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Oliver ließ den Blick auf seinen Teller sinken. Wie immer, wenn er an Armando dachte, machte sich ein Stechen in seiner Magengegend breit.

Ralph warf Hazel einen warnenden Blick zu.

„Habe ich etwas Falsches gesagt?“, fragte Hazel verunsichert.

Oliver schüttelte den Kopf. „Nein. Es ist nur… mein Mentor ist leider gestorben.“

Die Kinder am Tisch sahen sich unsicher an.

„Tut mir Leid“, sagte Hazel.

„Das ist wirklich Pech“, sagte Simon und schüttelte traurig den Kopf.

„Ja, wirklich großes Pech“, fügte Walter hinzu.

Oliver hielt inne. Er versuchte, den dicken Kloß in seinem Hals hinunterzuschlucken.

Dann mischte sich Ralph ein. „Olivers Mentor ist gestorben, bevor er ihm erklären konnte, was er wirklich ist und warum er hierher kommen soll. Wir sollten besonders einfühlsam sein. Und mutet ihm nicht zu viel auf einmal zu. Wir wollen nicht, dass sein Kopf explodiert.“

Oliver war dankbar, dass Ralph sich so für ihn einsetzte. Auch wenn der einzige Grund, dass sein Kopf explodieren könnte, bisher Ralphs Erklärungen waren.

Hazel tätschelte Olivers Hand. „Das muss sehr schwer für dich gewesen sein. Aber du wirst hier viel lernen und eine Menge Spaß haben. Ich verspreche dir, dass das der richtige Ort für dich ist!“

Walter grinste. „Hast du schon die Sporthalle gesehen?“

Oliver nickte.

„Wir sollten nach dem Essen eine Runde Switchit spielen“, schlug er vor.

„Das ist so einfältig“, wand Simon ein. „Cricket ist viel besser!“

„Gar nicht! Switchit ist super!“, rief Walter. „Ich kann gar nicht genug davon bekommen! Es ist wie Basketball mit ganz vielen Körben! Dabei fliegt man auf Straußlern.“

„Was ist ein Straußler?“, fragte Oliver.

„Ein Tier aus dem dritten Jahrtausend“, erklärte Hazel. „Eine Paarung von Straß und Adler.“

„Wow“, sagte Oliver beeindruckt.

„Ich glaube kaum, dass wir vor dem Schlafengehen noch Zeit für Switchit haben, Walter. Du weißt selbst, wann wir ins Bett müssen“, sagte Ralph wieder in seiner lehrerhaften Art.

Walter rollte die Augen und konzentrierte sich wieder auf das Essen.

Auch Oliver wandte sich wieder seinem Teller zu und steckte sich eine Scheibe Salami in den Mund. Dabei stellte er fest, dass ein Kind auf einer Ebene unterhalb zu ihm hinaufsah.

Es war ein hübsches Mädchen mit leuchtend grünen Augen und glatten schwarzen Haaren. Sie lächelte ihn schüchtern an und aß dann weiter.

„Das ist Esther“, sagte Hazel. „Alle Jungen lieben sie“, sagte sie und schlug sich theatralisch eine Hand auf die Brust.

Auch Oliver fand, dass sie sehr liebenswert aussah. Er hätte gerne mehr über sie erfahren, aber nach Hazels Reaktion beschloss er, besser nicht weiter über sie zu reden. Vielleicht war sie eifersüchtig auf Esther, auch wenn sie selbst ein sehr hübsches Mädchen war mit ihren hellgrauen Augen und ihren sanften blonden Haaren. Oliver konnte sich gut vorstellen, dass auch sie von einigen Jungen geliebt wurde. Was ihn betraf, fühlte er sich jedoch eher zu Esthers mysteriöser Schönheit hingezogen.

Plötzlich rauschte es über ihm und ein riesiger mechanischer Arm erschien, um die Teller und Schüsseln der Kinder einzusammeln. Schon drohte der Rest von Olivers Pizza vor ihm davonzufliegen. Schnell schnappte er ihn.

Der Tisch setzte sich in Bewegung und sank in die Tiefe, was in Olivers Bauch, der gerade zum ersten Mal seit Langem wieder richtiges Essen bekommen hatte, ein sehr unangenehmes Gefühl auslöste. Sobald sie unten waren, öffnete Ralph seinen Gurt und kam herüber zu Oliver.

