Читать книгу: «Nomaden», страница 8

Шрифт:

JO

An diesem Abend, nachdem wir auch die zweite Gruppe hatten verschwinden sehen, machten die Königin und der König von Leverkusen einen langen Spaziergang. Dabei entwarfen wir einen Plan für die nächste Zukunft. Wir gingen von Quettingen ins benachbarte Alkenrath, dann am Bürgerbusch entlang und durch den Wald zurück nach Quettingen.

Da wir langsam gingen, waren wir fast zwei Stunden unterwegs. Zuerst sprachen wir fast nicht, gingen nebeneinanderher und hingen unseren jeweils eigenen Gedanken nach. Meine drehten sich vor allem darum, wie ich es anstellen konnte, Sonjas Hoffnung auf die Rückkehr ihres Freundes möglichst sanft zunichtezumachen. Etwas war geschehen, etwas Ungeheuerliches und Fremdes, aber seither war nichts weiter passiert, das mich in irgendeiner Form glauben ließ, dass die Naturgesetze nicht mehr gelten würden. Die Flüsse flossen abwärts, die Nacht folgte auf den Tag, oben war oben, unten war unten. Wenn man das eine ausklammerte, war das immer noch genau die Welt, die ich kannte. Martin war verschwunden, er würde verschwunden bleiben, davon war ich überzeugt. Aber wie konnte ich sie davon überzeugen?

Der erste Schritt würde sein, ihre Wohnung zu verlassen. Wir waren uns wie selbstverständlich einig, dass wir zusammenbleiben würden. Nicht als Paar, sondern als Wohn- und Lebensgemeinschaft. Wir mochten uns, dachten ähnlich und hatten keinerlei gemeinsame Vergangenheit, die uns in die Quere kommen konnte. Wir hatten überlegt, in die Villa Wuppermann nach Schlebusch zu ziehen, ein Bürgerhaus aus dem 19. Jahrhundert und lokale Sehenswürdigkeit. Sonjas Idee, ich fand sie spontan gut und passend. Vor einer Woche noch hatte man dort heiraten können, ein Schachverein hatte in den Räumen seine Trainings und Turniere abgehalten, Tagungen hatten stattgefunden … nun lagen die Hauptvorteile der Villa für uns in dem Park, der sie umgab, ihrer zentralen Lage nah bei vielen Einkaufs- nein, Einsammelmöglichkeiten und der Dhünn, die ganz in der Nähe vorbeifloss und uns somit einen kurzen Weg zu einem unerschöpflichen Frischwasservorrat garantierte. Abgesehen davon war das Haus groß, schön und hatte viele Zimmer. Praktisch, stilvoll und angemessen für die Königin und den König von Leverkusen.

„Wann wolltest du denn in die Villa ziehen?“, begann ich also das Gespräch.

Sie zuckte mit den Schultern. „Übermorgen? Dann können wir morgen ein paar Sachen einpacken.“

„Echt?“ Ich war überrascht und erfreut.

„Klar. Meine Wohnung ist doch zu klein für uns beide. Zumindest“, sie grinste, „wenn du auf dem Sofa schläfst. Die Villa wäre viel besser, mehr Platz, als wir je brauchen. Warum nicht so schnell wie möglich?“

„Ich dachte … wegen Martin.“

Sie nickte und sprach lange nicht. „Ich kann ihm ja wieder eine Nachricht schreiben“, sagte sie schließlich leise.

Sie hakte sich bei mir unter und drückte meinen Arm. Wir gingen eine Weile untergehakt, und ich betrachtete die Dämmerung. Der Himmel war sommerlich schön, ein Farbenspiel in dunkelsten Tönen, Violett und Dunkelblau, ein fernes, tiefes Orange, nicht gestört durch irgendein künstliches Licht. Ich war immer ein Stadtmensch gewesen. Abgesehen von Urlaubsreisen mit meinen Eltern in der Kindheit hatte ich nie längere Zeit an einem Ort verbracht, der so menschenleer war, dass er unter freiem Himmel wirklich dunkel werden konnte. Jetzt staunte ich den bunten Himmel an.

„Schön, oder?“, sagte ich.

