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JO

Sie stand in der Tür, als ich den letzten Treppenabsatz hinaufeilte, und bat mich in ihre Wohnung, wie man jemanden hineinbittet, den man eigentlich nicht im Haus haben will, dem man aber nun mal leider zugesagt hat, einen Handelsvertreter für Moselweine vielleicht oder einen Finanzberater.

„Komm rein. Willst du ’nen Kaffee?“

Ich schaute sie erstaunt an. „Du hast Strom?“

„Nein, ich habe einen Campingkocher.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Und noch acht Gaskartuschen oder so. Und wenn die alle sind – ist ja nicht weit zu Obi.“

„Gerne.“ Ich sah mich um. Die Wohnung war klein und düster, das aber nur, weil Sonja sämtliche Jalousien halb heruntergelassen und die Vorhänge zugezogen hatte. So hatte sie die Hitze wirksam ausgesperrt, hier war es angenehm kühl. Licht fiel nur durch die verglaste Küchentür, offenbar war dort ein Fenster, das sie nicht verhängt hatte. Die Aufschrift des Wurfgeschosses, das sie nach mir geschleudert hatte, fiel mir ein – „Zwiebeln“. Oder sie hatte das Fenster eben für mich geöffnet.

Sonjas Wohnung war eine typische Singlewohnung. Ein auf großes Format gezogenes Schwarzweißbild über dem Fernseher zeigte ein Paar beim Kuss, eine extreme Nahaufnahme, nur das vordere Profil beider Gesichter war zu erkennen. Die Frau war eindeutig Sonja. Der Mann kam mir vage bekannt vor, aber viel war nicht von ihm zu sehen. Dreitagebart, schmale Nase, dunkle Augen, glattes, ergrauendes Haar. Sonja kam herein, eine Thermoskanne in der einen, zwei Kaffeebecher mit Teelöffeln darin in der anderen Hand, und stellte alles auf den Esstisch. Nicht auf das Tischchen beim Sofa. Sie bemerkte meinen Blick auf das Bild, ging aber nicht darauf ein.

„Wie trinkst du ihn?“, fragte sie stattdessen.

„Hm?“

„Den Kaffee. Milch? Zucker? Ich habe aber keine frische Milch mehr, nur noch Dosenmilch.“

„Oh“, ich löste mich aus dem Versuch, den Mann auf dem Foto irgendeiner vertrauten Situation zuzuordnen. „Schwarz, danke.“

Sie nickte zufrieden, setzte sich an den Tisch und schenkte uns Kaffee ein. Ich setzte mich zu ihr. Der Kaffee war nicht mehr ganz heiß, offenbar befand er sich schon länger in der Kanne, aber er war dennoch gut. Und beruhigend. Ich atmete durch und nahm einen zweiten Schluck. Kaffee. Gute Idee. Wir schwiegen beide lange.

„Wasser gibt es ja noch“, sagte sie schließlich.

Ich verstand nicht, was sie meinte. „Was?“

„Wasser.“ Sie wackelte mit ihrer Tasse. „Fließendes Wasser. Haben wir noch.“

„Ja.“ Ich versuchte irgendetwas Sinnvolles zum Gespräch beizusteuern. „Aber nicht mehr lange, oder?“

„Keine Ahnung. Aber wenn nicht, ist ja nicht schlimm. Das Wasser ist sicher bald überall ganz sauber. In den Flüssen und so.“

„Weiß nicht“, meinte ich. „Was ist denn, wenn irgendwann eine Fabrik explodiert? Am Rhein. Sandoz oder BASF. Oder …“

„Oder Bayer?“

Ich nickte. „Ja, Bayer. Ist gefährlich, oder?“

Sie zuckte wieder mit den Schultern und wirkte beunruhigend gelassen. „Dann ist das eben so. Wenigstens würden wir das riechen oder hören oder sehen. Hast du dir schon über Atomkraftwerke Gedanken gemacht?“

