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JO

Kann man sich in so etwas einleben? Kann man in einem bis eben noch unvorstellbaren Irrsinn heimisch werden? Die Antwort ist: „Ja“. Wenn die ersten Tage, das erste Entsetzen, überstanden sind, beginnt die Anpassung.

In meinem Fall bedeutete das nach einer Weile allerdings nur noch, dass ich nun gänzlich hemmungslos in den Tag hineinlebte. Ich stand auf, wenn ich es auch beim dritten Umdrehen nicht mehr schaffte, in die Bettschwere zurückzusinken. Ich schlurfte nach unten in die Küche, trank einen Kaffee, den Sonja meist schon bereitet hatte, suchte mir irgendein Frühstück aus den Konserven und haltbaren Lebensmitteln in unserem Vorrat zusammen, ging runter zur Dhünn, wusch mich und begann mein Tagwerk. Das bestand meist darin, ziellos durch Schlebusch zu streifen. Ich vermied es, Wohnungen oder Einfamilienhäuser zu betreten, und trieb mich meist in den Geschäften herum. Wir hatten schnell gelernt, dass es fast immer einen besseren Zugang gab als die Zerstörung der Eingangstür oder des Schaufensters. Oft war es ein Lichtschacht oder ein Kellerfenster, häufig auch der Zugang über eine Garage oder ein Parkhaus. Wir begannen, die Tatsache als glücklichen Umstand zu betrachten, dass der Moment X offensichtlich vor der Öffnung der Geschäfte gelegen hatte, aber spät genug, dass die inneren Zugänge für das Personal meist schon offen waren. So stromerte ich also von Laden zu Laden, selten auf der Suche nach etwas Konkretem. Aber ich fand immer irgendetwas, das ich mit nach Hause bringen und Sonja stolz präsentieren konnte. Die meiste Zeit verbrachte ich in einer Buchhandlung, ganz in der Nähe unserer Villa. Zu dem Laden gehörte nützlicherweise ein kleines Café, und ich tötete viel Zeit, indem ich mir im Ladenlokal ein Buch aussuchte, mich an eines der Tischchen setzte, mir eine Bionade aus dem Kühlschrank nahm und las. Irgendwann waren die Flaschen im Café alle, also begann ich, sie von anderswoher mitzubringen. Das fiel unter „Abwechslung“.

In der Buchhandlung hatte ich mir auch meine ersten drei Notizbücher besorgt – ein blaues, ein rotes und ein schwarzes. Ich bin Schriftsteller, und nun erwies sich, dass ich nicht aufhörte, einer zu sein, nur weil das potenzielle Publikum sich gegen null bewegte. Im Gegenteil. Weil ich niemandem mehr irgendeine Zeile schuldete, wurde der Drang zu schreiben wieder so groß, wie ich ihn seit Jahren nicht gekannt hatte. Ich begann also, in die Notizbücher zu schreiben. Das blaue wurde eine Art Tagebuch. An fast jedem Abend, manchmal auch tagsüber, schrieb ich die wichtigsten Ereignisse des Tages auf. Das war selten besonders viel, den meisten Raum nahmen Gespräche mit Sonja oder meine inneren Monologe ein. Anfangs zumindest. Denn ich führe meine blauen Notizbücher bis heute. Es sind viele geworden, fast alles, was ich in diese Erzählung schreibe, entnehme ich daraus. Und es ist nicht bei Streifzügen durch Leverkusen, einsamen Selbstgesprächen und Diskussionen im Kaminzimmer der Villa Wuppermann geblieben.

Oh nein.

Das rote Notizbuch füllte ich, in Erinnerung an Paul Austers Red Notebook, mit Erinnerungen an Kuriositäten von früher. Der erste Eintrag beschäftigte sich mit dem Fakt, dass es dermaßen viele Menschen gab, dass in jeder auch nur mittelgroßen Stadt mehrere Matratzenläden überleben konnten. Hin und wieder schreibe ich auch eine Kurzgeschichte über irgendeine Banalität aus der Zeit vorher. Ich weiß nicht, ob wir überleben werden, wir Menschen, meine ich, und wenn ja, wie lange. Aber ich stelle mir gerne vor, dass kommende Generationen noch in Abschriften des roten Notizbuchs blättern und sich über die seltsamen Geschichten und Anekdoten aus einer vergessenen Zeit wundern werden, wenn ich lange vergessen bin.