„Hm?“ Sonja hatte die andere Straßenseite betrachtet und schreckte aus ihren Überlegungen. „Was?“

„Der Himmel. Die Dämmerung. Richtig schön, oder?“

Sie warf einen kurzen Blick zum Himmel. „Ja, wirklich.“ Dann nickte sie zur gegenüberliegenden Straßenseite. „Lass uns mal eben da rübergehen.“

„Was ist da?“

„Aldi. Ich wollte mal sehen, wie wir da reinkommen.“

Sonja lief über die Straße, die lange Einfahrt hinunter und über den Parkplatz zur Tür des Marktes, ich folgte ihr. Als ich sie einholte, klopfte sie gerade gegen die Glastür.

„Dachte ich mir.“

„Was dachtest du dir?“ Ich fand nichts Besonderes an der Tür.

„Der ist zu. Da kommen wir nicht so einfach rein.“

„Ja, aber …“ Ich erzählte ihr von meinen Erfahrungen mit dem Klamottenshop in der Opladener Fußgängerzone und wie ich ihn mit einem Stein geknackt hatte. Sie nickte anerkennend.

„Gute Idee. Ich dachte, wir holen uns von der Baustelle da drüben eine Stange oder einen Hammer oder so. Aber Steine sind natürlich besser. Falls die Scheibe platzt.“

„Wolltest du da jetzt rein?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Nur für den Fall.“

Wir überprüften die Tür jedes Geschäftes, an dem wir vorbeikamen, aber abgesehen von der großen Aral-Tankstelle am Ortseingang von Alkenrath waren alle verschlossen.

„Ich habe mich in Leichlingen auch aus einer Tanke versorgt“, erzählte ich, während wir dort im Verkaufsraum saßen, Cola tranken und uns mit Schokoriegeln stärkten. „Und du?“

„Ich habe noch genug Vorräte für ein paar Tage“, sagte sie. „Der Kühlschrank kühlt natürlich nicht mehr, aber viel ist mir noch nicht umgegangen. Und ich habe genug Konserven, etwas Obst und Gemüse … Ich wollte ja nicht raus.“ Sie seufzte. „Weißt du ja.“

„Ja …“ Mir fiel eine Frage wieder ein, die mich beschäftigte, seit ich ihre Wohnung zum ersten Mal in Augenschein genommen hatte. „Dein Freund, Martin … Er kommt mir irgendwie bekannt vor. Kann es sein, dass ich den schon mal gesehen habe? Fernsehen, online … Irgendwoher kenne ich das Gesicht.“

Sonja lächelte leicht. „Interessierst du dich für Politik? Landespolitik?“

„Geht so. Ein bisschen schon, ja.“

„Er ist … war … ist … also er ist Staatssekretär im Ministerium für Inneres und Kommunales. Gilt als der kommende Innenminister, falls seine Chefin wirklich beim nächsten Mal als Ministerpräsidentin antritt und gewinnt.“

„Ich dachte gar nicht, dass du auch noch politisch engagiert bist“, sagte ich. „Mit Musik und Sport und Job und alldem.“

Sie sah mich erstaunt an. „Bin ich auch nicht, wieso?“

„Ähm …“, mir fiel gerade auf, dass meine Schlussfolgerung etwas albern war. „Ich dachte … weil er ja Politiker ist …“

„… und Politiker sich ja nur mit Politikerinnen zusammentun, oder was?“ Sie lachte, aber nicht unfreundlich. „Aber es war wirklich ein politischer Anlass, so ein Edeltreffen der wichtigen Parteimenschen. Irgendwas-Symposium. Sie hatten eine Freundin von mir, Sängerin, für die Livemusik beim gemütlichen Teil eingekauft, und die hat dafür eine kleine Combo zusammengestellt, ich war eben auch dabei. Na ja, und irgendwann in einer Pause stand er neben mir, und wir sind ins Reden gekommen. Über die Musik. Wie so was eben passiert.“

„Und warum hast du Matthias was von einer Familie erzählt?“

Ihr Blick verdüsterte sich. „Um mir die Leute vom Hals zu halten und Fragen auszuweichen. Martin hat sich Anfang des Jahres von seiner Frau getrennt, es ist noch nicht alles so klar mit den Kindern und so … wir haben unsere Beziehung erst mal geheim gehalten, wegen des Geredes und der fucking Parteiräson. Übernächsten Sonntag wollte er es offiziell machen, wir wollten zusammen zu dieser Filmpreisverleihung gehen. Gemeinsam, vor allen Fotografen, damit das klar ist. Er hatte es mit seiner Frau abgesprochen, seine große Tochter wäre dabei gewesen. Melissa …“ Sie stockte, starrte mich mit offenem Mund an und brach in Tränen aus. Ich nahm sie in den Arm. „Melissa … grade vierzehn … und Andi …“, hörte ich zwischen den Schluchzern. Dann sprang sie aus meinem Arm, riss eine Mineralwasserflasche aus dem Regal der Tankstelle und schleuderte sie gegen die Wand, wo sie knallend zerplatzte. Eine weitere folgte und noch eine, dann eine Limoflasche, die von der Wand abprallte, weil sie aus Kunststoff war.