Ich schüttelte den Kopf, ein wenig schuldbewusst. „Nein.“

„Ich schon. Gestern Nachmittag und Abend. Gestern Morgen bis gestern Mittag habe ich mir über Wasser Gedanken gemacht. Ist ja viel Zeit zum Nachdenken, jetzt.“

„Und zu welchen Ergebnissen bist du gekommen?“

Sie sah mich mit ehrlicher Verblüffung an. „Zu keinen. Also, mal abgesehen davon, dass die Flüsse und Bäche wohl bald wieder sehr sauberes Wasser führen werden. Aber sonst“, sie machte eine allumfassende Geste, „wo soll ich denn Ergebnisse hernehmen? Ich verstehe nichts von Atomkraftwerken und Chemiefabriken.“

„Stimmt.“ Ich dachte eine Weile nach. „Vielleicht haben sie Notabschaltungen.“

„Die Atomkraftwerke, meinst du?“

„Die Chemiefabriken auch.“

Sie nickte. „Ja. An dem Punkt war ich gestern, so um Sonnenuntergang herum. Danach habe ich etwas gelesen und bin eingeschlafen.“

„Ich habe gestern Nacht was Komisches geträumt“, sagte ich.

„Ja? Was denn?“

„Sehr wirr. Aber du bist auch darin vorgekommen.“

Sie lächelte, zum ersten Mal, seit ich sie an ihrem Fenster gesehen hatte. „Echt? Was habe ich denn gemacht?“

„Wir haben getanzt. Wie auf der Party. Und du hast mir was ins Ohr geflüstert. Warte mal … Du hast gesagt: ‚Es hat vorher angefangen.‘“

„Vorher angefangen? Was hat vorher angefangen?“

„Keine Ahnung. Hast du doch gesagt.“

Sie lachte. „Ja, aber in deinem Traum.“

Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück, trank einen weiteren Schluck Kaffee und fühlte mich sehr wohl. Dieses Gespräch war genauso sprunghaft und sinnlos, wie es mir in dieser Situation angemessen erschien, ein Brainstorming im Leeren. Trotzdem versuchte ich, ihr eine sinnvolle Antwort zu geben. Das war ich ihr irgendwie schuldig, wenn ich sie schon in meinen Träumen auftreten ließ.

„Ich glaube, du wolltest mich daran erinnern, dass die Menschen nicht erst verschwunden sind, als ich auf die Gleise gegangen bin. Und nach Leichlingen. Dass sie vorher schon weg waren. Als ich aus dem Bunker gekommen bin. Und dass alle anderen noch da waren. Also im Bunker. Deshalb bin ich heute Vormittag zurückgekommen. Weil ich dachte, der Bunker wäre vielleicht ein Weg zurück in meine alte Welt.“

„War er aber nicht, oder?“

„Nee.“

Sie deutete ein Nicken an. „Hätte ich dir auch sagen können. Ich bin schon in der Nacht nach Hause gegangen, erinnerst du dich?“

„Ja, stimmt.“

„Als ich nach Hause gegangen bin, war alles noch normal. Da waren Menschen unterwegs, Autos, Lichter. Und hier … Martin …“ Sie schluckte. „Mein Freund war auch noch da. Und dann wache ich auf, um halb elf am Vormittag oder so was, und dann … Das da.“ Sie zeigte anklagend auf die Balkontür und meinte die leere Welt dahinter.

„Komisch“, sagte ich. Sie schaute mich mit einer seltsamen Mischung aus Wut und Belustigung an.

„Komisch? Na, so kann man das auch nennen.“

Ich begriff, was ich gesagt hatte, und versuchte ein beruhigendes Lächeln. „Tut mir leid. Ich … stehe total neben mir. Ich dachte nur, dass alle, die ich bisher gesehen habe, die einzigen Menschen, die es noch zu geben scheint, auf der Party waren. Also im Bunker. Aber du hast Recht, du warst ja gar nicht mehr da.“

„Aber ich war auf der Party, das stimmt.“

„Meinst du, es hat damit etwas zu tun? Mit der Party?“

Sie zuckte wieder mit den Schultern. „Ist mir egal, eigentlich. Ich wusste ja gar nicht, dass überhaupt noch wer übrig ist. Bis diese Clowns eben aufgetaucht sind. Hast du ja wohl gehört.“

Ich registrierte mit Erleichterung, dass sie mich offenbar nicht zu den Clowns zählte.