Das schwarze Notizbuch schließlich ist mein Buch der Spuren. Sonja und ich haben uns früh geschworen, herauszufinden, was wirklich passiert ist. Wir waren sicher, dass es Spuren und Hinweise geben müsste, und ich wollte diese Hinweise in meinem schwarzen Buch festhalten. Zunächst enthielt es aber nur theoretische Überlegungen und ein paar quasi-philosophische Abhandlungen. Die wirklichen Spuren kamen später dazu.

Wenn mein Weg mich auf meinen Streifzügen nicht in Geschäfte, Arztpraxen, die Klinik oder Restaurants führte, ging ich gerne in die St. Andreaskirche am Ende der Fußgängerzone. Die Leere hier war eine Erinnerung an früher. Ich hatte häufig Kirchen besucht, aber nur, wenn gerade kein Gottesdienst stattfand. Ich war nicht besonders gläubig gewesen, aber da war es fast immer menschenleer und still. Orte der Ruhe. So war es hier auch. Diese Stille unterschied sich nicht von der Stille vorher. An jemanden oder etwas, das so direkt und drastisch in das Weltgeschehen eingriff, wie wir es erlebt hatten, hatte ich nie geglaubt. Die beiden Latten oder der arme Kerl, der an ihnen hing, konnten gewiss nichts dafür.

Eine bösartige Häme hingegen empfand ich gegen die Politik, die mit der Menschheit verschwunden war. Das war unfair. Wäre eine der Katastrophen eingetreten, vor denen Sonja sich gefürchtet hatte, eine aus dem Gleichgewicht geratene Natur oder politische Unruhen, dann hätte man den Politikern zurufen können: „Seht ihr, ich hab’s euch ja gesagt!“ Aber es war etwas anderes geschehen, und daran konnte man schwerlich der Politik die Schuld geben. Dennoch tobte ich meine neue Überlegenheit aus, und in allererster Linie hätten die Grünen darunter leiden müssen, wenn es denn noch Grüne gegeben hätte, um sich darüber zu ärgern. Denn die Geschäftsstelle der Grünen in Leverkusen lag schräg gegenüber der Villa Wuppermann. Ich musste also nur über die Straße gehen und konnte unter hämischem Gelächter Parteiprogramme und Pressemitteilungen lesen, von der kleinen Bühne zynische Reden an die nicht anwesende Lokalpolitik halten oder die Wände mit lästerlichen Graffitis beschriften. Was ich tatsächlich auch ausgiebig tat. Eines Morgens, in der dritten oder vierten Woche nach der Party, entdeckte ich einen Stapel Plakate von der letzten Wahl und einige Packungen Kleisterpulver. Den Rest des Tages verbrachte ich damit, die Plakate überall in Schlebusch anzukleben und mit Edding Kommentare darauf zu schreiben, in der Regel auf dem Niveau von „Ätsch!“ oder „Hahaha!“.

SONJA

Die Plakate schockierten sie. Sonja hatte gemerkt, dass sich mit dem Einzug in die Villa etwas zwischen Jo und ihr verändert hatte. In den ersten Tagen ihrer Freundschaft war er ihr Halt gewesen, sie war ganz sicher, dass er sie gerettet hatte. Sie hatte ihn mit einem Zwiebeltopf beworfen, und dafür hatte er ihr die Hand gereicht, sie hochgezogen und ihr neuen Lebensmut gegeben. Und mit ihrer Wohnung hatte sie auch ihre Verzweiflung hinter sich gelassen. Sicher – es gab immer noch schwarze Momente, manchmal dauerten sie Stunden, manchmal ganze Tage. Aber immer gab es etwas zu tun, etwas zu bereden, Pläne zu machen. Sie sprachen viel, erzählten sich ihre Leben, es gab die großen Abende, die unvergesslichen. Die, an denen sie Schlagzeug spielte und er einfach lauschte – oder versuchte zu singen. Wenn er Bücher mitbrachte und ihr vorlas – Privatlesungen nur für sie. Wenn sie füreinander kochten. Wenn sie sich betranken, mit Whisky, Gin oder Absinth aus Flaschen, die früher jedes Budget gesprengt hätten – er kannte die erstaunlichsten Geschäfte. Wenn sie ihre Suche nach der großen Wahrheit konzipierten. In solchen Nächten konnte sie selbst ihr Abendgebet voll Optimismus verrichten und glaubte irgendwo, ganz weit im Hintergrund, dass doch alles gut würde. Und ein Grund, aus dem sie daran glaubte, war Jo. Der Druck des Unbegreiflichen hatte ihre Freundschaft verdichtet, und nichts war gebrochen, es war ein Diamant daraus geworden.