„Scheiße!“, brüllte Sonja. „Scheiße! Scheiße! Scheiße!“ Sie wirbelte herum und funkelte mich an, als sei ich schuld an allem.

„Stimmt“, sagte ich vorsichtig. „Scheiße.“

Ihr Gesicht wurde noch härter, sie trat gegen eines der niedrigen Regale, immer wieder, bis es zusammenbrach, dann trampelte sie auf der verstreuten Auslage herum. Schließlich, als sie völlig außer Atem war, setzte sie sich keuchend auf den Verkaufstresen. Ihr Gesicht war rot von Tränen und Zorn, ihre Haare wirr, aber ihr Blick war wieder klar.

„Was für eine Scheiße.“ Sie schüttelte den Kopf. „Mein Gott, was für eine Scheiße.“

„Ja“, antwortete ich. Was gab es mehr zu sagen?

„Melissa … Martins Tochter. Die hat mich gemocht, trotz Pubertät und allem. Und sie war so stolz, dass Martin sie in das Geheimnis mit mir eingeweiht hat.“ Sie lächelte. „Kleine Verschwörerin. Und Andi – der war erst fünf … herrjeh.“ Sie sah mich an. „Ich rede über sie, als wären sie tot, oder?“

„Wir wissen nicht, ob sie tot sind“, sagte ich. „Vielleicht sind sie … anderswo? Vielleicht sind auch wir tot. Das dachte ich zuerst, dass mein … mein Suizid geklappt hätte. Aber dann habe ich mich erinnert, dass ja alle von der Party am Vormittag noch da waren. Vielleicht sind wir ja tot, und alle anderen sind noch da?“

Sonja schüttelte den Kopf. „Nein, glaube ich nicht. Dann müsstet ihr ja alle im Bunker gestorben sein und ich zu Hause, neben Martin im Bett. Was für ein komischer Unfall ist das denn?“

„Ja“, gab ich zu. „Auch nicht logisch.“

„Nichts ist logisch.“ Sie ließ sich vom Tresen gleiten, ging zur Glasfront der Tankstelle und schaute nach draußen, wo die Dunkelheit herabsank. „Sie kommen nicht wieder, oder?“

„Weiß ich nicht.“

Sonja schüttelte den Kopf. „Nein, sie kommen nicht wieder.“ Sie drehte sich zu mir. „Ich will wissen, was passiert ist. Ich will wissen, wo Martin ist. Wer ihn mir weggenommen hat. Was ist mit dir?“

„Was soll mit mir sein?“

„Willst du es nicht wissen? Ich will nicht einfach nur weitermachen. Klar, ich will weiterleben, also muss ich Supermarkttüren aufbrechen und mir Gedanken darüber machen, welches Wasser ich trinken kann und wie lange die Konserven reichen. Alles wichtig. Aber ich will wissen, was hier passiert ist. So was passiert nicht einfach so. So was hat eine Ursache. “

Ich bin ein Egoist, war es immer gewesen, ich, das Zentrum, um das sich mein Universum drehte, und das Zentrum war ja noch da. Dennoch hatte sie Recht. Was war mit meinen Menschen, mit Benny, mit unseren Eltern, ja, auch mit Lynn? Ich wollte es wissen, und nicht nur aus Neugier. Ich fühlte mich auch betrogen und bestohlen. Und warum waren gerade wir noch übrig?

„Klar will ich das wissen“, antwortete ich also.