„Was wollten die denn?“

Sie atmete schnaubend aus. „Was weiß denn ich? Ich habe nur die Hälfte verstanden, und das war mir schon zu viel. Stell dir das doch mal vor, ich meine … Ich weiß nicht, was du gemacht hast, aber ich habe hier die ganze Zeit nur … rumgelegen. Ich habe darauf gewartet, dass ich auch verschwinde. Oder dass Martin wiederkommt. Und dann kommen so ein paar Kasperköpfe, brüllen im Hof rum, bis ich auf den Balkon komme, und laden mich auf einen Ausflug ein. Wie kann man so verstrahlt sein?“

„Atomkraftwerke?“ Ich konnte nicht widerstehen, so wie der Witz sich anbot. Zu meiner Erleichterung lachte sie diesmal etwas fröhlicher. „Womöglich.“

„Was für einen Ausflug meinst du?“, nahm ich den Faden wieder auf. „Ich meine, was haben die vor? Mir kamen sie eben auch so seltsam … na ja, einfach zu zielstrebig vor. Aber ich dachte, ich bin vielleicht ungerecht. Die haben sich bestimmt auch solche Gedanken gemacht wie wir.“

„Kann sein“, meinte Sonja. „Du hast sie beobachtet?“

„Nur kurz.“

„Aber du hast dich ihnen nicht angeschlossen?“

„Erst mal nicht. Das ist mir … irgendwie noch zu viel. Die machen so viel.“

Sie nickte zufrieden. „Siehste.“

„Aber was wollten die denn jetzt wirklich?“, fragte ich erneut. Sonja hob die Hände.

„Habe ich nicht so richtig verstanden. Es schien sehr wichtig zu sein, ob man einen Bauernhof haben will oder nicht.“ Sie ließ ihren Finger vielsagend vor ihrer Schläfe kreisen. „Die sind ebenso durchgeknallt wie wir. Nur auf höherem Niveau, wenn du mich fragst.“

Ich machte irgendein zustimmendes Geräusch und versuchte, diese neue Information zu verarbeiten. Bauernhof? Wollten die Hofläden plündern? Es gab doch genügend Supermärkte. Oder wollten sie auf einen Bauernhof ziehen? Vielleicht hatte Sonja sie auch nur falsch verstanden. Ich wollte sie gerade fragen, als sie mich in den Gedanken unterbrach.

„Was du da eben gesagt hast …“

„Hm?“ Ich hatte etwas gesagt?

„Was meintest du damit: als du auf die Gleise gegangen bist.“

„Ach so. Ich bin nach der Party von Opladen nach Leichlingen gegangen. Auf den Bahngleisen.“

„Ach, du wusstest schon, dass da niemand mehr ist?“ Sie war sichtbar verblüfft. „Das hast du aber schnell gemerkt. Wieso bist du denn nicht zurück zum Bunker gegangen? Die anderen waren doch vielleicht noch da, einige zumindest, auch wenn die bestimmt schon um zehn raus mussten.“

Ich lächelte halb. „Mir war nicht klar, dass niemand mehr da ist, Sonja. Gar nicht. Das habe ich erst in Leichlingen gemerkt.“

„Aber warum bist du denn dann …“ Sie stockte, ich spürte, wie ihr Gedanke sich formte. „Das ist doch gefährlich, ich meine …“ Ihre Augen wurden groß. „Oh …“

Ich nickte, mit einer seltsamen Mischung aus Scham und Mitleid.

„Du wolltest …“

„Ja, wollte ich.“

„Aber … warum? Ich meine … also … tut mir leid, das ist bestimmt zu persönlich, ich …“ Sie stammelte und starrte, und plötzlich lag ihre Hand auf meiner, leicht, ein Trost, den ich gar nicht mehr brauchte. „Warum denn, Jo?“

Ich zog meine Hand vorsichtig weg, nicht ohne einmal dankbar über ihre zu streichen.