„Wir sollten schlafen gehen“, sagte er. „Es ist Zeit.“

KAPITEL SIEBZEHN

Ralph begleitete Oliver durch die Halle. Wie üblich eilten überall Schüler umher. Aus der Schlafhalle kamen ihnen einige frisch und erholt aussehende Kinder entgegen, die jetzt auf direktem Weg zum Unterricht gingen. Sie sahen schon etwas älter aus, um die sechzehn Jahre vielleicht. Oliver nahm an, dass sie schon länger auf die Schule für Seher gingen.

Die kleine Gruppe, mit der Oliver gegessen hatte, ging um den großen Kapokbaum herum, direkt zur Schlafhalle. Davor standen einige Kinder, die Oliver neugierig ansahen.

„Das da ist Edmund“, sagte Hazel. „Ignorier‘ ihn einfach.“

Doch als sie näher kamen, wandte Edmund sich sofort an Oliver.

„Aha, ein Neuer“, sagte er laut zu seinen Freunden, die ebenso unfreundlich wirkten wie er. „Bestimmt ist das wieder so einer, der denkt, dass er der größte und mächtigste Seher von allen ist. Er sieht aber nicht aus, als wäre er der, auf den wir warten.“ Dann sah er Oliver direkt ins Gesicht. „Hey, du! Du siehst aus wie ein kleiner Popel! Nichts Besonderes, wenn du mich fragst.“

„Halt‘ doch einfach mal die Klappe, Edmund“, knurrte Ralph.

Er legte schützend den Arm um Oliver und ging einfach an Edmund vorbei.

„Ich wette, du bist Kobalt!“, rief Edmund ihm hinterher.

„Kobalt? Was ist das denn?“, fragte Oliver. „Soll das eine Beleidigung sein?“

Ralph schob ihn zügig weiter und Oliver war überrascht, dass es selbst hier an diesem magischen Ort Bullys gab.

Wenigstens verstand er nicht, womit sie ihn beleidigten.

„Einfach ignorieren“, sagte Ralph.

Doch Oliver bemerkte seinen verunsicherten Gesichtsausdruck. Das, was Edmund gesagt hatte, hatte Ralph beunruhigt. Oliver hatte plötzlich den Eindruck, dass Ralph ihm etwas verschwieg.

„Was meint er?“, fragte Oliver. „Gibt es etwas, das du mir nicht sagen willst?“

Ralph schwieg. Sie standen zusammen mit den anderen vor der Tür mit dem großen Z. Als das Z auf einmal weiß wurde, öffneten sie die Tür und strömten hinein. Ralph hielt Oliver zurück, bis Edmund verschwunden war.

„Okay, lass uns gehen“, sagte er dann.

Oliver folgte ihm. „Kannst du bitte meine Frage beantworten, Ralph?“, bat er. „Da ist doch etwas, das du mir verheimlichst.“

In dem Raum war es dunkel. Doch bei genauerem Hinsehen stellte Oliver fest, dass es eher ein Gang war, von dem Zahlreiche weiß schimmernde ovale Türen abgingen, die Oliver vorkamen wie Umkleidekabinen.

Wieder ging Ralph nicht auf Olivers Bitte ein.

„Nimm dir einen Schlafanzug von hier drüben“, erklärte er und öffnete eine Tür. Sie zischte und weißer Dampf strömte heraus.

Verwirrt griff Oliver hinein und holte einen merkwürdigen weißen Anzug heraus. Er erinnerte Oliver an Pyjamas, wie kleine Kinder sie hatten.

„Das soll ich anziehen?“

Ralph nickte. „Umziehen kannst du dich da hinten“, sagte er und zeigte auf einen weißen Vorhang.

„Danke“, murmelte Oliver.

Er konnte nicht verstehen, warum Ralph sich plötzlich so anders verhielt. Entweder war Kobalt eine schwere Beleidigung, oder es bedeutete etwas, das Ralph nicht sagen wollte. Er eilte hinter die Vorhänge und zog sich schnell um, dann wollte er wieder zu Ralph um ihm noch ein paar Fragen zu stellen. Der seltsame weiße Schlafanzug fühlte sich auf seiner Haut sehr kühl an, als hätte er einen Anzug aus Luft angezogen. Mit seiner Kleidung unter dem Arm eilte er zurück.

„Leg die ins Regal“, sagte Ralph sofort und schob Olivers Kleidung in die leere Kammer, aus der er den Anzug genommen hatte. „Sie werden für dich gereinigt, während du schläfst.“

Das Schlafen lief an dieser Schule genauso seltsam ab wie das Essen. Aber noch merkwürdiger fand Oliver, dass Ralph ihn so drängte.