Aber mit ihrem Freund ging es bergab. Anfangs hatte er sich Aufgaben gesucht, wie sie selbst, auch wenn es egal war, wann man etwas machte, auch wenn alles herumlag und man es sich einfach nehmen konnte. Er hatte in der Buchhandlung herumgeräumt, er hatte seine Notizbücher gefüllt, er war mit seinem Motorrad weite Strecken gefahren, um mit irgendwelchen exotischen, aber entweder nützlichen oder beglückenden Mitbringseln nach Hause zu kommen. Doch nach und nach war das weniger geworden. Jo schaffte es nicht, sich ein Gerüst aus Routinen zu bauen, so wie sie, einen Rahmen, der half, die endlosen Tage zu füllen. Er fuhr kaum noch herum, er sammelte das Nötigste und zog ansonsten brütend durch Schlebusch, selbst in die Buchhandlung ging er immer seltener. Er rasierte sich nicht mehr, und offenbar wusch er sich immer seltener. Sein Zimmer roch wie ein Raubtierkäfig. Er würde krank werden, körperlich, sie fürchtete, dass er geistig schon bröckelte. Neuerdings hörte sie ihn drüben, bei den „Grünen“, laute Selbstgespräche führen. Und heute Morgen, als sie zu Aldi gegangen war, weil der Zucker fehlte – eigentlich eine seiner Aufgaben –, hatte sie die Plakate gesehen und erkannt, dass es jetzt an ihr war, ihn zu retten.

Sie kochte Kaffee und wartete. Der Duft füllte die Villa und lockte ihn aus seinem Zimmer, er kam herunter, tappte in die Küche, verschlafen, nur mit Shorts und T-Shirt bekleidet, die Haare wirr, Flusen von seinem Kopfkissen im struppigen Bart. Er roch wie ein Puma. Sie betrachtete ihn nachdenklich, während er sich den Kaffee eingoss, eine Schale nahm, Müsli hineinfüllte, Milch hineingab und dann automatisch zu rühren begann. Irgendwann schien Jo aufzufallen, dass sie immer noch nichts gesagt hatte, er schaute sie erstaunt an.

„Morgen. Is was?“

„Morgen“, sagte sie, und rührte mechanisch in ihrer eigenen Tasse. „Sag mal“, begann sie vorsichtig, „Das warst du, mit den Plakaten?“

„Klar“, sagte er leichthin. „Wer denn sonst? Wann haste die denn gesehen?“

„Ich war heute Morgen beim Aldi. Zucker war alle.“ Er reagierte nicht, und Sonjas Besorgnis wuchs. Aufgaben auf sie abzuschieben war nicht seine Art. Vergessen, ja. Aber vergessen, dass er dafür zuständig war und entsprechend zerknirscht zu reagieren, nicht. „Dir ist ganz schön langweilig, oder?“

„Na ja“, Jo lachte. Dann veränderte sich sein Gesichtsausdruck, und das Lachen erstarb. „Ja. Fürchterlich. Ich habe mir schon verboten, öfter als alle zwei Tage zur Buchhandlung zu gehen, damit ich länger was zu stöbern habe.“ Er seufzte tief, fuhr sich durch die Haare, zupfte an den Spitzen und betastete die kurze Matte aus hartem Geflecht, die ihm auf Wangen, Hals und Kinn gewachsen war. Er sah sie an wie ein Erwachender – ein Erwachender, der einen sehr peinlichen Traum gehabt hatte. „Sonja … Ich habe in den letzten Tagen ein paarmal politische Reden gehalten. Drüben, bei den Grünen …“

„Ich weiß“, sagte sie und lächelte schmal. „Vorgestern warst du ziemlich laut. Und die Tür bei denen ist ja kaputt.“

Er schwieg betreten und betastete wieder sein Gesicht. „Wie scheiße sehe ich eigentlich aus?“, fragte er vorsichtig.

Diesmal grinste Sonja breit und erleichtert. „Es geht. Halblange Haare stehen dir. Außerdem bist du Biker, und Bärte sind ja in.“

„Ich hasse Bärte“, murmelte er.

„Wir können nicht so weitermachen“, sagte Sonja und tat so, als beträfe der Niedergang sie beide. Vielleicht war es ja auch so – und es ging bei ihr nur langsamer. „Wir versumpfen völlig. Wir betäuben uns, um nicht darüber nachzudenken, was passiert ist. Wenn wir so weitermachen, werden wir apathisch und sind irgendwann nicht mehr in der Lage, uns zu irgendetwas aufzuraffen. Und wenn dann einer von uns krank oder der Winter hart wird oder irgendetwas … Dann gehen wir ein.“

„Was sollen wir denn tun?“, fragte er.

„Wir brauchen Ziele“, sagte sie entschieden. „Pläne. Richtige Pläne, richtige Aufgaben. Ich verstehe langsam, warum Jan und die anderen Bauern sein wollten. Klar – nötig haben wir das nicht. Noch nicht, jedenfalls. Aber in so einer Bauernkommune gibt es bestimmt immer irgendwas zu tun. Man muss Arbeiten planen, Maschinen und Werkzeuge finden … Da wird keinem langweilig. Wir brauchen auch so was.“

Jo schien einen Moment darüber nachzudenken, aber der Gedanke schien ihm nicht wirklich zu gefallen. „Ehrlich, Sonja, ich habe keine Lust, Bauer zu werden. Nenn mich Stadtkind, aber ich habe keine Lust, den Park da draußen umzugraben. Und für meine Vitamine gibt’s Vitamintabletten.“

Sonja lachte. Das Bild war zu skurril. „Sehe ich auch so, keine Sorge. Aber wenn wir hier bleiben wollen, dann sollten wir uns auch richtig einrichten. Ich hätte zum Beispiel gerne Strom, du nicht?“

„Klar. Aber es gibt keinen mehr. Warum sollen wir uns unmögliche Ziele setzen?“

Sie seufzte. So viele Geschichten, so wenig praktische Phantasie. „Das ist nicht unmöglich, Jo. Wie viele Häuser haben Solarzellen auf dem Dach? So schwer kann es nicht sein, die anzubauen. Und bis wir das können, gibt es Dieselgeneratoren.“

„Kannst du einen Dieselgenerator an die Hausversorgung anschließen?“, fragte er kleinlaut. „Ich habe keine Ahnung, wie das geht. Und ob das überhaupt geht.“

Sonja schaute ihn mitleidig an. „Ich auch nicht. Aber man kann es lernen. Das meine ich, wenn ich von Zielen rede. Wir müssen uns Vorräte schaffen, aus diesem Haus hier so etwas wie ein echtes Basislager machen.“ Sie wurde leise. „Und dann müssen wir uns auf die Suche machen. Nach Antworten. Das wolltest du doch auch.“

Jo nickte und war endlich wieder bei ihr, ganz wach. „Ja. Das will ich auch“, sagte er schließlich.

JO

Am nächsten Morgen stand ich gleich beim ersten Aufwachen auf und kam mir schon alleine deswegen sehr dynamisch und aktiv vor. Ich gähnte noch einmal, rieb mir die Augen, berührte dabei meine Wangen und strich erneut darüber. Der Bart fühlte sich schrecklich an. Und er sah, wie ich inzwischen wusste, auch bescheuert aus, denn er war dunkelrot. Ich hatte ihn noch nie lange genug wachsen lassen, um das herauszufinden. Das Rot passte überhaupt nicht zu meinem braunen, früh ergrauenden Haar, und ich war zumindest noch eitel genug, dass ich nicht aussehen wollte wie ein Seemannsclown. Zeit, etwas dagegen zu unternehmen – ich ging hinunter zur Dhünn und schöpfte eine große Schüssel voll Wasser. In unserem Verhältnis zum Fluss waren wir am schnellsten wieder zu Frühmenschen geworden – er war unser Frischwasservorrat, unser Waschbecken und unsere Badewanne, unsere Kanalisation, in die wir morgens diskret unsere Nachteimer ausleerten, manchmal auch direkt unser Klo. Zum Rasieren allerdings brauchte ich warmes Wasser, also trug ich es in die Küche. Als ich an Sonja vorbeikam, die im Kaminzimmer die Bedarfslisten durchsah, die wir gestern geschrieben hatten, schaute sie auf.

„Bart ab?“

„Dringend!“

„Wie willst du das machen?“

Ich schaute sie etwas irritiert an. Wussten manche Frauen so etwas nicht? „Ich mache Wasser heiß, schäume mir das Gesicht ein und rasiere ihn ab. Keine große Kunst.“

„Mit deinem komischen Dreiklingenrasierer? Gegen diese Barthaare?“ Sonja grinste. „Viel Spaß.“

Ich erkannte den Denkfehler. „Mist. Dann muss ich irgendwo einen Barttrimmer finden, der noch einen geladenen Akku hat. Oder ein Rasiermesser. Ich dachte, ich bin das Ding gleich los.“

„Es gibt Scheren.“

„Ja, aber ich fummele mir gewiss nicht mit einer Haushaltsschere im Gesicht rum. Oder mit einer Nagelschere. Und für eine Bartschere muss ich in irgendeinen Friseurladen, da haben sie bestimmt auch Bartschneider.“

„Ich kann das. Mit der Nagelschere. Habe ich bei Martin manchmal gemacht.“ Sie lächelte. „Und es muss ja nicht toll aussehen, du musst ihn ja nur abrasieren können.“

„Echt? Würdest du das machen?“

„Klar. Ich hole eben die Schere.“

Während sie nach oben in ihr Zimmer lief, zog ich mir das T-Shirt aus, ich hatte keine Lust, es nachher von winzigen, piekenden Bartresten befreien zu müssen. Als sie mit der Schere vor mir stand, stellten wir fest, dass unsere Größenverhältnisse ungünstig waren – ich war ein wenig größer als sie, aber nicht groß genug, als dass sie bequem von unten arbeiten konnte. Sonja deutete auf einen der herumstehenden Stühle.

„Setz dich dahin.“

Sie beugte sich leicht über mich und begann, den Urwald auf Kinn und Wangen auszudünnen. Und ich merkte zum ersten Mal bewusst, dass sie nur ihre übliche Nachtwäsche trug, sie hatte sich noch nicht umgezogen. Ein langes, weites T-Shirt über bunt geblümten Boxershorts. Sie roch sehr angenehm, eine Mischung aus Kaffee und einem leichten Bettduft. Wie machte sie das? Ich hatte jeden Morgen das Gefühl, eine stinkende Zumutung zu sein, bevor ich zum ersten Mal am Fluss gewesen war. Sie nicht. Sie roch großartig. Und das T-Shirt war wirklich verdammt weit. Ich schluckte, bemühte mich, ihrem Blick nicht zu begegnen, und war dankbar, dass ich mir schon eine Jeans angezogen hatte. Die perfekte Tarnung war das auch nicht, aber in meinem üblichen morgendlichen Dude-Aufzug wäre mein Entzücken ein wenig zu offensichtlich gewesen.

Sie merkte es ganz sicher trotzdem, aber sie war taktvoll – wenn auch nicht fair. Nach getaner Arbeit strich sie mir sanft die Bartstoppeln von Hals und Schultern, trat dann einen Schritt zurück und betrachtete ihr Werk. „Das sollte klappen. Jetzt kannst du dich rasieren, ohne dir die Haut abzureißen.“

Ich wusste, dass ich etwas antworten sollte, aber sie sah einfach zu betäubend aus, mit den Beinen und den Shorts und dem gemeinen T-Shirt. War mir bisher wirklich klar gewesen, dass sie eine Frau war? Und das Gefühl ihrer Hände war immer noch auf meinem Hals und meinen Schultern.

„Jo?“

„Was?“ Ich blickte auf, in ihr lächelndes Gesicht.

„Fühl mal deinen Bart. Ich glaube, du kannst ihn jetzt rasieren.“

Ich betastete meine Wangen. Kein Geflecht mehr, sondern ein stacheliger Rasen. Das würde gehen.

„Das wird gehen“, sagte ich.

„Hmja.“ Sie betrachtete mich noch kurz, drehte sich dann schnell weg und setzte sich wieder an den Tisch zu ihren Notizen. „Machst du dann die Reste vom Boden weg, wenn du fertig bist?“

Das Erhitzen des Wassers und die nachfolgende Rasur dauerten eine Weile, und die Dhünn, zu der ich danach noch einmal zurückkehrte, hatte die Freundlichkeit, kaltes Wasser zu führen. Ich hatte mich also wieder recht sicher im Griff, als ich mich, nachdem ich auch den Boden des Kaminzimmers gefegt hatte, mit meiner Kaffeetasse und einer Schale Müsli zu ihr an den Tisch setzte. Während ich mich in der Küche rasiert hatte, war Sonja wohl am Fluss gewesen, jedenfalls hatte sie sich inzwischen auch umgezogen. Jeans, schwarzes Tank-Top, darüber eine offene, schwarze Bluse. Nicht unbedingt ein Klosteroutfit, aber auch nicht so gnadenlos wie vorhin.

„Da ist aber noch einiges zugekommen“, bemerkte ich nach einem Blick auf die herumliegenden Listen.

„Ja.“ Sie nickte zerstreut. „Bücher vor allem. Es ist schon heftig, was wir alles nicht wissen. Oder hast du von irgendetwas hiervon Ahnung?“ Sie schob mir eine der Listen zu.