„Das hat mit vorher zu tun, Sonja. Mit all dem, was war. Ich habe überall nur noch Wände gesehen und keinen Ausweg. Ich habe einfach … ich wollte raus. “

Ich schüttelte den Kopf. Mir stiegen Tränen in die Augen wegen der Chancen, die ich nicht genutzt hatte. Was wäre denn gewesen, wenn ich nicht zu stolz gewesen wäre, Benjamin um Hilfe zu bitten? Wenn ich Lynn und jenem, dessen Namen … herrjeh, er hieß einfach Marek, nicht „Voldemort“, nicht „Monster“, nicht „Arschvonexagentundfreund“, einfach Marek. Was, wenn ich Lynn und Marek verziehen hätte? Oder zumindest akzeptiert hätte, was geschehen war? Marek war bei unserem letzten … na, nennen wir es „Gespräch“, so zerschmettert von Schuldgefühlen, der hätte sich mehrere Finger abgeschnitten, nur um weiter mein Agent zu sein und seine Selbstvorwürfe durch großartige Vertragsabschlüsse für mich zu kompensieren. Verpasste Chancen. Es war, als würde ein höhnischer Gott mir zurufen: „Bitte, ich habe all deine Probleme für dich gelöst. Bist du zufrieden?“

„Warst … also bist du denn depressiv oder so?“, fragte Sonja unterdessen vorsichtig. „Auf der Party wirktest du so gut gelaunt, ich fand das richtig schön mit dir. Ich hätte nicht gedacht … also, dass es dir so schlecht geht.“

Ich schüttelte lächelnd den Kopf und wischte mir die Tränen aus den Augen, bevor sie einen Weg hinaus fanden. „Ich habe keine Depression, ich bin nicht krank. Nur verdammt selbstgerecht und selbstmitleidig. Oder ich war es. Das ist Vergangenheit. “

„Du willst dich nicht mehr umbringen?“

„Warum sollte ich? Ich glaube, ehrlich gesagt, sowieso nicht, dass ich unter den neuen Umständen noch lange zu leben habe, also lasse ich es einfach geschehen. Sich dazu zu entschließen ist der eine Schritt, es dann wirklich zu tun ist der andere, und der ist nicht einfach. Ich weiß nicht, ob ich das noch mal schaffe. Glaub mir.“

Sie nickte langsam. „Ich weiß“, sagte sie leise.

Diesmal verstand ich nur mit Verspätung. „Was?“ Mehr brachte ich nicht raus.

„Ja.“ Sie atmete scharf ein. „Aber nicht vorher. Vorher war alles gut.“ Sie stützte ihr Gesicht in ihre Hände und begann zu weinen. Wieder zu weinen, wie ich ahnte. „Warum soll ich mir das antun?“

Ich rückte meinen Stuhl neben ihren, schloss sie in meine Arme und hielt sie. Auf ihre Frage fiel mir keine vernünftige Antwort ein. Mein Hauptgrund weiterzumachen war in allererster Linie Neugier. Wie und wie lange würde ich in so einer Welt überleben können? Und immer wieder: Was war geschehen?

Sie löste sich aus meiner Umarmung, lehnte sich aber weiter an mich. „Aber ich habe den Mut nicht“, sagte sie wieder leise. „Und dann kamen David, Susi und Matthias. Und dann du.“

Mir wurde etwas mulmig. Eben noch hatte ich mich mit der Freiheit der großen Gleichgültigkeit angefreundet und insgeheim die Menschen verachtet, die schon wieder Pläne schmiedeten und einfach weitermachen wollten wie zuvor. Und jetzt? Konnte ich mir meine Gleichgültigkeit noch leisten?

„Und jetzt?“, fragte ich also.