Sie nickte grimmig. „Also finden wir es heraus.“

„Wie?“

Sonja wog nachdenklich den Kopf. „Weiß ich noch nicht. Ich habe doch gerade erst angefangen, darüber nachzudenken. Lass uns erst mal bei unserem Plan bleiben. Übermorgen ziehen wir in die Villa Wuppermann.“

SONJA

Sie packten nur zwei Kartons mit haltbaren Lebensmitteln, Getränken, dem Inhalt der Hausapotheke und ein paar Erinnerungsstücken, von denen Sonja sich nicht trennen mochte. Dazu kamen eine Klappkiste mit nützlichen Büchern und Noten. Als sie die Noten eingepackt hatte, hatte Jo verdutzt geschaut, aber nichts gesagt. Sonja vermutete, dass er sich gleich noch mehr wundern würde, und grinste innerlich. Es gab Dinge, die waren nicht verhandelbar.

Seit ihrem Ausbruch in der Tankstelle fühlte sie sich besser, sie hatte das Gefühl, jetzt in der neuen Realität angekommen zu sein, so erschütternd sie auch sein mochte. Sie funktionierte wieder, und sie war gut darin zu funktionieren. Martin würde nicht zurückkommen, und immer wenn sie daran dachte, dass er nun irgendwo war, unerreichbar für sie, fühlte sie einen Schlag, der sie für einen Moment lähmte. Sie verbot sich den Gedanken, dass all die anderen Menschen tot seien und nur eine Handvoll übrig blieb. Das war lächerlich. Martin war noch irgendwo, wahrscheinlich da, wo er immer gewesen war, und am schlimmsten war der Gedanke, wie getroffen ER sein würde durch IHR plötzliches und unerklärtes Verschwinden. Denn davon war sie überzeugt – in Wirklichkeit waren sie die Verschwundenen. Martin hingegen war an dem Ort, der für Sonja noch vor wenigen Tagen die einzige Realität gewesen war, und fragte sich wahrscheinlich, warum die Frau, der er sich anvertraut hatte und der er, all ihren alten Verletzungen und Verunsicherungen zum Trotz, Sicherheit gegeben hatte, ihn so gnadenlos hatte fallen lassen.

Wenn sie ihm doch nur eine Nachricht zukommen lassen könnte, eine einzige. Jeden Abend, bevor sie einschlief, konzentrierte sie sich ganz auf ihn und schickte diesen Gedanken, ihr Mantra und ihr Abendgebet: „Ich denke an dich, ich bin bei dir.“ Wieder und wieder, bis sie hinüberdämmerte ins Traumland. Sonja glaubte nicht an Telepathie. Sie tat es nur für den Fall, dass … und sie tat es mit aller Inbrunst. Sie würde Martin nicht vergessen, sie liebte ihn, wo immer er war, nicht weniger, als würde er neben ihr stehen. Aber das änderte nichts daran, dass es Dinge zu tun gab.

Zu den Kartons und der Klappkiste gesellten sich noch ein Rucksack und ein Rollkoffer, beide gefüllt mit Kleidung und Schuhen. Als sie das Gepäck im Flur ihrer Wohnung zusammengetragen hatten, schien Jo erstaunt über die geringe Menge.

„Dann brauchen wir gar keinen Transporter“, sagte er. Sie hatten darüber gesprochen und überlegt, wo sie am besten einen herbekommen konnten. „Das passt locker in jeden PKW. Erst recht, wenn ich mit dem Bike fahre.“

„Hm“, machte Sonja und fuhr sich durch die Haare. „Mag sein. Aber ich muss trotzdem zweimal fahren. Mindestens.“

„Warum?“, fragte er.

Sonja schüttelte innerlich den Kopf. Er hatte wirklich nicht damit gerechnet. „Mein Schlagzeug.“

Er schaute so verdattert, wie sie vermutet hatte. „Du willst das Schlagzeug mitnehmen?“

„Klar.“

„Warum?“

Sonja sah ihn lange an, schüttelte dann den Kopf und sagte: „Will ich halt. Spricht irgendwas dagegen?“

Jo zuckte mit den Schultern. „Nein. Wenn du möchtest … wie hast du es denn bisher transportiert?“

„Bandbus. Gehört unserer Bassistin. Oder Großraumtaxi.“

„Dann lass uns doch ein Großraumtaxi besorgen“, sagte er.

Sie mussten ein wenig in der Stadt suchen, aber am Bahnhof in Wiesdorf hatten sie gleich die Auswahl zwischen einem Touran und zwei Vitos. Sonja wählte den VW. Jos Motorrad und ihr Transporter waren laut in der stillen Welt, und sie dachte, dass, wenn es außer ihnen noch Menschen in der Umgebung gab, der Lärm sie unweigerlich anlocken müsste. Es sei denn, sie waren so menschenscheu wie Sonja selbst. Jo hatte wohl ähnliche Gedanken. Als sie wieder in ihrer Wohnung waren, sprach er das Thema an, während Sonja sorgfältig ihr Schlagzeug abbaute und verpackte. Jo hatte Hilfe angeboten, aber sie hatte freundlich abgelehnt. Das machte sie selbst, das war Gesetz. Also stand er daneben und schaute zu.

„Wir waren ganz schön laut, mit den Motoren. Vielleicht hat uns jemand gehört und kommt uns nach.“

Sonja nickte, ohne aufzuschauen, während sie mit der widerspenstigen Flügelschraube kämpfte. Immer dasselbe, seit mehr als einem Jahr hatte sie die austauschen wollen. „Viel Hoffnung hätte ich nicht.“

„Ja“, meinte Jo. „Alle anderen sind ja weg.“

Sonja wandte sich erstaunt um. Woher nahm er diese Gewissheit? Sie hatte das auch mal gedacht, und dann waren David, Matthias und Susi aufgetaucht. Dann Jo. Und dann die ganze Partygesellschaft. Wer sagte, dass es damit zu Ende war? „Nicht unbedingt. Wie viele waren das, gestern Abend an der Kirche? Fünfzig? Sechzig? Keine sechzig, glaube ich. Wir waren einhundertelf Leute in der Stufe, und auf der Party waren doch bestimmt so achtzig. Wenn nur die Leute von der Party übrig sind, dann fehlen noch um die zwanzig. Wenn es unsere ganze alte Stufe ist, sind es sogar doppelt so viele.“

„Wie kommst du darauf, dass es unsere ganze Stufe sein könnte?“

Sonja lachte humorlos und wandte sich wieder dem Instrument zu. Jo hatte in der kurzen Zeit, in der sie zusammen waren, jede Hoffnung erfüllt, die sie sich nur auf Basis ihres Gesprächs auf der Party gemacht hatte, aber wie konnte ein Schriftsteller, ein Geschichtenerfinder in der Praxis nur so phantasielos sein?

„Wieso nicht?“, fragte sie. „Ist das irgendwie sinnloser als dass nur die von der Party übrig sind? Wäre nur noch blöder, für einige. Sammy lebt jetzt in Kanada, der war nicht auf der Party. Da hat er eine ganze Menge Gegend nur für sich alleine.“ Die Schraube weigerte sich beharrlich, sich bewegen zu lassen, und Sonja legte ihren Frust über Jos Begriffsstutzigkeit in den Kampf mit ihr. „Scheißding, verdammtes, jedes Mal …“ Sie drückte wütend daran herum und wäre fast ausgerutscht, als die Schraube plötzlich nachgab. „Bitte, geht doch“, knurrte sie.

***

In der Villa bezogen sie zwei Räume im ersten Stock. Im unteren Stockwerk nutzten sie die Küche und das Kaminzimmer. Sie wollten die Eingangstür weder aufbrechen noch auch nur den schweren Glaseinsatz zerstören, also suchten sie ein Fenster an der Seite des Gebäudes, an der Jo die Toiletten wusste, und schlugen die Scheibe ein. Sonja kletterte hindurch und fand nach kurzem Suchen in einem Büroraum drei Generalschlüssel und einige Sätze für Schlüssel zu den Innenräumen. Den Toilettenraum, durch den sie eingestiegen war, schlossen sie von außen ab, so dass ihr Haus wieder rundum gesichert war.

Die Idee erwies sich als richtig. Die Welt war vielleicht menschenleer, aber nicht leer. Sonja hatte vor allem Ratten gefürchtet, obwohl sie sie eigentlich mochte – als Haustiere. Aber zunächst machten ihnen die Katzen Sorgen. Sie sahen sie schon bald häufig, wenn auch meist von weitem: Einzelgänger, Pärchen, selten auch kleine Gruppen. Sie sickerten ein, leise und unwiderstehlich wie Wasser, und waren bald überall anzutreffen.

Schlafunterlagen fanden sie in einem nahen Matratzengeschäft. Nachdem sie zwei sehr große und bequeme Exemplare in das Taxi geladen hatte, stand Jo wie gedankenverloren vor dem Laden und betrachtete nachdenklich die Auslage im Schaufenster.

Sonja konnte dort nichts Ungewöhnliches entdecken. „Haben wir was vergessen?“

Jo schüttelte den Kopf, wandte den Blick aber nicht von dem Laden ab. „Komisch, oder?“

Sonja schaute zuerst das Schaufenster an, dann ihn, irritiert. Was sah er da? „Was ist komisch?“

„Ein ganzes Geschäft, nur für Matratzen. Keine Betten, keine Schlafzimmermöbel, nichts, nur Matratzen.“

„Na ja“, sie klopfte lächelnd auf die Oberbetten und Kopfkissen, die sie ebenfalls mitgenommen hatten. „Etwas Bettwäsche haben sie auch.“

„Ja, aber überleg doch mal“, beharrte er. „Die verkaufen im Grunde nix. Oder haben nix verkauft, sorry. Nichts als Matratzen. Wie oft braucht man denn eine neue Matratze?“

Sonja zuckte mit den Schultern. Sie hatte eine Ahnung, worauf er hinauswollte, aber für sie war das „vorher“ immer noch alltäglicher als die Welt, in der sie jetzt lebten. „Alle paar Jahre? Vielleicht jedes Jahr, wenn man sehr schwer ist oder irgendwelche Spezialmatratzen nötig hat?“

„Alle paar Jahre“, wiederholte er. „Und trotzdem konnte der Laden überleben. Und nicht nur der. Matratzenläden findest du ja überall, eine Weile habe ich gedacht, die lösen bald die Handyläden ab.“ Er schüttelte den Kopf. „Es ist unglaublich, wie viele wir waren“, sagte Jo plötzlich leise.

Sonja spürte die Leere um sich herum wieder – aber die Kälte blieb aus. Zum ersten Mal. Hatte sie sich schon daran gewöhnt? War das überhaupt möglich? „Ja“, sagte sie. „Milliarden.“

„Konnte das überhaupt gutgehen? Wir waren so wahnsinnig viele. Da musste doch so was passieren, oder? Irgendwann?“

Sonja dachte eine Weile nach, aber dieser Gedanke war alt, ein Gedanke von vorher. Nichts von dem, was vorher gewesen war, führte logisch zu der neuen Realität. „Nein“, sagte sie schließlich. „Irgendetwas musste passieren, das haben wir alle gedacht. Und wir haben das auch gespürt. Jede Woche mindestens eine Doku im Fernsehen, in der die Menschheit untergeht, mal vom Kometen getroffen, mal, weil der Yellowstone explodiert, mal durch den Klimawandel … wie auch immer. Jeder Hannepampel von Schriftsteller hat irgendeine Endzeitgeschichte rausgehauen …“ Sie merkte, was sie da gesagt hatte, und warf ihm einen erschrockenen Blick zu, als er hüstelte. „Tut mir leid, aber …“

Er lachte, es war ehrlich. „Du hast Recht. Es gibt viele davon.“

Sonja lächelte. „Unterschwellig haben wir doch gespürt, dass es nicht so weitergehen kann. Immer mehr, immer weiter, Wachstum, Wachstum, auf einem Planeten mit begrenztem Platz und begrenzten Ressourcen. Ich habe nie geglaubt, dass uns der Meteor ein Ende machen wird oder irgendein Vulkan oder so was, ich habe eher gedacht, dass es durch Krankheit oder Krieg passiert.“

„Aber wie eine Naturkatastrophe sieht das nicht aus, oder?“, meinte Jo.

Sonja schüttelte den Kopf. „Was wissen wir denn? Vielleicht gibt es ein Naturgesetz, das das alles hier sauber erklärt, und wir haben es nur noch nicht entdeckt. Die Apokalypse sieht jedenfalls anders aus, zumindest in der Bibel.“ Sie lachte hart. „Posaunen, Siegel … all das.“

„Vielleicht kommen die noch“, meinte er.

Die Idee überraschte Sonja. War sie abwegiger als irgendeine andere? Sie sah Jo nachdenklich an. „Vielleicht. Aber wieso sind dann gerade wir verschont geblieben?“

„Die ewige Frage“, antwortete Jo.

„Ja“, sagte Sonja. „Die ewige Frage.“

956,63 ₽
Жанры и теги
Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
Объем:
612 стр. 5 иллюстраций
ISBN:
9783942625203
Издатель:
Правообладатель:
Автор
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают