, fragte Oliver mit zunehmender Panik. „Bitte Armando, Sie brauchen Hilfe!“

Armando schüttelte den Kopf. „Keine Zeit. Keine Zeit. Denk immer… an die Zeit.“

„Denk‘ an die Zeit? Was meinen Sie damit?“ Oliver verstand einfach nicht, was Armando ihm sagen wollte.

„Denk an… die Zeit!“, wiederholte Armando. „…die Zeit…“

Dann erschlaffte sein Körper plötzlich. Seine Hand glitt von Olivers Arm. Sein Kopf sank auf den Boden.

Oliver fühlte sich wie in seinem Alptraum. Er schüttelte Armando. Das durfte einfach nicht wahr sein!

Oliver schluchzte auf.

Armando war tot.

KAPITEL ELF

Tränen stiegen in Olivers Augen. Er ließ sich auf Armandos Brust fallen und schluchzte ungehalten. Sein ganzer Körper wurde durchgeschüttelt. Noch nie in seinem Leben hatte Oliver sich so verloren gefühlt.

Was hatte Armando versucht, ihm zu sagen? Er hatte von Zeit und Schicksal geredet, aber für Oliver ergab es einfach keinen Sinn.

Auf einmal hörte er Schritte. Erschrocken blickte er über die Schulter und sah durch seine Tränen Lucas auf sich zukommen.

„Was hast du mit ihm gemacht?“, schrie Oliver, „Du hast ihn umgebracht!“

Lucas verzog keine Miene. Er ließ sich von der Szene, die sich ihm bot, nicht beeindrucken.

„Ich?“, fragte er unschuldig. „Wenn jemand an seinem Tod Schuld hat, dann du, Junge. Dein Erscheinen hat ihn unter großen Druck gesetzt. Deine ständigen Fragen und Ansprüche waren einfach zu viel für den Alten. Ganz zu schweigen von deinem Hirngespinst mit dem Umhang. Das hätte niemand in Armandos Alter lange ausgehalten.“ Er seufzte. „Wie dem auch sei, der Krankenwagen ist unterwegs, er wird jeden Moment abgeholt.“

Oliver hatte wahnsinnige Angst. Er begann zu zittern. Seine Arme langen schützend um Armando. Er wollte nicht, dass sein großer Held von ihm weggenommen wurde. Und er glaubte nicht, dass Lucas wirklich einen Krankenwagen gerufen hatte.

„Was wird aus seiner geheimen Erfindung…“, stammelte Oliver. „Die Zukunft der Menschheit…“

Lucas lachte schallend. „Ach das. Armando war schon immer melodramatisch. Ehrlich, er hat sich doch für so etwas wie einen Gott gehalten!“ Lucas schüttete den Kopf. Er benahm sich, als wäre der Mann, an dessen Seite er ein Leben lang gearbeitet hatte, nichts weiter als eine Belastung gewesen. „Zerbrich dir nur nicht dein hübsches Köpfchen, Junge. Alles Quatsch. Jetzt gehört die Fabrik mir und ich kümmere mich schon um seine sogenannten Erfindungen. Es wird Zeit, dass ein paar Dinge verkauft werden, um die Fabrik wieder in Gang zu bringen. Armando hat ja immer alles behütet wie den heiligen Gral.“ Er rollte die Augen.

„Das kannst du nicht machen!“, schrie Oliver. „Du kannst nicht einfach Armandos Sachen verkaufen!“

„Oh doch, ich kann“, erwiderte Lucas kühl. „Und das werde ich auch. Deine Erfindung verkaufe ich auch. Alles, was sich in dieser Fabrik befindet, gehört jetzt mir. Und als erstes werde ich das Ungeziefer loswerden, das Armando hier angeschleppt hat… Du und dieser stinkige Köter habt hier nichts mehr verloren! Die Polizei weiß schon Bescheid, dass ein streunender Straßenjunge hier eingebrochen ist und meine Erfindungen stehlen will. Dafür werden sie dich ins Gefängnis werfen.“

Oliver hatte das Gefühl, als bräche die ganze Welt zusammen.

Er sah Lucas verzweifelt an. Hinter ihm erschienen zwei stämmige Wachmänner.

„Ergreift ihn“, befahl Lucas.