„Wie, jetzt?“

„Ich meine … willst du immer noch …?“

Sonja setzte sich aufrecht und schaute nachdenklich auf das verdunkelte Wohnzimmerfenster, wie durch die Jalousie hindurch und auf die Welt dahinter. Sie schüttelte den Kopf. „Es tut gut, mit jemandem zu reden. Es scheint dann alles nicht mehr … So groß. Fast wieder normal.“

Ich lächelte schief. „Warte, bis du wieder draußen bist.“

„Ja.“ Sie lachte. „Vielleicht hätte ich doch mit den dreien mitgehen sollen. Gesellschaft scheint mir gutzutun.“

„Sie treffen sich heute Abend um acht wieder an der Kirche. Hier in Quettingen. Die freuen sich bestimmt, wenn du kommst.“

„Ich weiß nicht“, sagte sie und schaute lange auf das Bild, das sie mit ihrem Freund zeigte. „Was ist“, sie flüsterte fast, „was ist, wenn er doch zurückkommt? Und ich bin nicht da?“

Ich sagte nichts.

„Albern, oder?“ Sie lachte traurig, ich sah, dass ihre Tränen wieder zu fließen begannen.

„Ich weiß auch nicht, Sonja“, sagte ich, und ich meinte es ernst. Die Menschheit war am Samstagmorgen verschwunden, einfach so. Schien es da unvernünftig anzunehmen, dass sie am Montagabend wiederkommen würde, einfach so? Vernunft war ein zweifelhaftes Konzept geworden. „Vielleicht kommt er ja wirklich wieder. Vielleicht kommen alle wieder.“

„Ja, vielleicht.“ Sie seufzte tief. „Aber ich kann nicht daran glauben. Ich kann hoffen, ich hoffe es so sehr. Aber hier“, sie tippte an ihre Stirn, „und hier“, sie legte eine Hand auf ihre linke Brust, „glaube ich es nicht. Du etwa?“

„Nein“, gab ich zu.

Sie nickte, und es tat gut, mit ihr zu schweigen. Seit ich mich in der Nacht der Party von ihr verabschiedet hatte, hatte ich mich nicht mehr so wohl und ruhig gefühlt.

„Sollen wir mit ihnen mitgehen?“, fragte ich nach einer langen Weile.

„Ich glaube nicht, dass ich das schon kann“, sagte sie. „Es tut wahnsinnig gut, mit dir zu reden, nicht mehr alleine zu sein. Aber eine Gruppe … neue Pläne, gemeinsame Pläne … Das ist mir zu viel. Vielleicht später? Du hast doch gesagt, dass Jan überall Zettel aufhängt. Wir können ja dann später nachkommen.“

Wir. Die. Sie sprach völlig selbstverständlich so, und ich hatte eine vage Ahnung, dass ich protestieren sollte. Seit wann gab es ein „Wir“? Wieso waren die anderen „Die“? Aber ich protestierte nicht.

SONJA

Jan war gerade um den kaum merklichen Knick gebogen, den die Quettinger Straße in ihrem unteren Verlauf machte, und in Richtung Sonnenuntergang verschwunden. Damit hatten sie den letzten anderen Menschen aus den Augen verloren, den sie für eine ganze Weile sehen sollten.

„Jetzt sind wir die Könige von Leverkusen, oder?“, fragte Sonja. Die ganze Stadt gehörte ihnen. Die Erkenntnis traf sie ganz anders als der Gedanke, hier alleine zu sein. Jo setzte das Fernglas ab.

„Was meinst du, wohin sie wollen?“, fragte Sonja.

Er zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Vielleicht bleiben sie ja in der Nähe.“

Sonja staunte ein wenig. Hatte er nicht genau hingesehen? „Ihr Gepäck sah nicht so aus. Und die Pferde.“

„Stimmt“, gab Jo zu.

Dort unten hatten sie sich in zwei Gruppen geteilt, von Beginn an war zu sehen gewesen, dass es Konflikte gab. Sonja stand mit Jo auf dem Balkon, nun ganz im Schatten der hereinbrechenden Dämmerung und zusätzlich durch zwei Sonnenschirme verdeckt. Sie hatte auch die Idee mit den Ferngläsern gehabt, eines hatte sie aus ihrer eigenen Trekkingausrüstung beigesteuert, für das andere war sie in die Wohnung des Rentnerehepaars von unten eingebrochen. Werner Gräf war begeisterter Hobby-Ornithologe gewesen, Sonja wusste daher, wo er das Fernglas aufbewahrte.