„Bereit?“, fragte er und klang ungeduldig.

Oliver nickte. „Ja, aber kannst du mir bitte erklären, warum Edmunds Kommentar dich so aus der Bahn geworfen hat?“

Er sah, dass Edmund immer noch bei den anderen Kindern stand. Alle trugen die gleichen Schlafanzüge.

„Ach, nichts“, sagte Ralph.

Die nächste Tür öffnete sich und die Kinder strömten hindurch.

„Es ist ganz offensichtlich nicht nichts…“, begann Oliver und folgte den anderen.

Oliver blieben die Worte im Hals stecken, als er den Schlafsaal sah. Wie die anderen besonderen Bereiche erstreckte auch dieser sich über mehr als fünfzig Etagen. Er enthielt einzelne runde Glaszellen, die in Reihen angeordnet waren. Es war dunkel hier, bis auf das schwache weiße Glühen der einzelnen Zellen und einige Nachtlichter, die wie Schneeflocken durch die Luft schwebten.

„Wie kann das sein…?“, murmelte Oliver, der von diesem Anblick vollkommen hypnotisiert war. Als er sich umdrehte, sah er, dass Ralph sich bereits in die Schlange eingereiht hatte. Schnell stellte Oliver sich dazu.

Ganz vorne stand ein japanisch aussehender Junge, der schon etwas älter war. Er teilte den Kindern ihre Schlafkapseln zu. Es lief schnell und reibungslos ab, fast wie beim Militär. Der große Junge drückte einen Knopf und eine Kapsel öffnete sich. Sobald ein Kind hineingeklettert war, verschloss sich diese wieder und schwebte an ihren Platz. Schon war das nächste Kind an der Reihe.

Edmund stand jetzt ganz vorne. Er drehte sich um und suchte mit den Augen die Reihe ab. Als er Oliver sah, rief er, „Hoffe du kannst schlafen! Morgen kommt einiges auf dich zu!“ Dann stieg er in seine Schlafkapsel und zischte davon.

Oliver wandte sich an Ralph.

„Was meint er damit?“, fragte er. „Worum geht es hier eigentlich?“ Er war jetzt sehr verunsichert. Er hatte das Gefühl, dass es um mehr ging als die gewohnte Schikane fieser Mitschüler. Ralph verschwieg ihm etwas, da war er ganz sicher.

Hazel, die direkt vor ihnen stand, mischte sich ein. „Er meint einfach deine ersten Kurse“, sagte sie schnell. „Du weißt schon, neue Lehrer, neue Kinder, neuer Unterrichtsstoff. Er will dir Angst einjagen.“

Auch wenn Oliver ohnehin aufgeregt war, wie der nächste Tag für ihn laufen würde, spürte er, dass das nicht alles war, was Ralph und Hazel im Kopf hatten.

„Kommt schon“, versuchte Oliver es noch einmal. „Was passiert morgen?“

Mit jedem Kind, das in einer Schlafkapsel davonzischte, kamen sie dem Ende der Schlange näher. Oliver sah, wie Simon, der blasse Junge, in seine Kapsel stieg. Als nächstes war Walter an der Reihe. Sehr bald würde auch Oliver in seine Zelle klettern. Doch vorher musste er noch herausfinden, was auf ihn zukam.

Ralph seufzte. „Du wirst getestet.“

„Getestet?“ Oliver schluckte. „Wie?“

„Mach dir keine Gedanken. Du bestehst ohne Probleme“, sagte Hazel um ihn zu beruhigen.

Doch jetzt war Oliver noch aufgeregter.

„Ich muss einen Test bestehen?“, fragte Oliver. „Was passiert, wen ich nicht bestehe?“

Jetzt sah Ralph noch ernster aus. Er sah Hazel vorwurfsvoll an. Edmund hatte diesen Kommentar ganz sicher gemacht, um Oliver zu verunsichern. Jetzt war es Ralphs Aufgabe, ihn wieder zu beruhigen.

„Sie wollen herausfinden, was deine besondere Begabung ist“, erklärte Ralph.

„Okay…“, sagte Oliver.

„Aber…“, sagte Ralph.

Oliver schluckte.

„Es besteht eine Chance, dass du nicht bestehst. Professor Amethyst liegt mit seinen Vermutungen nicht immer richtig.“

Oliver spürte einen Stich in der Brust. „Du meinst, es kann sein, dass ich gar keine Kräfte habe?“

Ralph schüttelte den Kopf. „Doch, Oliver, du bist ein Seher mit besonderen Kräften, so viel steht fest. Aber es ist nicht ganz sicher, ob du Brom oder Kobalt bist.“

„Ich verstehe nicht…“, stammelte Oliver. „Brom und Kobalt sind Elemente. Was hat das zu bedeuten?“

„Es gibt zwei Arten von Sehern“, erklärte Ralph. Er klang, als hätte er Oliver bereits zu viel verraten. „Brom ist rot und Kobalt ist blau.“

Oliver wusste, dass das nicht alles war. „Wenn es nur darum geht, ob ich rot oder blau bin, warum bist du dann vorhin so blass geworden?“

„Weil Kobalt-Seher früher oder später auf die andere Seite wechseln“, sagte Ralph. „Sie nutzen ihre Kräfte für das Böse.“

Oliver war sprachlos. Sein Herz klopfte wild in seiner Brust. Ihm wurde schwindelig. Hazel, die plötzlich neben ihm stand, hielt ihn am Ellbogen fest, sonst wäre er vermutlich umgefallen. Sie sah besorgt aus.

„Ich bin sicher, dass alles gut sein wird“, sagte sie sanft. „Selbst wenn sich herausstellen sollte, dass du ein Kobalt-Seher bist, wirst du nicht einfach weggeschickt. Das würde nur heißen, dass du besonders vorsichtig mit deinen Kräften umgehen musst und lernen musst, wie du dem Bösen widerstehst.“

Die nächste Schlafkapsel öffnete sich und Hazel stieg hinein. Schon flog sie in die Dunkelheit und plötzlich war Oliver an der Reihe.

„Wir hätten dir das nicht sagen sollen“, sagte Ralph besorgt. „Du musst dich jetzt ausruhen. Morgen fühlst du dich bestimmt schon viel besser.“

„Ich kann jetzt keinesfalls schlafen!“, protestierte Oliver. „Was, wenn sich morgen herausstellt, dass ich ein Kobalt-Seher bin?“

Ralph sah niedergeschlagen aus. Olivers Furcht wuchs.

Der japanische Junge sah ihn an. „Du bist neu hier“, sagte er. „Ich bin Ichiro, Bewohner-Assistent, oder einfach BA. Aber jetzt ab in deine Schlafkapsel.“

Oliver rührte sich nicht. Er war kurz davor, vollends die Nerven zu verlieren. Die ganze Zeit hatte er über seine Kräfte nachgedacht und sich darüber gefreut. Nicht einmal war ihm der Gedanke gekommen, dass sie etwas Schlechtes bedeuten konnten. Das war einfach zu viel für ihn.

„Er ist ein bisschen aufgeregt“, sagte Ralph.

„Das sind wir alle am Anfang“, entgegnete Ichiro.

Er öffnete die Schlafkapsel und jetzt konnte Oliver zum ersten Mal einen Blick hinein werfen. Sie sah aus wie ein Sarg.

„Wenn du dich hinlegst, schließt du die weißen Sonden an deine Schläfen und klebst diesen herzförmigen Aufkleber auf deine Brust. Diese Klemme steckst du an deinen Zeigefinger, dann legst du dich auf den Rücken und drückst die weiße Taste“, erklärte Ichiro.

Er hatte schnell geredet und Oliver, der ohnehin vollkommen durcheinander war, hatte sich die Anweisung nicht gemerkt.

„Entschuldige… was soll ich mit diesem Aufkleber machen?“, murmelte er.

Doch anscheinend war keine Zeit für lange Erklärungen. Ichiro schob Oliver in die Schlafkapsel.

„Du wirst schon zurecht kommen“, sagte er und setzte Oliver auf die weiße Matte. „Nur die rote Taste darfst du nicht drücken, okay?“

Oliver zitterte. Er sah, wie Ichiro, Ralph und die anderen hinter der Glaswand verschwammen. Vielleicht hatte Ralph recht gehabt und Oliver hätte vor dem Schlafen besser nichts von diesen Dingen erfahren sollen. Jetzt war er auf jeden Fall noch nervöser. Auf keinen Fall würde er jetzt schlafen können!

Ichiro drückte auf eine Taste und panisch stellte Oliver fest, dass er bereits vom Boden abhob. Er war gefangen!

Oliver krallte sich an den Seiten fest. Er fühlte sich, als wäre er in der instabilsten Achterbahn der Welt gelandet. Oliver sah die Kabel und Sonden, an die er sich anschließen sollte, aber die Kapsel war so wackelig wie die Mülltonne, die ihn im Sturm durchgeschüttelt hatte. All die Regeln und die Sorge vor dem, was schiefgehen konnte, spukten ihm im Kopf herum.

Plötzlich blieb die Schlafkapsel stehen und alles wurde still. Oliver starrte den gläsernen Deckel an. Nach einiger Zeit fielen ihm wieder die Kabel ein, an die er sich anschließen sollte.

Er klebte den Herzaufkleber auf sein Herz und die Sonden an seine Schläfen. Dann steckte er den Finger in die Klemme und legte sich auf den Rücken.

Über ihm waren drei Tasten. Eine weiße, eine rote und eine blaue.

Rot oder blau. Brom oder Kobalt. Gut oder böse. Morgen würde er herausfinden, welcher Typ er war. Außerdem würde er endlich ein paar Antworten bekommen.

Oliver atmete tief durch. Es gab kein Zurück. Er streckte die Hand aus und drückte auf die weiße Taste.

Schon war er eingeschlafen.

KAPITEL ACHTZEHN

„Hast du gut geschlafen?“

Oliver blinzelte verwirrt. Er blickte in Ichiros Gesicht. Hatte der Junge ihn nicht vor wenigen Augenblicken erst in die Schlafkapsel geschoben? Zumindest fühlte es sich so an. Hinter Ichiro waren keine funkelnden Sterne mehr am Himmel, sondern weiches, warmes Tageslicht, wie an einem Frühlingsmorgen, leuchtete in Olivers Augen.

Überrascht setzte Oliver sich auf und rieb sein Gesicht. Er fühlte sich desorientiert und zog schnell die Sonden und den Aufkleber ab. „Es ist schon morgen? Aber wie kann das sein? Es fühlt sich an, als wäre keine Zeit vergangen.“

Ichiro kicherte. „Es gibt hier keine Nacht und keinen Morgen. Alles ist gemacht. Aber wenn du es so nennen möchtest, dann ist es jetzt morgen. Und das mit der Zeit… Nun, es ist nicht so einfach zu sagen, ob Zeit vergangen ist.“

Oliver hielt abwehrend eine Hand in die Luft. Ralph hatte ihn mit dieser Sache schon genug Kopfschmerzen bereitet. Jetzt wollte er jedenfalls nichts davon hören.

Er ergriff Ichiros ausgestreckte Hand und stieg aus.

Sofort kam seine Erinnerung an den Vorabend zurück. Heute, dachte er erschrocken, würde er herausfinden, ob er gut oder böse war. Was würde geschehen, wenn er wirklich ein Kobalt-Seher war?

Ichiro bemerkte Olivers Sorge.

„Entspann‘ dich, interdimensionaler Schlaf fühlt sich immer erstmal komisch an“, sagte er. „Du wirst dich schnell daran gewöhnen.“

„Das ist es nicht“, murmelte Oliver. „Heute werde ich getestet.“

„Interessant! Was glaubst du, was deine Begabung ist? Elektrisch? Oder elementar wie ich? Würde mich freuen noch einen Kumpel auf meinem Feld zu haben!“

„Darüber mache ich mir keine Gedanken. Ich habe Angst, dass ich vielleicht kein Brom, sondern ein Kobalt-Seher sein könnte“, flüsterte er.

Ichiro verzog das Gesicht. „Ich habe die Nase voll von dieser Schwarz-Weiß-Malerei! Mach dir doch keine Gedanken. Kobalt-Seher können auch Gutes tun! Und kenne ich Brom-Seher, die sich dem Bösen zugewendet haben. Genauso kann man behaupten, dass alle Soziopaten böse sind. Es ist einfach nicht wahr! Du bist ein guter Junge, Oliver. Ich sehe keinen Grund, warum du böse werden solltest, Kobalt, Brom oder sonst irgendwas!“

Nach diesen Worten fühlte Oliver sich wahnsinnig erleichtert. „Denkst du das wirklich?“, fragte er.

„Ich bin absolut überzeugt! Und ich sollte es wissen, ich bin nämlich ein Kobalt-Seher.“

Oliver war überrascht. Ichiro kam ihm kein bisschen böse vor – im Gegenteil! Und weggeschickt hatte man ihn auch nicht. So schlimm konnte es also gar nicht sein.

Vielleicht hatte Oliver sich ganz umsonst Gedanken gemacht.

„Deine Kleidung ist gereinigt und liegt bereit“, sagte Ichiro und klopfte Oliver auf die Schulter. „Ich wünsche dir einen tollen Tag!“

Oliver fiel ein Stein vom Herzen. Jetzt hatte er keine Angst mehr davor, getestet zu werden. Ganz und gar nicht! Nein, eigentlich war er sogar sehr neugierig darauf, mehr über seine Kräfte zu erfahren.

Er ging zurück in die Umkleidekabine, in der er am Abend zuvor seine Kleidung abgelegt hatte und hoffte, Ralph und Hazel, Simon und Walter bald wiederzutreffen. Und natürlich die schöne Esther.

Nur auf Edmund und seine Freunde konnte er gut verzichten.

Und tatsächlich waren Ralph und Hazel bereits im Umkleideraum. Hazel bürstete gerade ihre Haare und begann, sich wieder zwei Zöpfe zu flechten, wie sie sie am Vortag getragen hatte.

„Hi, Oliver! Hast du dich gut ausgeruht?“, fragte Ralph.

„Ich habe deine Kleidung schon abgeholt“, sagte Hazel und übergab Oliver seinen blauen Overall, der ordentlich zusammengelegt war und nach Lavendel duftete. „Und das hier soll ich dir auch geben.“

Sie hielt ihm ein durchsichtiges Rechteck aus Plastik hin.

„Dein Stundenplan“, sagte sie.

Oliver nahm die Scheibe und sofort erschien eine leuchtende Schrift darauf.

„Da steht, wann du wo sein sollst“, erklärte Hazel.

„Steht da auch, wann mein Test stattfindet?“, fragte Oliver.

Hazel zeigte auf ein paar Zahlen und Buchstaben. Der Test sollte also direkt im Anschluss an seinen Unterricht stattfinden. Sie lächelte in an. „Ich verspreche dir, es wird gut laufen.“

Oliver nahm ihr den Overall aus der Hand. „Ich weiß“, sagte er und ging zu einem der Vorhänge, um sich dort umzuziehen. „Ichiro hat mir gesagt, dass es gar nicht so wichtig ist.“ Er zog den Vorhang hinter sich zu und zog den merkwürdigen Schlafanzug aus. Es fühlte sich gut an, wieder seine eigene Kleidung zu tragen. Es war in dieser Schule das einzige, was sich wie sein Eigentum anfühlte, auch wenn er eigentlich aus Armandos Fabrik stammte. „Wenn er ein Kobalt-Seher ist, dann kann es gar nicht so schlimm sein“, rief er den anderen zu. „So wie ihr es beschrieben habt, klang es sehr dramatisch. Aber wenn ich mir Ichiro ansehe, können Kobalt-Seher gar nicht so böse sein.“ Kobalt, Brom oder sonst irgendwas, hatte Ichiro gesagt. Oliver fragte sich, ob es eine Redensart war, oder ob es wirklich noch weitere Kategorien gab.

Er steckte seinen Stundenplan in die große Hosentasche und ging zurück zu Hazel und Ralph. Inzwischen waren auch andere Kinder hinzugekommen, unter anderem Edmund und seine fiesen Freunde. Sie alle hatten Oliver gehört und jetzt sah Edmund ihn schief an.

„Hey, Vinnie! Hast du das gehört?“, sagte Edmund zu einem seiner Freunde. „Anscheinend ist es jetzt egal geworden, ob man Kobalt oder Brom ist!“

Vinnie lachte.

„Das kannst du dir ruhig einreden, wenn deine Ergebnisse da sind!“, rief Edmund Oliver zu.

Oliver spürte, wie seine Wangen rot wurden. Er schob sich an Edmund und Vinnie vorbei und stellte sich zu Ralph und Hazel. Insgeheim fragte er sich, warum sie ihm nicht gesagt hatten, dass sie nicht mehr unter sich waren. Er hatte nicht beabsichtigt, sich so schnell wieder in Edmunds Schusslinie zu begeben. In diesem Moment kam Walter in Sneakers und Cartoon T-Shirt hinter einem Vorhang hervor.

„Mann, Leute, freue ich mich auf eine Runde Switchit!“ Grinsend schlug er Oliver auf den Rücken. „Gut geschlafen?“

„Ja, danke“, sagte Oliver leise.

Simon kam in viktorianischer Kleidung dazu. Er sah aus, wie ein britischer Gentleman. „Einen wunderschönen guten Tag“, sagte er.

Schon öffnete sich die große Tür und alle Kinder strömten wie gewohnt sofort hinaus. Oliver ließ sich von der Menge mitreißen.

Sie gingen in den Speisesaal, setzten sich an einen Tisch und hoben ab. Oliver saß neben Hazel. Diesmal wurde ihm von der plötzlichen Aufwärtsbewegung nicht so flau im Magen. Schnell schnappte er sich eine ovale Schale mit Bananen und leuchtend bunte Pfannkuchen. Doch als er nach einem Glas Orangensaft griff, fiel sein Blick durch den Glastisch in die Tiefe. Unter sich sah er Edmund und Vinnie am Tisch sitzen. Als sie zu ihm aufblickten, sah Oliver schnell weg.

„Alles okay, Oliver?“, fragte Hazel. „Du machst dir doch keine Sorgen mehr um den Test, oder? Ich habe versucht dir zu sagen, dass es nicht so schlimm ist.“

„Nein, das ist es nicht“, sagte Oliver. „Es ist wegen Edmund. Ich habe einfach die Nase voll von Fieslingen. Ich dachte, dass es hier, an dieser besonderen Schule solche Typen nicht gibt.“

Hazel sah ihn mitfühlend an. „Beachte ihn am besten gar nicht. Ich weiß, wie du dich fühlst. An meiner alten Schule bin ich auch ständig geärgert worden.“

„Wirklich?“, fragte Oliver und fühlte sich noch stärker mit Hazel verbunden.

Sie nickte. „Als Seher ist man immer ein Außenseiter, selbst wenn man noch nichts von seinen Kräften weiß. Wahrscheinlich sind wir einfach schlauer als die anderen Kinder und das kommt nicht gut an.“

„Ich halte mich nicht für besonders schlau“, meldete sich Ralph zu Wort. „Schrecklichster Seher, den die Schule je gesehen hat – laut Dr. Ziblatt.“

Oliver musste daran denken, dass sein Unterricht bald beginnen würde. Er wurde nervös.

Als sie gegessen hatten, erschienen wieder die riesigen Arme, die alles wegräumten, bevor der Tisch wieder auf den Boden sank.

Die Kinder verließen den Speisesaal und gingen zum Atrium. Oliver hatte den Eindruck, dass heute noch mehr Schüler unterwegs waren als am Tag zuvor.

Ralph ging auf den Aufzug zu. Er ging mit großen Schritten vor seinen Freunden her und Oliver war froh, dass er ohne nachzudenken hinterhergehen konnte.

Oliver, Hazel, Ralph, Walter und Simon drängten sich in den Aufzug. Oliver fühlte sich in der Gegenwart dieser Kinder besonders wohl, auch wenn er sie noch nicht sehr gut kannte. Sie kamen zwar aus sehr verschiedenen Zeiten, aber durch ihre Kräfte waren sie miteinander verbunden. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte Oliver das Gefühl, richtige Freunde gefunden zu haben.

Sie fuhren einige Stockwerke nach oben und folgten dort Ralph durch einen Gang. Dann blieben sie vor einer Tür stehen. Zum ersten Mal seit seiner Ankunft betrat Oliver ein Klassenzimmer in der Schule für Seher.

Er wusste nicht recht, was ihn dort erwartete, aber er ahnte bereits, dass es kein normales Klassenzimmer war. Der Raum war rund, genau wie die Decke. Die Stühle waren hufeisenförmig um das Lehrerpult angeordnet, das sich auf einer Art Bühne befand. Dort stand eine Frau in weißem Kittel. Ihr braunes Haar und ihr freundliches Lächeln erinnerte Oliver sofort an Mrs. Belfry. Er fragte sich, wie es ihr wohl ging.

„Dr. Ziblatt ist eine tolle Lehrerin“, sagte Simon zu Oliver. „Sie ist die intelligenteste Frau, der ich je begegnet bin.“

Als sie sich setzten, bemerkte Oliver Esther, die ein paar Reihen weiter vorne saß. Sie wirkte zurückhaltend, als hätte sie keine Ahnung, dass alle Jungen in diesem Zimmer sie anhimmelten.

„Oliver“, sagte Ralph, „du solltest dich besser anschnallen.“

„Was? Warum?“

Ohne eine Antwort abzuwarten, nahm er den schwarzen Gurt, der an seinem Sitz baumelte, und schnallte sich an. Schon begann der Raum, sich zu drehen.

„Was passiert hier?“, fragte Oliver, der jetzt bereute, die neonfarbenen Pfannkuchen gefrühstückt zu haben.

Walter, Simon, Ralph und Hazel verschwammen vor seinen Augen, so schnell drehte sich der Raum.

Dann wurde alles wieder klar. Gestochen klar.

„Alles okay, Oliver?“, fragte Ralph grinsend.

Oliver blinzelte. „Ich denke schon.“

„Zentrifugale Drehbewegung“, erklärte Hazel. „So können wir leichter auf unsere Kräfte zugreifen. Aber zuerst muss man dieses schwindelige Gefühl loswerden. Keine Sorge, es wird bald besser.“

„Heißt das, wir drehen uns immer noch?“, fragte Oliver überrascht.

„Ja“, sagte Walter enthusiastisch. „Cool, oder?“

Dr. Ziblatt wandte sich an die Klasse. „Hallo Kinder, heute werden wir uns wieder der dimensionalen Sicht zuwenden. Wer kann noch einmal zusammenfassen, was das ist?“

Oliver staunte, als so gut wie alle Hände in die Höhe schossen. Die Schule für Seher war vollkommen anders als die Campbell Junior High. Diese Schüler hier wollten wirklich etwas lernen. Selbst Edmund und Vinnie meldeten sich. Wenigstens würde ihn hier niemand als Streber bezeichnen.

Dr. Ziblatt sah sich in der Klasse um. „Miss Valentini“, sagte sie und zeigte auf Esther.

Oliver sah zu, wie die atemberaubend schöne Esther aufstand. Ihr schwarzes Haar schimmerte im Licht. „Als dimensionale Sicht bezeichnet man die Fähigkeit, aus seiner eigenen Dimension direkt in die nächste zu sehen.“

Ihre Stimme klang melodisch wie eine Komposition. Olivers Herz machte einen Sprung.

„Vielen Dank“, sagte Dr. Ziblatt. „Wenn wir uns also Dimensionen vorstellen, wie Glasplatten, die direkt übereinander liegen, dann laufen die Dimensionen sozusagen parallel zueinander ab. Eine neben der anderen, unendlich viele. Als Seher ist es wichtig, alle diese Dimensionen einsehen zu können, da die Informationen in den verschiedenen Schichten absolut essenziell sein können für die Entscheidung, die man in dieser bestimmten Dimension treffen muss. Jeder Moment in jeder Dimension kann von einem Seher eingesehen werden, sofern man es gründlich gelernt und trainiert hat.“

Oliver war begeistert. Alleine die Vorstellung, verschiedene Dimensionen sehen zu können, löste eine ganze Reihe neuer Fragen aus.

„Können wir auch in die Vergangenheit sehen?“, fragte er gespannt.

„Ja“, sagte Dr. Ziblatt. „Wenn man es übt.“

„Dann könnte ich zum Beispiel echte Dinosaurier sehen?“

„Ja. Mit viel Übung kannst du sogar durch die Zeit reisen und ihnen persönlich gegenüberstehen.“

„Wow“, flüsterte Oliver.

Dr. Ziblatts Mundwinkel kräuselten sich zu einem Lächeln. „Du bist bestimmt neu bei uns, oder? Wie heißt du?“

„Oliver Blue.“

Normalerweise hätte er sich nie freiwillig vor so vielen Kindern zu Wort gemeldet. Aber hier, in der Schule für Seher, war alles anders. Er fühlte sich, als würde er an diesen Ort gehören.

„Oliver Blue, komm doch bitte nach vorne und wir finden heraus, ob du in die nächste Dimension sehen kannst.“

Sofort stand er auf. Obwohl er nervös war, hatte er kein bisschen Angst. Schnell ging er nach vorne und schüttelte Dr. Ziblatts Hand. „Die anderen haben diese Übung schon gemacht, aber ich möchte gerne sehen, wo du stehst.“

Sie gab ihm eine Schutzbrille und Oliver musste sofort an die Brille denken, die Armando ihm in der Fabrik gegeben hatte. Diese hier sah ganz ähnlich aus, nur dass an der Seite zwei Elektroden befestigt waren. Sie erinnerten Oliver an die Sonden, die er zum Schlafen an seinen Kopf angeschlossen hatte. Dr. Ziblatt drückte sie an seine Schläfen und sofort erschien hinter ihm ein Hologramm, das zeigte, was Oliver sah.

Возрастное ограничение:
16+
Дата выхода на Литрес:
10 октября 2019
Объем:
321 стр. 3 иллюстрации
ISBN:
9781640296862
Правообладатель:
Lukeman Literary Management Ltd
Формат скачивания:
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