Oliver musste etwas tun! Er musste entkommen. Er sprang auf und rannte auf die Wachmänner zu. Sie zögerten gerade lang genug, dass Lucas auf seinen Knien zwischen ihnen hindurchschlittern konnte.

Wieder kam ihm seine zierliche Statur zugute.

Schon rannte er den Gang hinunter und verschwand um ein paar Ecken, in der Hoffnung, seine Verfolger abzuhängen. Doch ihre Schritte folgten ihm durch die Gänge und Räume.

Wenn er es zu den Werkräumen schaffen konnte, konnte er vielleicht durch die Drehwand entkommen, aber dort würden sie ihn sofort sehen. Außerdem rotierte die Wand so langsam, dass sie ihn erwischen würden, bevor er sich hindurch drücken konnte. Er musste sich also verstecken. Aber wo?

Da fiel Oliver die Lösung ein. Es gab nur einen Ort, an den Lucas nicht gelangen konnte. Armandos geheimer Arbeitsraum. Das einzige Problem an der Sache war, dass auch Oliver nicht wusste, wie er hineinkommen sollte. Aber einen Vorteil hatte er doch: Er war ein Seher. Er hatte Kräfte, über die Lucas nicht verfügte. Vielleicht konnte er die Stahltüre Kraft seiner Gedanken öffnen!

Während er zu dem geheimen Raum rannte, hörte er immer noch die beiden Männer hinter sich. Die Stahltür kam in Sicht. Oliver wusste, dass man sie nicht aufzwingen konnte. Leider wusste er über seine geheimen Kräfte noch nicht genug, um sie zielsicher einzusetzen. Er musste es einfach versuchen.

Oliver konzentrierte sich mit aller Macht auf seine Energie. Er spürte, wie ihm immer wärmer wurde. Dann richtete er seine Gedanken auf die riesige Tür und stellte sich genau vor, wie sie sich öffnete. Doch es geschah nichts. Auch als er näher herankam, tat sich nichts.

Oliver hörte, dass die Männer ihm dicht auf den Fersen waren. Erschrocken sah er sich um. Zusammen mit Lucas erschienen sie jetzt am Ende des Ganges.

Dort blieben sie stehen. Überrascht stellte er fest, dass Horatio sich ihnen Zähne fletschend in den Weg gestellt hatte. Er knurrte laut und bedrohlich.

Sofort konzentrierte Oliver sich wieder auf die Tür. Mit klopfendem Herz und knirschenden Zähnen stemmte er sich in Gedanken gegen den Stahl. Er schob und drückte, ohne sie wirklich zu berühren. Gerade als er aufgeben wollte, hörte er ein lautes Knarren. Das Metall begann, nachzugeben.

Oliver ließ nicht locker und plötzlich flog die Tür auf.

Ohne zu zögern stürmte er in den Raum und ließ die Tür hinter sich zuknallen.

Er konnte es nicht fassen. Er hatte es wirklich getan!

Er war noch immer in Panik. Er hatte kaum Zeit sich zu freuen oder sich an diesem geheimnisvollen Ort umzusehen. Er sah aber, dass er eine gewölbte Decke hatte und ein paar Stufen auf eine niedrigere Ebene hinabführten. Dort war ein Geländer wie ein Zaun angebracht. Dahinter bot sich ihm der seltsamste Anblick, den Oliver sich vorstellen konnte:

Ein wirbelnder Ring aus schwarzem und violettem Nebel. Es erinnerte ihn an das Aufnahmegerät aus der Vogelperspektive, das Armando gebaut hatte, nur dass es viel – viel – größer und rätselhafter war. Die fließende Substanz wirkte fast wie eine Wolke oder wie das Innere eines Wirbelsturms.

Ein Blitzt zuckte durch den Ring.

Oliver ging staunend auf eine Seite des Geländers und bewunderte das unerklärliche Gebilde. Was mochte es nur sein?

Plötzlich ertönte ein lautes Donnern an der Stahltür. Die Wachmänner versuchten wahrscheinlich, die Tür einzuschlagen. Es klang, als würden sie es mit Metallstangen versuchen. Oliver fragte sich, wie lange die Tür noch standhalten würde. Es war schließlich durchaus möglich, dass seine Kräfte die Tür geschwächt hatten. Vielleicht hatte er nur noch wenige Augenblicke Zeit, um sich zu überlegen, wie es weitergehen sollte.