Jo hatte Sonja die Wohnung gezeigt, von der aus er schon am Mittag die Gruppe beobachtet hatte. Als sie gegen halb acht ihre Logenplätze bezogen, war der Treffpunkt vor der Kirche noch fast leer. Nur Jan war dort. Jetzt hatte er nichts mehr von der albernen Attitüde, mit der er auf der Party wieder genervt hatte, er hielt sich anders, gerade und bewegte sich sogar sparsamer und kontrollierter, nichts war mehr übrig von der clownesken Hektik. Sonja hatte eine Ahnung, dass das der echte Jan war, der Mann, der aus dem albernen Jungen geworden war, und er gefiel ihr. Er hatte einen großen Rucksack mitgebracht, der schwer aussah, den zu tragen ihm aber sichtbar leicht fiel. Jan war ja Soldat, fiel ihr ein, für ihn war es sicher nicht schwer, einen Rucksack so zu packen, dass er ihn gut tragen konnte. An dem Rucksack war ein Beutel befestigt, den Sonja unschwer als Schlafsack erkannte, Jan selbst sah aus wie ein Model für Outdoorbekleidung. Wenn er das Zeug nicht zu Hause gehabt hatte, hatte er einen Trekkingladen geplündert. Sonja konnte erkennen, dass Jan wusste, was er da an Kleidung ausgesucht hatte. Und dass Geld keine Rolle mehr spielte. An den Füßen aber trug er keine Wanderschuhe, sondern Militärstiefel, die ebenso zuverlässig wie getragen aussahen. Er legte jetzt seinen Rucksack ab, schaute in die Runde, blickte auf seine Armbanduhr und begann dann in dem Rucksack zu wühlen.

Daniela kam wenig später und führte zwei Pferde. Jo deutete in ihre Richtung und sagte leise:

„Die hat sich ganz schön gefangen.“

„Was meinst du?“, fragte Sonja.

„Heute Mittag war sie völlig durch den Wind. Wie … ein Geist. Jetzt geht es ihr wohl besser. Vielleicht wegen der Tiere.“

,Ich war auch wie ein Geist‘, dachte Sonja und warf Jo einen Blick zu, dankbar für seine Freundlichkeit. Sie hatte sich entschieden, sich mit ihm zusammenzutun, und daher musste sie ihm wohl oder übel auch vertrauen – aber das schien nicht schwer.

Jo schien Recht zu haben, was Daniela betraf. Sie sprach immer wieder mit den Pferden. Jan eilte ihr entgegen, sobald sie in Sichtweite war. Sonja hörte nicht, was er sagte, aber da war viel Lachen und Nicken. Nach und nach kamen immer mehr Menschen, sie kamen über die Hauptstraße und aus den Seitenstraßen, alleine und in Gruppen, zielstrebig und gut für eine lange Reise gerüstet die einen, taumelnd und zögernd und gerade mit dem, was sie am Leib trugen, die anderen. Sonja erkannte alle, auch wenn sie nicht alle mit Namen hätte benennen können: Niemand war dabei, der nicht auf der Party gewesen wäre. Sie keuchte.

„Alles in Ordnung mit dir?“, fragte Jo.

„Ja … es sind nur so viele.“

Er nickte nur. Sonja versuchte sich an die Reizüberflutung zu gewöhnen und suchte sich einen Punkt, an den sie sich halten konnte. Sie fand ihn an Daniel. Er war zu Schulzeiten kurz mit Doris zusammen gewesen, auf der Party hatte sie ihn nur flüchtig gesehen, irgendjemand meinte, er sei jetzt Fotograf. Er gehörte zu den Letzten, die eintrafen, gemeinsam mit einer rothaarigen Frau, mit der Sonja keinen Namen verbinden konnte. Aber was hatte der da an seinem Rucksack? Sonja lehnte sich unwillkürlich ein Stück nach vorne, als die beiden die Treppe zum Kirchenvorplatz hochstiegen.