„Ich kann mein Motorrad warten“, sagte ich, während ich las. „Aber es ist trotzdem gut, dass du das aufgeschrieben hast. Ich bin kein echter Experte. Ich glaube, ich fahre mal beim Harleyshop in Köln vorbei und schaue, was die so an internen Anleitungen und Reparaturhandbüchern haben.“

„Gute Idee.“

„Was hier noch fehlt, ist so ein Gartenbuch. Ich meine, du hast Do-It-Yourself- und Heimwerkerzeugs aufgeschrieben, aber nichts für draußen. So radikal habe ich das nicht gemeint, dass ich kein Bauer sein will.“

Sonja grinste und deutete mit dem Daumen auf sich selbst. „Landschaftsgärtnerin, nicht vergessen. Und ich habe in meiner Wohnung in Quettingen noch ein paar Fachbücher dazu, die weiterhelfen, wenn ich ans Ende meines Lateins kommen sollte.“

„Wo bekommen wir das alles her? Ich meine – unsere Buchhandlung hier ist zwar nett, aber bestellen kann die uns nichts mehr.“

Sie lachte. „Wohl nicht, nein. Ich dachte, wir fahren nach Wiesdorf, in die Rathausgalerie. Da bekommen wir fast alles, Kleidung, Lebensmittel, Drogeriezeug und eben Bücher. Für die anderen Sachen fahren wir zum Baumarkt. Und für die größeren Lebensmittelmengen zur Metro. Was meinst du?“

Ich überlegte. In dem Einkaufscenter war die Filiale einer großen Buchhandelskette, das stimmte, aber auch die hatten in der Regel nur ein etwas größeres Standardsortiment.

„Sollen wir nicht besser gleich zur Metro? Ich glaube nicht, dass der Buchladen in der Rathausgalerie uns viel weiterbringt als unserer hier.“

„Ich dachte auch eher an die Stadtbibliothek. Und die Auswahl an Kleidung und Drogerieartikeln ist größer. Außerdem gibt es da auch eine Apotheke.“

***

Fargo. The Life of Brian. Unforgiven. Breaking Bad. Game of Thrones. Twin Peaks. The Walking Dead. Ich nahm die erste Staffel aus dem Regal und betrachtete sie nachdenklich. Da ritt Sheriff Rick Grimes auf der menschenleeren rechten Spur eines Highways nach Atlanta hinein. Die linke Spur war voller Autos, sie sah nicht aus wie eine Straße, sondern wie ein Parkplatz. Abgesehen davon sah dieses Bild auf gespenstische Weise wie eine Fotografie der Gegenwart aus der Vergangenheit aus.

Die „Bauern“ hatten Pferde mitgenommen. Wenn einer von ihnen alleine in eine Stadt reiten würde, würde das diesem Bild sehr ähnlich sehen. Geschichten um Zombie-Apokalypsen waren in den letzten Jahren die beliebtesten der zahlreichen Endzeitvisionen gewesen. Eine Vorahnung? Wenn ja, dann war sie ungenau gewesen. Unsere Welt war wirklich leer, hier liefen keine Untoten herum, um uns zu jagen. Die Rathausgalerie war auf die gewohnt bestürzende Weise sauber und ordentlich. Draußen begann langsam der Verfall, fast unmerklich, doch er hatte begonnen, mit jedem Spross, der ungehindert zwischen Gehwegplatten hervorbrach oder in Regenrinnen wuchs. Aber nicht hier drinnen. Hier standen alle Uhren still.

Wir waren, wie so oft, durch das Parkhaus eingedrungen, hatten dann aber bemerkt, dass eine der Seitentüren des Einkaufscenters nicht verschlossen war. Vielleicht hatte jemand einen Lieferanten erwartet oder war kurz eine rauchen gegangen, wir würden es nie erfahren. Sonja parkte ihr Großraumtaxi in der Fußgängerzone direkt vor der Tür, und wir konnten unsere Beute bequem verladen. Wir konzentrierten uns zunächst auf Kleidung und Schuhe, weil unser Bedarf da gering war. Danach machten wir uns über die Apotheke her. Die Drogerie im Untergeschoss war klein und deshalb alleine schneller zu plündern, also zog Sonja dort durch, während ich mich unter dem Vorwand, irgendetwas Nützliches zu suchen, in den Elektrofachmarkt begeben hatte. In Wirklichkeit wollte ich einfach nur in Erinnerungen schwelgen. Filme und Musik – verlorene Künste? Die Musik vielleicht nicht – immerhin lebte ich mit einer Schlagzeugerin zusammen, und manchmal übte oder spielte sie. Oft weckten die rhythmischen Schläge in mir die Lust zu tanzen – und hin und wieder gab ich der Lust nach, alleine, in meinem Zimmer. Filme, Musik, Serien … Ich spürte den Verlust.

„Jo?! Kommst du mal?“

Der Ruf schreckte mich aus den Gedanken. Ich lief aus dem Elektromarkt, sie stand in dem Rondell bei den Rolltreppen, neben ihr ein Einkaufswagen voller Seifen, Zahnpasten, Shampoos, rezeptfreier Medikamente und diverser anderer Drogerieartikel. Sonja schaute nachdenklich nach oben, auf die Galerie im Erdgeschoss.

„Was ist?“

„Ich bin nicht sicher. Ich glaube, da oben hat sich was bewegt.“

„Eine Katze?“, vermutete ich.

„Nein, zu groß für eine Katze. War aber nur ein Schatten. Vielleicht ist auch nur was runtergefallen oder so.“

„Ich habe nichts gehört.“

„Draußen, meine ich. Aber schon seltsam.“ Sie spähte weiter mit gerunzelter Stirn ins Erdgeschoss.

„Bist du sicher?“

„Nee, ich bin absolut nicht sicher. Du hast nichts gehört oder gesehen?“

„Ich war im …“

„Ist mir schon klar. Auf der Suche nach einem Bartschneider?“# Ich schaute sie an, sie sah mit einem freundlichen Pokerface zurück. Ich hob die DVD-Box, die ich immer noch in der Hand hielt.

„Nein.“

„The Walking Dead.“ Sie griente. „Sehr passend. Wollen wir uns heute Abend ein paar Folgen ansehen?“

„Harhar. Ich weiß nicht …“, ich betrachtete nachdenklich das Bild des einsamen Reiters vor der Silhouette der Stadt. „Ich habe überlegt, ob ich anfangen soll, Bühnenversionen von meinen Lieblingsfilmen und Serien zu schreiben. Damit die nicht verloren gehen.“ Ich seufzte. „Falls es irgendwie weitergehen sollte, mit … uns. Den Menschen.“ Ich schüttelte den Kopf. „Blöde Idee.“

„Nein, gar nicht.“ Sie legte mir die Hand auf den Arm und sah mich mit ehrlichem Ernst an. „Das ist überhaupt nicht blöd, Jo. Ich mache doch auch mit meiner Musik weiter. Und du bist Schriftsteller. Du schreibst doch auch immer in deine Kladden. Wenn du was zu schreiben hast, das ist doch gut. Dann hast du etwas zu tun. Und wir wissen doch gar nicht, wie es weitergeht, wir wissen gar nichts.“ Sie lächelte. „Und ich würde gerne mal die Bühnenversion von Pulp Fiction sehen.“

„Kommt auf die Liste.“ Wir lachten gemeinsam. Dann sah sie wieder vom Untergeschoss ins Erdgeschoss hoch. Nichts.

Die Glastür der Bibliothek war geschlossen und schwerer als einige der anderen Türen, die wir hier geknackt hatten. Das hatten wir erwartet. Und weil wir das erwartet hatten, hatten wir einen Einkaufswagen mit drei kleinen Gefrierschränken aus dem Saturn beladen und nutzten ihn als Ramme. Beim vierten Angriff zeigte die Tür beachtliche Muster und begann zu knacken, also ließen wir von weiteren Rammversuchen ab und schleuderten zwei der Gefrierschränke in das Glas. Es platzte pflichtschuldig und ging als Regen von Glaskörnern nieder.

Die Bibliothek schien fast ungeduldig darauf zu warten, dass die Mitarbeiterinnen und Besucher zurückkamen, alles war bereit. Auf dem Tisch der zentralen Ausleihtheke lagen einige Bücherstapel, zwei Bücher waren aufgeschlagen, hier hatte offenbar schon zu früher Stunde jemand gearbeitet. Der blassblaue Flyer eines „Fördervereins Literatur in Leverkusen“ wies auf einige Veranstaltungen hin, ich las neugierig, was wir für immer verpassen würden. An just dem Samstag, als das Ende gekommen war, war mittags eine Lesung geplant gewesen: „Trash – Leverkusener Autorinnen und Autoren lesen aus ihrem Papierkorb“. Ich schaute zur Bühne hinüber, einem großen Podest, über dem in freundlichen Buchstaben die Schrift „Time 2 Chill“ prangte. Stimmt, da stand ein Tisch, bedeckt mit einem schwarzen Tuch, und darauf eine Leselampe. Wie oft hatte ich an solchen Tischen gesessen? Ich hatte es genossen, den direkten Draht zum Publikum zu spüren. Frauen meist. Leserinnen. Oder Buchhändlerinnen. Wie Lynn. Verdammt.

„Scheiß auf Lynn“, murmelte ich, aber diesmal musste ich lachen dabei. Der Schmerz war nun alt, und die Erinnerung an unsere erste Begegnung war wirklich witzig.

„Wie bitte?“, fragte Sonja.

„Nichts.“ Ich deutete mit dem Kopf zur Bühne hinüber. „Alles bereit für eine Lesung, fehlt nur noch das Wasser und ein Mikro. Soll ich dir was vorlesen?“

„Würdest du das machen?“

Ich sah sie überrascht an. „Wenn du möchtest, gerne.“

„Später vielleicht. Wir sollten erst mal unsere Liste abarbeiten.“

Wir hatten bereits zwei Einkaufswagen gefüllt, mit allerlei Heimwerker-, Survival- und Technikerliteratur, sie zum späteren Abtransport vor den Eingang der Bibliothek geschoben und waren nun zur Kür übergegangen. Ich hatte ein paar Kochbücher eingesammelt, bei denen es mir vor allem um Methoden der Nahrungsmittelkonservierung ging, dazu zwei Ratgeber für Menschen, die alkoholische Getränke selber machen wollten. Schließlich starb ja die Hoffnung zuletzt. Sonja hatte eine spärliche Auswahl an Lyrik und Belletristik in den dritten Einkaufswagen gelegt, darunter auch ein Exemplar meines Buches. Hatte sie nicht gesagt, dass es ihr nicht gefallen hatte? Jetzt stand sie in der kleinen Kunstausstellung neben der Bühne. Drei örtliche Künstlerinnen hatten dort Bilder zum Thema „Ist die Zukunft von gestern?“ ausgestellt.

„Und?“, fragte ich, während ich meine Beute in den Einkaufswagen legte. „Ist die Zukunft von gestern?“

„Und wie. Jäger und Sammler in der Stadtbibliothek, von gesterner geht wohl nicht.“ Sie lachte, aber nicht wirklich fröhlich. „Aber die beiden Bilder hier sind schön. Ich glaube, die nehme ich mit, eins für mein Zimmer, eins für das Kaminzimmer. Einverstanden?“

„Warum nicht.“ Ich schob den nun vollen Wagen in Richtung Ausgang, wo die anderen warteten. „Einen Wagen haben wir noch. Soll ich noch welche mitbringen?“

Ich sah sie hinter den Stelen, an denen die Bilder hingen, nicht mehr, hörte aber ihre Antwort. „Nee, einer reicht, oder? Was brauchen wir denn noch?“

„Wir haben fast alles. Nur noch die Endzeitliteratur. Wir wollten doch wissen, was sich die anderen Autoren so gedacht haben, wie man …“

Ich stoppte mitten im Satz. ‚Wir sollten auf unsere Instinkte hören‘, sagte die Stimme, jetzt nicht mehr böse, sondern eindringlich. ‚Sie sind älter als der Verstand, sie sind für so eine Situation gemacht. Und wenn sie sagen, dass da ein großer Schatten ist … Dann ist da einer. Wir sollten unbedingt immer auf unsere Instinkte hören, immer, immer, immer … ‘

Ich hatte den Wagen zu den anderen geschoben. Ein lautes Grollen hatte mich aufschauen lassen, und im nächsten Moment hätte ich mir fast in die Hose gemacht. Buchstäblich. Wenige Schritte von mir entfernt, direkt unter der kurzen Treppe zum Eingang, stand ein Hund, und er war riesig. Der gewaltigste Rottweiler, den ich je gesehen hatte, und er starrte mich direkt an. Ich weiß nicht, wie, aber ich musste ihn profund verärgert haben. Das Weiße in seinen Augen glänzte, die gekräuselte Schnauze entblößte ein fürchterliches Gebiss. Aus der Tiefe der Rathausgalerie schlenderten zwei weitere Hunde heran, ein eher kleiner Schäferhund und ein ebenfalls einschüchternd großes, schwarzes Tier, das ich für einen Mischling hielt. Die beiden wirkten geradezu aufreizend entspannt. Als wollten sie mir klarmachen, dass sie dem Rottweiler notfalls den Rücken decken würden, aber nicht damit rechneten, dass das nötig wäre. Ich gab ihnen Recht.

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Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
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612 стр. 5 иллюстраций
ISBN:
9783942625203
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