Oliver starrte in das Auge des düsteren Strudels. Er wusste nicht warum, aber plötzlich fielen ihm wieder Armandos Worte ein. Er hatte von Schicksal und Zeit geredet. Oliver wurde das Gefühl nicht los, dass es mit diesem merkwürdigen Gebilde zu tun hatte. Es war majestätisch anzusehen, eine Erfindung mit erschreckend magischen Eigenschaften.

Die Geräusche an der Tür wurden lauter. Oliver blickte über die Schulter. In der Mitte der Tür zeigte sich bereits eine riesige Delle. Sie würden schneller in diesen Raum eindringen, als er es für möglich gehalten hatte.

Er hatte keine Zeit mehr zu verlieren. Schnell kletterte er über das Geländer und ging einmal um den schwarz-violetten Strudel herum. Er suchte nach einer Erklärung, was diese Erscheinung verursacht hatte und wozu Armando sie gebrauchen wollte.

Schließlich sah er einen großen Schalter an der Wand, ein riesiger, roter Auslöser, wie man ihn sich bei einer Atomwaffe vorstellte. Ihn zu betätigen war wahrscheinlich das letzte, was er tun sollte, aber sein Instinkt war es, genau das zu tun.

Er rannte hinüber, gerade als die Stahltür den ersten Spalt nachgab. Er konnte bereits Hände sehen, die versuchten, hineinzugreifen. Ein riesiges Brecheisen erschien. Nicht mehr lange und sie würden eindringen.

Ohne noch einmal darüber nachzudenken, schlug Oliver mit der flachen Hand auf den roten Schalter.

Sofort drehte sich der violette Wirbel noch schneller. Aus dem Inneren drang ein tickendes Geräusch, nicht wie das Ticken einer Bombe, sondern eher wie das gleichmäßige Ticken einer Uhr. Eine gigantische Uhr. Es wurde lauter und immer schneller. Plötzlich war ein Bildschirm zu sehen, der zuvor in der Dunkelheit verborgen war. Eine Reihe von Zahlen leuchtete rot auf. Schnell begriff Oliver, worum es sich dabei handelte – Jahr, Monat, Tag, Stunde, Minute, Sekunde. Und sie zählten rückwärts!

Da fügte sich in Olivers Kopf alles zusammen: Armando hatte gesagt, dass er an die Zeit denken musste. Dieser Wirbel war eine Zeitmaschine! Olivers Bestimmung, sein Schicksal, die Menschheit zu retten, begann damit, dass er in die Vergangenheit reisen musste!

Schon sprang die riesige Stahltüre hinter ihm krachend auf. Die Männer stürmten herein. Mit ausgestreckten Armen stürzten sie auf Oliver zu.

Oliver sprintete auf den Wirbel zu. Nur wenige Zentimeter trennten die Wachmänner von seinem Körper. Mit ein paar letzten kräftigen Schritten stieß er sich ab und sprang mit dem Kopf voran in den Wirbel.

Er spürte, wie ihn jemand am Fuß packte, doch es war zu spät. Der Sog der Zeitmaschine hatte ihn bereits erfasst. Olivers Hosenbein rutschte dem Mann aus den Fingern und Oliver glitt über die Schwelle.

Jetzt trennte ihn nichts mehr von dem rauschenden Violett. Das letzte, was Oliver sah, bevor er die Augen fest zupresste, war ein greller, zuckender Blitz.

So kam es, dass Oliver Blue sich vor den Augen der Männer einfach in Luft auflöste.

TEIL ZWEI

KAPITEL ZWÖLF

Langsam öffnete Oliver die Augen.

Er stand in demselben Raum, in dem er noch vor wenigen Sekunden vor dem violetten Wirbel gestanden hatte, doch der war jetzt verschwunden. Alles, was davon übrig war, war ein Ring aus Rauch, der sich nach und nach im Raum auflöste. Auch Lucas und die Wachmänner waren nirgends zu sehen.