„Was ist das denn? Was hat der da?“ Gleichzeitig lauschte sie. Da war ein seltsames Geräusch – seltsam vertraut.

„Wer?“, fragte Jo und lauschte ebenfalls.

„Daniel.“ Das Geräusch wurde stärker, jetzt war sie sicher – sie hörte ein Auto. Oder mehrere.

„Wer ist Daniel?“

„Daniel, aus unserer Stufe. Aus der a. Ist gerade angekommen, mit der Rothaarigen … keine Ahnung, wie die heißt …“

„Esther“, sagte Jo so automatisch, dass Sonja ihm einen schnellen Seitenblick zuwarf. Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Daniel zu. Jetzt drehte er sich leicht.

„Schau doch mal. Hat der da einen Bogen?“ Ja, es war offensichtlich. An seinem Rucksack war ein großer Bogen aus Kunststoff befestigt. Er sah aber nicht aus wie eines dieser modernen Sportgeräte mit allerlei Anhängseln, mehr wie eine funktionstüchtige Nachbildung alter Recurvebögen.

„Was will der denn damit?“, fragte Jo mehr sich selbst als Sonja.

Sie wollte antworten, dass sie das auch nicht wisse, doch dann war der Motorenlärm nah, und aus der Maurinusstraße bogen drei Fahrzeuge: ein schwarzer S-Klasse Mercedes, ein riesiger Abschleppwagen mit Kran und ein noch riesigerer Reisebus, der nach unverschämt viel Komfort aussah. Der Mercedes und der Bus hupten laut und fröhlich, die kleine Menschenmenge vor der Kirche, vielleicht um die sechzig Personen und damit mehr als die Hälfte ihrer alten Stufe, begrüßte sie mit Winken und Jubeln.

Jo sah Sonja an. „Sieht durchdacht aus, oder? In dem Bus lässt es sich bestimmt leben. Und mit dem Kran können sie Hindernisse aus dem Weg räumen.“

Sonja erschrak. Sie hatten zwar darüber gesprochen, ob sie sich der Gruppe anschließen sollten oder nicht, aber sie hatte gedacht, dass sei eher pro forma gewesen. Jo hatte ihr geholfen, kleine Plakate zu schreiben, für den Fall, dass Martin in ihrer Abwesenheit zurückkommen würde, und sie im und am Haus aufzuhängen. Sie war bereit, notfalls auch wieder alleine weiterzumachen, aber sie hatte darauf vertraut, dass Jo bei ihr bleiben würde. Sie hatten schon Pläne geschmiedet, als Überlebensteam. Sie atmete durch und versuchte, ihren Puls zu senken – die alte Panik wollte hochkommen. Wie immer, wenn sie fürchtete, dass jemand ihr Vertrauen verletzte. Und sie konnte das jetzt absolut nicht brauchen. Wieder ruhiger sagte sie:

„Willst du doch mit? Wir hatten ja was anderes besprochen. Und wir wollten doch später in diese Villa ziehen. Aber wenn du willst …“

Er seufzte. Sonja fühlte sich ertappt und ärgerte sich darüber.

„Ich sage ja gar nicht, dass ich mit ihnen mitgehen will“, sagte Jo. „Aber du musst schon zugeben, dass das ziemlich durchdacht aussieht.“

„Ja“, gab sie zu und versuchte, es freundlich klingen zu lassen. Die Kälte in ihr wollte zurückkommen. Sie kämpfte dagegen und suchte einen konstruktiven Gedanken. „Sie lassen bestimmt wieder Nachrichten da. Wo sie hinfahren und so. Wir könnten ihnen doch immer noch folgen. Später … falls … also, falls wir irgendwie müssen. Oder wollen.“

Jo erkannte die Goldene Brücke und betrat sie, wenn er auch nicht völlig überzeugt klang.