Eine Sekunde später gab es eine Explosion. Ein Feuerball flog in die Luft, dichter, schwarzer Rauch hüllte den Jungen ein. Oliver wurde von einer unsichtbaren Macht nach hinten geschleudert. Er prallte gegen die Wand und sein Kopf dröhnte vor Schmerz.

Kleine Sternchen blinkten vor seinen Augen im dichten Qualm. Er konnte kaum atmen.

Oliver war nicht sicher, wie lange er dort auf dem Boden gelegen hatte, aber irgendwann begann sich die Luft um ihn herum wieder zu klären.

Erst jetzt wurde ihm das volle Ausmaß bewusst. Die Zeitmaschine war verschwunden. Sie war nicht nur beschädigt, sondern weg, als hätte sie nie existiert.

Die Einzelteile der Maschine lagen um ihn herum auf dem Boden verstreut. Darunter befanden sich auch die Scheiben, die seine momentane Zeit wiedergaben. Sie erinnerten Oliver an die Holzscheiben, auf denen bei einem Baseballspiel die Punktzahl angezeigt wird.

Sie zeigten ‚1944‘.

Blinzelnd sah er sich um. War er wirklich in die Vergangenheit gereist? In das Jahr 1944? Und war sein einziger Weg zurück ins Jetzt gerade in Rauch aufgegangen? Bedeutete das etwa, dass er für immer in der Vergangenheit festsaß?

Langsam hievte er sich auf die Beine und ging vorsichtig zur Tür. Sie war nicht mehr aus Stahl, sondern aus schwerem, dunklem Eichenholz.

Unsicher, was ihn auf der anderen Seite wohl erwarten mochte, drückte er den Griff. Sofort gab die Tür nach. Jede Faser seines Körpers war zum Zerreißen Angespannt. Was wartete erwartete ihn wohl auf der anderen Seite?

Der Anblick ließ Olivers Atem stocken. Anstatt der gewundenen Gänge eines Kaninchenbaus, stand er an der Schwelle zu einer riesigen, offen angelegten Lagerhalle. Dort sah es aus wie in den Werkräumen der Fabrik, in denen er am Tag zuvor mit Lucas gearbeitet hatte, nur um ein Vielfaches größer.

Die Halle vibrierte vor Geschäftigkeit. Überall waren Leute bei der Arbeit. Sie schleppten Papierrollen und Holzplanken durch die Halle und trugen helmartige Hüte und hohe Stiefel. Dampfmotoren rumorten, hydraulische Mechanismen zischten. Alles war auf Hochglanz poliert!

Dieselben Maschinen, die in Armandos Fabrik vor sich hin rosteten, funkelten hier unter langen Leuchtröhren. Die Maschinen sahen nagelneu und prunkvoll aus, fast als wären sie nicht aus Kupfer, sondern aus Gold gefertigt. Die hohen Fenster der Fabrik, die Oliver nur mit Brettern vernagelt gesehen hatte, waren jetzt offen und ließen das Sonnenlicht einfallen. Der Dielenboden war glänzend poliert, anstatt der stumpfen, staubigen Farbe, wie Oliver sie kannte, leuchteten sie hier in freundlichem Kastanienbraun.

Eine Gruppe von Arbeitern war auf verschieden großen Leitern gerade dabei, einen mechanischen Koloss mit Schraubenziehern und anderen Werkzeugen zu bearbeiten. Alle trugen den gleichen dunkelblauen Overall, den auch Oliver trug. Wie Armando erwähnt hatte, war das die Uniform der Fabrikarbeiter.

„Aus dem Weg, Kleiner!“, rief eine laute Männerstimme. Oliver sprang zur Seite und sah, wie zwei Männer einen großen Stahlträger nur knapp an seinem Kopf vorbei bugsierten.

Er starrte ihnen begeistert hinterher, bis sein Blick an einem anderen, sehr vertrautem Gesicht haften blieb.

„Armando…!“, rief Oliver fassungslos.

Der Wissenschaftler sah ganz genau so aus, wie auf dem Foto in Olivers Buch.

Siebzig Jahre jünger mit dem frischen, makellosen Gesicht eines Zwanzigjährigen. Er trug sogar das gleiche lockere Baumwollhemd und die dunkle Cordhose wie auf dem Bild, der gleiche weiße Kittel, der gleiche Werkzeuggürtel. Nur sein Gehstock fehlte.