„Gute Idee. Klingt nach einem Plan. Machen wir so.“

Sonja atmete durch. Unten wurden die Stimmen unterdessen lauter, einzelne Worte klangen nach Meinungsverschiedenheiten: „Sinnlos“, „Was soll das denn?“, „Keine Chance“ und Ähnliches. Gleichzeitig nahmen Sonja und Jo die Ferngläser wieder vor die Augen. Für Sonja sah es nicht wirklich nach Streit aus, aber es wurde viel gestikuliert und laut geredet. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung schienen die Fahrzeuge und die Pferde zu stehen, um sie hatten sich wie unwillkürlich zwei Gruppen gebildet. Die um die Pferde war etwas kleiner, Jan, Daniela und Esther schienen dort die Wortführer zu sein. Für die größere Autogruppe sprachen vor allem David und Doris. Sie hatte den Kranwagen gefahren, natürlich, wer sonst. Für einen Moment war Sonja die Idee, Teil der Gruppe zu werden, erträglicher – mit Doris konnte sie sich das vorstellen. Aber wenn sie sah, wie sie da unten stritten, verging ihr die Lust wieder. Mit einem Mal bekam die Frage, die sie Sonja gestellt hatten, Sinn: ob man einen Bauernhof haben wolle oder nicht. Ein Teil der Gruppe wollte mit den Fahrzeugen fortfahren, wohin, konnte sie nicht hören. Die anderen schienen vorzuhaben, zu Fuß zu gehen, Fahrrad zu fahren oder auf den Pferden zu reiten.

„Was würdest du machen?“, fragte Jo.

Die Panik wollte wieder aufzucken, aber Sonja hielt sie nieder. Er hatte die selbstverständlichste Frage der Welt gestellt. „Ich glaube, ich wäre bei der Autogruppe“, sagte sie also.

Jo nickte entschieden. „Ich auch. Vom einundzwanzigsten Jahrhundert zurück in die Bronzezeit – bisschen heftig, oder?“

Sonja lächelte. Der Aspekt der Frage schien ihr völlig gleichgültig. „Das meine ich nicht. Da könnte ich mich schwer entscheiden. Aber ich kann Matthias nicht leiden, und Eva hat mir am Freitag noch erklärt, wie wenig sie meinen Lebensstil verstehen kann.“ Sie schüttelte den Kopf bei der Erinnerung. „Jan kann so ein blöder Clown sein … Die Einzige von denen, die ich wirklich mag, ist Doris. Mit der würde ich eher zusammenleben wollen.“

Jo lachte. „Auch ein Ansatz.“

Er sah sie an, Sonja schaute zurück. Die Frage, mit der sie die Goldene Brücke gebaut hatte, schwebte zwischen ihnen. Sonja wollte nicht antworten, aber er hatte den Handel akzeptiert, zu ihren Bedingungen, jetzt musste sie es auch tun. „Also, wenn wir einer Gruppe folgen, dann den Autofahrern?“, sagte sie schließlich.

Jo schien erleichtert. „Abgemacht.“

Vor der Kirche waren sie unterdessen zu einer salomonischen Lösung gekommen. Jetzt wurden Hände geschüttelt und Umarmungen ausgetauscht. Dann bemannte die größere Gruppe um Doris und David die Fahrzeuge und fuhr winkend und hupend davon. Die Zurückgebliebenen winkten und riefen ihnen nach, bis sie außer Sichtweite waren. Schließlich hielt Jan eine kurze Rede, die Gruppe nahm ihre Rucksäcke auf und setzte sich in Bewegung. Daniela führte die Pferde, Carmen trug tatsächlich, neben ihrem Rucksack, auch einen Gitarrenkoffer. Jan bildete den Schluss.

Sonja ernannte Jo und sich zu Königen von Leverkusen. Sie spürte die Leere wieder körperlich, aber anders als zuvor – eine unerträgliche Weite um sich und ihre eigene Winzigkeit darin. Aber die Kälte war nicht mehr so schlimm. Wahrscheinlich würde sie immer da sein – aber sie war nicht mehr einsam. Alleine ja. Aber alleine zu zweit.

956,63 ₽
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Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
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612 стр. 5 иллюстраций
ISBN:
9783942625203
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