Oliver konnte seinen Augen kaum trauen. Er war wirklich in die Vergangenheit gereist! In eine Zeit, in der Armando noch am Leben war.

In das Jahr 1944.

Obwohl Schreck und Verwirrung noch tief saßen, war Oliver überglücklich, Armando zu sehen. Fröhlich warf er die Arme in die Luft und sprang vor Freude auf und ab.

„Armando! Armando!“, rief er quer durch die Halle, doch sein Stimme ging im Zischen und Rauschen der Fabrik unter.

Der Erfinder sah und hörte Oliver nicht. Er war zu beschäftigt damit, Schaltpläne und Schaubilder zu studieren, die vor ihm auf einem Tisch ausgebreitet waren. Zur Vergrößerung hatte er ein Monokel vor das Auge geklemmt.

Olivers Anwesenheit blieb jedoch nichtganz unbemerkt. Ein Junge, der neben Armando stand, starrte Oliver feindselig an.

Oliver erkannte ihn sofort. Diese blassen, hinterhältigen Augen hätte er überall wiedererkannt. Es war Lucas.

Als wäre Lucas ein Magnet, der ihn abstieß, ließ Oliver die Arme sinken und machte einen Schritt zurück.

Oliver beobachtete, wie der Junge an Armandos Ärmel zupfte, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Armando war so konzentriert, dass er ihm zuerst keine Beachtung schenkte. Als Lucas nicht nachgab, wandte Armando sich ihm schließlich doch zu. Aufgeregt sagte Lucas etwas zu dem jungen Erfinder, dann zeigte er auf Oliver.

Oliver schluckte, als sich Armando suchend in der Fabrik umsah. Er sah verwirrt aus. Schließlich trafen sich ihre Blicke. Oliver hätte vor Enttäuschung weinen können. Es war eindeutig, dass Armando ihn nicht wiedererkannte. Dieser junge Armando wusste nicht, wer Oliver war.

Seine Freude verpuffte.

Plötzlich spürte er, wie sich große Hände um seine Oberarme legten. Er blickte auf – erst nach links, dann nach rechts – und sah sich von zwei Aufsehern eingekesselt. Sie hielten ihn fest.

„Das ist Privatgrund“, sagte der eine.

„Wie bist du hier hereingekommen?“, fragte der andere.

„Das ist eine lange Geschichte“, piepste Oliver und schluckte schwer. „In etwa siebzig Jahren wird…“

Die Männer sahen sich kurz an und ohne ein weiteres Wort begannen sie, ihn durch die Halle zu schleifen.

„Wartet! Nein! Wartet!“, protestierte Oliver und versuchte sich gegen die Männer zu wehren. Doch es war zwecklos. Sie waren viel stärker als er.

Oliver blickte noch einmal über die Schulter zu Armando.

„Armando! Hilfe! Armando, ich bin‘s! Oliver!“

Doch Armando hatte sich bereits wieder an die Arbeit gemacht. Nur Lucas beobachtete weiterhin die Szene. Seine blassen Augen leuchteten wie die eines Adlers und auf seinen Lippen zeichnete sich ein teuflisches Grinsen ab.

Oliver wurde zum Eingang gezogen und durch die geöffnete Tür hinausgeworfen.

Er fiel auf den Boden und sofort krachte die Tür hinter ihm ins Schloss. Wie ein Häufchen Elend blieb er liegen. Dann hob er den Kopf.

Zum ersten Mal seit er die Fabrik betreten hatte, war er wieder unter freiem Himmel. Nur dass dies nicht der gleiche Ort war, von dem aus er die Fabrik betreten hatte.

Langsam richtete er sich auf. Er klopfte sich den Staub von seinem Overall und sah sich um. Nichts, was er hier sah, kam ihm auch nur im Entferntesten bekannt vor. Das war nicht mehr die Welt, die er kannte.

Er war an irgendwo anders gelandet.

Nicht irgendwo, dachte er, sondern irgendwann.

Возрастное ограничение:
16+
Дата выхода на Литрес:
10 октября 2019
Объем:
321 стр. 3 иллюстрации
ISBN:
9781640296862
Правообладатель:
Lukeman Literary Management Ltd
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают