Читать книгу: «Shana», страница 8

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„Wart mal!“, lachte Adam und verschwand durch die Durchgangstür im Nebenzimmer. Kurz darauf kehrte er mit einem kleinen Spiegel in der Hand zurück und reichte ihn Belly beinahe feierlich.

„Hier, sieh selbst! Ich find’s toll!“

Mit einer bösen Vorahnung nahm Belly den Spiegel in die Hand und führte ihn langsam vor das Gesicht. Sein puterrotes Spiegelbild blickte ihm entgegen. Und dann sah er es. Sein Haarschopf war in der Mitte geteilt! Eine etwa fünf Zentimeter breite Bresche aus blanker Haut glänzte auf seinem Schädel. Rechts und links fielen die übriggebliebenen Haare herab. Das sah im Grunde unglaublich komisch aus, aber wenn man selbst so aussah, fand man das Ganze absolut furchtbar. Belly ließ den Spiegel sinken.

„Das darf doch nicht wahr sein …“, flüsterte er. „Diese gemeine Kugel muss mich erwischt haben!“

„Ja“, lachte Shana. „Aber so richtig satt kann sie nicht geworden sein. Der Nachtisch ist ja noch oben!“

Belly wollte wütend auffahren, aber Shana winkte beschwichtigend ab. „Hey, war nicht so gemeint! Das wächst schon wieder nach. Du kannst ja eine Mütze tragen bei den Videokonferenzen.“

„Mir gefällt’s“, meinte Adam noch einmal. „Sieh doch mich an! Ich bin ganz nackt. Und, hat’s dich gestört?“

„Nein“, gab Belly zu. „Nur am Anfang. Und nur ganz kurz.“

„Na also“, bekräftigte Adam und hakte das Thema damit ab. Dann wandte er sich an den anderen Goshi und stellte ihn Shana und Belly vor.

„Das ist meine Frau Goshi!“

„Freut mich“, sagte Shana und reichte ihr die Hand.

„Mich auch. Mein Mann hat mir alles erzählt, als ihr weg wart.“

Immer noch bummerten die Haarfresser gegen die Eingangstür, aber niemand nahm mehr sonderlich Notiz von ihnen. Während Belly sich immer wieder über die kahle Stelle auf seinem Kopf fuhr, dachte er, dass Adams Frau genauso aussah wie Adam selbst. Absolut identisch. Rufus hatte nicht viel Fantasie bewiesen, was die Gestaltung der Geschlechter anging. Was soll’s, dachte Belly, wenn sie sich mochten, war es egal.

Die Goshifrau trat zu Belly und reichte auch ihm die Hand. „Wir sind so dankbar, was ihr getan habt. Jetzt können wir die Katongis wieder füttern und endlich wieder hinaus in die Sonne gehen!“

„Ja, und ein Fell werdet ihr auch wieder tragen!“, sagte Belly unsicher.

„Du weißt gar nicht, was das für uns bedeutet.“ Dann wandte sich Adams Frau zu ihrem Mann um. „Meinst du … meinst du, ich kann sie das fragen?“

Adam nickte ihr aufmunternd zu. „Ganz bestimmt. Frag einfach!“

Shana und Belly wechselten einen fragenden Blick. Belly zuckte die Schultern. Er wusste auch nicht, was jetzt folgen würde.

„Ich … ich wollte euch fragen, ob … ob ihr mir auch einen Namen geben könnt!“

Shana lächelte. „Was ist, Belly, können wir doch, oder?“

„Klar!“

„Ich glaube, ich weiß auch schon, welchen“, meinte Shana und zwinkerte Belly zu. „Wie wäre es mit Eva?“

„Eva …“ Die Frau des Goshis ließ den Namen auf sich einwirken. Dann leuchteten ihre Augen fröhlich auf. „Eva! Das ist toll! Danke, vielen Dank! Ab jetzt will ich Eva heißen!“

Belly und Shana schmunzelten. Adam und Eva waren die ersten Namen für die Menschen gewesen, da passte es doch eigentlich gut, wenn dies auch die ersten Namen für das Volk der Goshis wurden. Shana trat vor und legte Eva die Hand auf die Schulter.

„Ich finde es toll, dass wir euch kennen gelernt haben. Aber … aber wir …“

„Ihr wollt wieder zurück in eure Welt, stimmt’s?“

„Ja, das wollen wir. Wir sind gar nicht mit Absicht hierher geraten, aber jetzt sind wir froh, dass es passiert ist.“

„Das sind wir auch“, lachte Adam. „Es ist schade, dass ihr so schnell wieder gehen wollt. Die anderen wollen euch alle kennen lernen, und wir könnten ein Fest feiern.“

Er winkte ab, als Shana etwas entgegnen wollte. „Ja, ja, ich weiß. Ich würde wohl auch zurück nach Hause wollen. Aber darf ich euch noch um etwas bitten?“

Belly hob fragend die Brauen. „Ja?“

„Es wäre schön, wenn ihr jedem von uns einen Namen geben würdet. Könnt ihr das?“

„Hm“, machte Belly. „Wie viele seid ihr denn?“

„Unser Volk besteht aus fünfzig Goshis“, erwiderte Adam stolz.

„Das kriegen wir hin“, lächelte Shana. „Was meinst du, Belly?“

„Klar kriegen wir das hin. Jeder von euch wird einen eigenen Namen bekommen, das versprechen wir euch. Aber erst füttern wir die Rasierapparate!“

Unter dem Gelächter der anderen wollte Belly vorsichtig die Jacke von dem Traumbild mit den Haaren nehmen, als ihm etwas einfiel.

„Hey, wir müssen wohl doch erst die Namen vergeben. Es ist jetzt mitten am Tag, da funktionieren die Traumbilder nicht!“

„Stimmt“, musste Shana zugeben. Sie würden noch mindestens drei weitere Stunden hierbleiben müssen. Aber dann dachte sie an die liebenswürdigen Goshis und fand, dass das wahrlich nicht das Schlimmste war. Und ein weiterer Gedanke kam ihr in den Sinn.

„Belly, wir müssen sowieso noch ein Traumbild malen.“

Ihr Freund schaute sie verständnislos an. „Wieso?“

„Na, willst du bei den Haaren leben oder wieder nach Hause?“

Belly lachte. “Stimmt! Wir müssen ein Bild von zu Hause malen. Nach Haarland will ich nicht! Vielleicht könnt ihr ja die Goshis alle in das Haarbild kriegen, dann seid ihr sie los!“

„Die Königin geht da bestimmt nicht durch!“, wandte Adam ein. „Nein, lasst man, die Haarfresser sind eigentlich ganz nett, wenn sie satt sind. Und jetzt können wir sie wieder füttern. Aber vielleicht könnt ihr uns ja mal besuchen.“

„Das machen wir ganz bestimmt, versprochen! Und Rufus kriegt was zu hören …“

„Wer ist denn dieser Rufus?“, fragte Eva neugierig.

„Ach, das ist eine lange Geschichte“, lächelte Shana. „Eines Tages werden wir sie euch vielleicht erzählen. Aber jetzt denken wir uns für euch Namen aus!“

Die folgenden drei Stunden verbrachten sie damit, sich die verschiedensten und schönsten Namen für die Goshis auszudenken. Nachdem sie erst einmal Gefallen daran gefunden hatten, eigene Namen zu besitzen, machten sich Adam und Eva einen Spaß daraus, sich an der Namenssuche für die anderen zu beteiligen. Schließlich hatten sie achtundvierzig beisammen, und Shana und Belly waren sich sicher, selbst wenn der eine oder andere einem Goshi nicht gefallen würde, würden sie sich schon einigen. Als sie fertig waren, hob Adam die Hand.

„In einer halben Stunde wird es wieder dunkel. Es ist besser, ihr malt euer Traumbild noch, wenn es hell ist, sonst wird es schwer, nicht gleich hineingezogen zu werden.“

„Stimmt“, meinte Shana und nahm den kleinen Tiegel mit der Traumfarbe in die Hand, den sie vorhin auf dem Tischchen abgestellt hatte.

„Darf ich es malen?“, fragte Belly und schaute seine Freundin bittend an.

„Hm, na klar.“ Shana überlegte nicht lange. „Schließlich bist du ja erst durch mich in den ganzen Schlamassel mit reingeraten. Glaubst du, du bekommst das hin?“

Belly nickte heftig. „Kein Problem. Ich stell mir einfach dein Zimmer vor, okay?“

„Okay, dann mach mal.“ Sie zog den Pinsel aus dem Gürtel, in dem er seit dem Abenteuer in dem Bruthügel immer noch steckte, und reichte ihn Belly. „Hier. Ach, Adam, habt ihr eigentlich eine Leinwand oder Papier? Sonst können wir nicht malen.“

„Haben wir“, nickte der Goshi fröhlich. „Der große Schöpfer hat uns genug davon dagelassen, aber ich habe es in der Kammer verschlossen. Wir dürfen es nur niemals benutzen. Nur, wenn ein großes Unglück geschieht, so wie damals, als uns das Haarbild kaputtgegangen ist.“

„Sonst dürft ihr es nicht benutzen?“, grübelte Belly.

„Ich glaube, ich weiß, warum nicht“, raunte Shana ihm ins Ohr. „Weil Rufus die Leinwand braucht, wenn er hierherkommt und wieder zurück will.“

„Na ja“, sagte Belly laut. „Der große Schöpfer weiß, wie gefährlich die Bilder sein können. Aber er vertraut euch anscheinend wirklich sehr.“

„Hm“, machte Adam. „Das kann er auch. Wir werden nur im Notfall eines malen. Ganz bestimmt. Warte, Belly, ich hole dir eine Leinwand.“

Shana schloss sich dem kleinen Goshi neugierig an. „Zeig mir doch mal den Rest eures Hauses, Adam!“

„Gerne, komm mit!“

Adam, seine Frau und Shana verschwanden im Nebenzimmer. Belly quetschte sich auf einen Stuhl und öffnete schon mal den Tiegel. Nachdenklich betrachtete er das dickflüssige Gel, das imstande war, eine unfassbare Magie zu entwickeln. Je länger er in den Topf starrte, desto mehr nahm ein Gedanke Form an. Er fasste sich an die blanke Stelle auf seinem Kopf und nickte entschlossen. Als Adam kurz hereinkam und ihm die Leinwand reichte, bedankte er sich abwesend. Er hatte einen Entschluss gefasst. Nachdenklich schaute er sich um. Eine Staffelei gab es hier nicht. Aber ein Fensterbrett! Belly zwängte sich wieder aus dem Stuhl heraus, begab sich zum Fenster und stellte die Leinwand auf dem Fensterbrett ab. So müsste es gehen. Dann ging er zurück, holte das Gel und den Pinsel.

Als er aus dem Fenster blickte, war ihm, als würde es schon leicht dämmern. Wenn er malen wollte, musste er es jetzt tun. Er schloss die Augen. Ein, zwei Minuten brauchte er, um sich zu konzentrieren, ruhig atmete er ein und aus. Vor seinem geistigen Auge entstand das Bild der Umgebung, die er haben wollte. Als er sich völlig fallen gelassen hatte, stieg sein Arm wie von selbst empor und führte den Pinsel zur Leinwand. Mit einem schmatzenden Geräusch verschmolzen die Borsten mit dem Tuch. Sekunden später setzte sich der Pinsel in Bewegung, gelenkt nur von den Gedanken des Jungen, der ihn hielt.

Kurze Zeit später war das Bild bereits vollendet. Sanft löste sich der Pinsel von ihm. Belly stand noch für Sekunden mit geschlossenen Augen davor. Auf seinem Gesicht erschien ein glückliches Lächeln. Dann öffnete er die Augen und nickte zufrieden. Das Bild war gelungen. Es konnte losgehen.

Er wandte sich von dem Bild ab und blickte durch das Fenster auf den Hof. Es war bereits fast dunkel! Vorsichtig verschloss er den Tiegel und stellte ihn auf dem Fensterbrett ab. Den Pinsel legte er daneben. Er lauschte. Aus dem Bild erklangen leise Geräusche! Er musste aufpassen, jetzt nicht zu nah heranzugehen. Aber andererseits wollte er nichts wie weg von hier. Wo blieb nur Shana?

Gerade als er schon darüber nachdachte, sie zu holen, ging die Tür auf, und die anderen kamen zurück. Belly drehte sich um und verdeckte das Bild mit seinem breiten Rücken.

„Hey, Belly“, sagte Shana strahlend. “Die beiden haben ein süßes Haus! So eins hätte ich auch gern und nicht so eine Wohnwabe wie wir.“

„Shana …“, sagte Belly drucksend. „Es ist schon dunkel. Lass uns gehen. Das Bild ist fertig.“

„Oh, toll, zeig mal!“

„Ja, gleich“, meinte Belly eilig. Dann machte er einen Satz auf die verblüfften Goshis zu und schüttelte beiden die Hand. „Es war toll, euch kennen gelernt zu haben! Wir kommen ganz bestimmt wieder! Passt auf euch auf! Auf Wiedersehen!“

Vollkommen baff verfolgte Shana, wie ihr Freund anscheinend jede Form von Höflichkeit verloren zu haben schien und nur noch weg wollte.

„Hey, Belly …“, begann sie, doch der ließ sie nicht zu Wort kommen. Er nahm sie bei der Hand und zerrte sie mit sich zum Fenster.

„Wir müssen uns beeilen!“, rief er entschuldigend zurück zu den beiden Goshis. „Sonst geht das Bild gleich nicht mehr!“

Shana sträubte sich. Was war denn bloß in Belly gefahren? Hatte er zu lange nichts mehr gegessen? Wirkte sich das so aus?

„Lass mich los! Was ist denn los mit dir? Wir können doch nicht einfach so gehen! Lass uns doch wenigstens noch richtig verabschieden! Du bist unhöflich! Belly, lass … mich … los!“

Belly überrumpelte sie. Ein Ruck, und sie standen am Fenster, an dem die Leinwand lehnte. Shana wollte zurückweichen, aber sie war bereits zu nah. Lichtfinger griffen nach ihr, umhüllten sie, und ehe sie auch nur reagieren konnte, lösten sich ihre Konturen auf, flossen in den Lichtstrahl, und als dieser sich mit einem Wuuuuschhhh wieder zurückzog, nahm er Shana mit sich.

Belly drehte sich noch einmal zu Adam und Eva um. „Entschuldigt, aber wir besuchen euch ganz bestimmt einmal! Ich wollte Shana überraschen, versteht ihr? Macht’s gut!“

Damit drehte er sich um, ließ sich von den Strahlen einfangen und auflösen, und folgte Shana hinein in das Traumbild.

Zurück blieben die beiden Goshis, die dem Ganzen recht verblüfft zugeschaut hatten. Nach ein paar Sekunden traten sie vorsichtig vor das Bild und blieben in gebührendem Abstand vor ihm stehen. Nachdenklich betrachteten sie das Motiv.

„Hm“, machte Eva. „Die Menschen haben aber ein merkwürdiges Zuhause, findest du nicht?“

„Ja, finde ich“, meinte Adam. „Aber Shana meinte, unser Haus sei süß, und sie würde auch lieber so eins haben statt der Wohnwabe, in der sie wohnt. Ich weiß nicht, aber wenn das die Wohnwabe ist … ich finde sie wunderschön.“

Seine Frau nickte. „Komm dem Bild lieber nicht zu nahe.“

„Keine Sorge, Eva“, lächelte der Goshi, der sichtlich stolz auf den Namen seiner Frau war. „Wenn es hell wird, schließe ich es in der Kammer ein.“

„Dann nimm aber auch die Traumfarbe und den Pinsel mit.“

„Mach ich.“

Glücklich nahmen sich die beiden an die Hand und betrachteten versonnen das Bild, das mit einem Mal so richtig zum Leben erwachte. Doch kurze Zeit später geschah etwas, das sie zu Tode erschrecken sollte …

Kapitel 6

Dieses Mal war es Belly, der zuerst das Bewusstsein wiedererlangte. Langsam lichtete sich der Nebel. Ihm war unwohl. Alles schwankte. Doch das waren vermutlich die Begleiterscheinungen dieser Traumbildfahrten. Das erste, was er bewusst wahrnahm, war der Geruch. Ein unglaublich intensiver Geruch nach Holz. Altem Holz. Er lächelte. Das hatte er erwartet. Aber es war nicht nur Holz. Ein säuerlicher Alkoholdunst und kalter Tabak drangen ebenfalls in seine Nase. Belly lauschte. Ein Knarzen ertönte. Er fühlte, wie sich der Boden unter ihm leicht nach rechts neigte, dann einen Moment lang in der Schräge verharrte, um dann wieder nach links zu driften. Wieder das Knarzen. Nur dicke Holzbalken konnten solche Geräusche hervorbringen. Der Untergrund, auf dem er lag, war hart. Eine Matratze war es jedenfalls nicht.

Belly holte Luft. Er war jetzt wieder soweit klar, dass er die Augen öffnen konnte. Was er erblickte, ließ sein Herz schneller schlagen. Ein kleiner Raum, ein kleines, in die Wand eingebautes Bett, mehr eine Lagerstatt, darüber Borde mit dicken Büchern und Karten, ein schwerer Tisch aus dunklem Holz, und an der Decke Haken, an denen Humpen hingen, die im Einklang mit den Bewegungen des Raumes hin und her schwangen. Belly registrierte, dass er auf blankgewienerten Bohlen lag, die diesen unglaublichen Geruch verströmten. Er verdrehte den Kopf und erblickte Shana, die dicht neben ihm lag und vor sich hin murmelte. Abrupt richtete er sich auf. Wie eine heiße Welle überkam ihn die Erkenntnis, was er angerichtet hatte. Aber dann siegte sein Trotz. Er hatte es geschafft. Endlich war er da, wo er immer schon hin wollte. Dies war eine Kajüte, soviel stand fest. Er suchte den Raum mit den Augen ab. Irgendwo müsste sich doch ein Hinweis finden …

Belly …“, krächzte jemand neben ihm.

Shana! durchfuhr es Belly. Unwillkürlich rückte er ein Stück von ihr ab. Oh Mann, jetzt würde er was zu hören bekommen …

Belly … wo sind wir? Was hast du getan? Warum …?“

Vorsichtig und nach Halt suchend, weil sich der Raum erneut von einer Seite zur anderen neigte, richtete auch sie sich auf. Belly schluckte. Jetzt ging’s los.

Was ist das hier? Belly! Gib mir eine Antwort! Das … ist … nicht … mein … Zimmer!“

„Ich …“ Belly hatte eine rettende Idee. „Ich war noch nie in deinem Zimmer.“

Shana stieg die Zornesröte ins Gesicht. „Willst du mich veräppeln? Du warst noch nie in …“ Plötzlich ging ihr auf, dass er recht hatte. Sie hatte Belly tatsächlich noch nie eingeladen. Bisher waren immer nur Krissa und die anderen Mädchen bei ihr gewesen. Ihre Eltern fanden, dass es für Jungs noch zu früh war, und die Anifilmpartys gestatteten sie ihr zu Hause auch nicht.

„Du warst noch nie in meinem Zimmer und willst es dann als Traumbild malen? Ja, hast du sie nicht mehr alle?“

„Ich wollte dein Zimmer gar nicht malen …“, murmelte Belly.

Was? Noch mal, bitte! Du wolltest mein Zimmer nicht malen?“

„Hm.“

Was zum Teufel wolltest du dann?“

„Ich wollte auf das Schiff!“ Belly wurde jetzt auch laut. „Ich wollte auf das Schiff, von dem ich immer geträumt habe! Es war doch die letzte Gelegenheit! Nie wieder werden mich meine Eltern zu dir oder in die verbotene Zone lassen, wenn ich so lange nicht nach Hause komme! Ich hab immer davon geträumt, Shana. Du hast mich doch zu Rufus gebracht! Deinetwegen bin ich in das Bild mit den Haarfressern gezogen worden! Ich wollte noch nicht nach Hause. Da gibt’s so oder so Ärger. Also …“

„Also hast du gedacht, du könntest vorher noch einen Abstecher auf dein Schiff machen.“

„Ja.“

„Belly …“ Shanas Stimme klang gefährlich leise. Sie breitete die Arme aus und machte eine Geste in den Raum hinein. „ …dies ist ganz bestimmt ein Schiff. Toll. Du hast dein Ziel erreicht. Sieh es dir an. Du wirst bestimmt glücklich mit deinem Schiff. Vielleicht wirst du ja eines Tages sogar Kapitän!“

„Shana …“

„Belly …“ Shana zitterte vor Wut. Dann brach es aus ihr heraus. „Du blöder Idiot! Wir werden nie wieder zurückkommen! Wir werden auf diesem verdammten Schiff verrotten!“

„Hey, Shana, schrei mich nicht so an! Wir brauchen doch bloß …“ Plötzlich überkam ihn eine heiße Welle der Erkenntnis. Ihm wurde speiübel. Fassungslos starrte er in Shanas vor Wut blitzenden Augen.

Du hast die Traumfarbe vergessen!“, brüllte Shana ihn an. „Eine super Idee, ein anderes Bild zu malen und die Farbe zu vergessen! Ganz klasse, Belly! Wir werden für immer in dieser Welt gefangen bleiben!“

Bellys Gedanken überschlugen sich. Alles wirbelte in seinem Kopf. Shana hatte recht. Vor lauter Egoismus hatte er einen unverzeihlichen Fehler begangen. Das Gel und der Pinsel lagen noch immer auf dem Fensterbrett bei den Goshis. Er spürte, wie ihm die Tränen in die Augen stiegen. Das hatte er nicht gewollt.

Plötzlich ging mit Schwung die Tür auf, die sich kaum merklich vom Holz der Kajüte abgezeichnet hatte und knallte neben Belly gegen die Wand. Im Rahmen stand ein bullig gebauter Mann und starrte auf Belly und Shana herab. Ungläubig und starr vor Schreck sahen die beiden zu der Erscheinung hinauf. Der Kerl war beinahe so breit wie groß. Er trug sandalenähnliche Schuhe, merkwürdige, schlabbernde Hosen und ein weites, vergilbtes Hemd, das keine Knöpfe besaß, aber oben weit offenstand und einen Urwald aus Brusthaaren freiließ. Auch im Gesicht des Mannes wucherte ein ungepflegter, tiefschwarzer Bart, in dem unzählige kleine Locken ein dichtes, verfilztes Gestrüpp bildeten. Die graublauen Augen, die in seltsamem Kontrast zu dem wilden Aussehen des Mannes umherblickten, verengten sich zu schmalen Schlitzen.

Was zum Teufel macht ihr in der Kajüte des Käptns?“

Shana versuchte aufzustehen, was bei dem hin und her schlingernden Boden gar nicht so einfach war.

„Ich … wir …“

„Blinde Passagiere!“, brummte der Mann und kratzte sich am Ohr. „Das wird den Käptn aber gar nicht freuen. Ihr wisst, was man mit blinden Passagieren macht?“

„Wir sind keine blinden Passagiere!“, protestierte Shana und reichte Belly die Hand, der sich mühte, vom Boden hochzukommen. „Wir sind …“

„… auch noch Lügner!“, stellte der Bärtige fest. „Blinde Passagiere werden kielgeholt, dann in kleine Stücke geschnitten und den Haien zum Fraß vorgeworfen. Lügnern schneiden wir die Zunge raus. Aber vielleicht seid ihr ja auch noch Diebe? Zwei Rotznasen in der Kabine vom Käptn … wehe, ich finde etwas in euren Taschen! Ach ja, Dieben schlagen wir die Hände ab! Das hält sie nachweislich vom Klauen ab!“

Der Kerl lachte schallend über seine Worte und entblößte dabei seine Zahnlücken. Im Oberkiefer war nur noch jeder zweite Zahn an seinem Platz, und obwohl Shana vor Angst zitterte, musste sie daran denken, dass sie die weißen Zähne und die schwarzen Lücken dazwischen an die Tasten eines Klaviers erinnerten. Von einem Moment auf den anderen brach der Seemann sein Lachen ab, beugte sich zu Shana herab und beäugte sie misstrauisch.

„Merkwürdige Sachen habt ihr da an. Was ist das für ‘n Zeug? Und was soll die blöde Frisur von dir, Dickerchen? Na, mir soll’s egal sein. Der Käptn wird entscheiden, was wir mit euch machen. Aber ihr könnt ja vorher noch selbst von Bord springen, wenn euch das lieber ist. Ihr habt die Wahl.“

Ein gedämpftes Brüllen kam von irgendwo jenseits der Tür, und der Kerl horchte auf. Dann wiederholte sich das Brüllen, und mit einem Mal erklang Gepolter und Getrampel. Kurz darauf erfüllte wildes Geschrei von Männern das Schiff. Der Bärtige schlug mit der Faust gegen das Türblatt, dass Belly erschrocken zurückwich.

„Genießt euer letztes Stündlein“, grinste der Kerl. „Ich werde oben gebraucht. Leider müssen wir erst noch ein bisschen kämpfen, ehe wir uns um euch kümmern.“

Der riesige Mann, dessen Gestalt fast den gesamten Türrahmen ausfüllte, donnerte noch einmal mit der Faust gegen die Tür. Dann machte er auf dem Absatz kehrt und polterte den Gang hinunter. Wie betäubt blieben Shana und Belly in der Kajüte zurück.

Belly fing sich als erster.

„Das versteh ich nicht … das verstehe ich einfach nicht …“

Was verstehst du nicht?“, fauchte Shana. „Dass du uns in irgendein blödes Piratenschiff geträumt hast? Dass du die Traumfarbe vergessen hast? Dass wir nie wieder nach Hause kommen? Dass die da oben vielleicht Krieg führen? Und wenn sie verlieren, werden die Sieger uns wahrscheinlich töten! Und wenn sie gewinnen, wirft dieser haarige Typ uns über Bord! Toll, Belly, wirklich toll, dass du was nicht verstehst! Ich jedenfalls verstehe eins! Ich hätte lieber Krissa mitnehmen sollen!“

Belly hörte gar nicht zu. „Ich versteh das nicht. Ich hab genau an das Schiff gedacht, dass ich mir auf Rufus Veranda erträumt habe. Das war ein britisches Handelsschiff. Du hast doch selbst gesehen, dass es beladen wurde und friedlich im Hafen lag. Kein Piratenschiff ankert in einem englischen Hafen.“

„Piraten sind nicht so doof wie du!“, zischte Shana. „Die vergessen nicht, ihre Totenkopfflagge einzuholen, wenn sie in einen englischen Hafen einlaufen!“

„Da hast du recht“, sagte Belly ungerührt und lauschte auf die Geräusche, die vom Oberdeck zu ihnen klangen. „So blöd waren sie nicht. Ein guter Anführer wusste, dass er sein Schiff nicht verkleiden konnte. Früher kannte man die einzelnen Schiffe sehr genau, und wenn eines im Hafen einlief, war schnell bekannt, um welches es sich handelte. Nur fernab von der Heimat konnten Piraten es wagen, in einem größeren Hafen festzumachen.“

Shanas Wut verrauchte ein wenig. „Du meinst also, dies ist kein Piratenschiff?“

„Ja, das meine ich. Wenn das hier die Kajüte des Käptns ist, gehört sie jedenfalls keinem Piraten. Viel zu fein und ordentlich. Andererseits … der Kerl vorhin sah nicht aus wie einer von der englischen oder spanischen Marine.“

Von oben ertönte Getrampel und dann ein dumpfes Rollen. Shana sah Belly unsicher an.

„Was ist das?“

„Hm … wenn ich’s nicht besser wüsste, würde ich sagen, die rollen die Kanonen aus.“

Was? Und warum weißt du’s nicht besser?“

„Weil das eigentlich ein Handelsschiff sein müsste. Ich kann mich nicht erinnern, dass mein Schiff Luken für Kanonen hatte. Du vielleicht?“

Shana schüttelte fassungslos den Kopf. „Belly, ich hab mir Pferde erträumt! Keine Kanonen! Ich hab mir zwar dein Bild angeschaut, aber auf so was hab ich nicht geachtet. Ich denke, du bist hier der große Schiffsexperte?“

Belly nickte abwesend und lauschte erneut. „Wir sollten raufgehen und nachsehen.“

Das Getöse auf Deck wurde lauter. Gedämpfte Schreie und Befehle drangen den beiden ans Ohr, aber sie waren nicht deutlich zu verstehen. Shana hätte Belly am liebsten gepackt und geschüttelt, so groß war ihre Wut auf die Dummheit, die ihr Freund begangen hatte. Aber tief im Innern realisierte sie, dass das an ihrer Lage nicht das Geringste ändern würde. Sie musste sich der Situation stellen, ob sie wollte oder nicht. Und irgendwie konnte sie Belly auch verstehen. Sie hatte ihre Träume verwirklicht, indem sie immer wieder in die verbotene Zone gegangen war. Sie hatte etwas entdeckt, was einmalig war, eben eine Traumwelt, die nur ihr gehörte. Na ja, und dann hatte sie Belly mitgenommen, und es war nur okay, dass auch er seinen Traum wahrmachen wollte. Wenn er nur nicht so dumm gewesen wäre, die Farbe zu vergessen! Sie seufzte. Zuerst mussten sie herausfinden, was da los war. Und dann, wo sie sich überhaupt befanden. Vielleicht waren sie ja nahe genug an einer Küste. Möglicherweise konnten sie die Leute überzeugen, sie unversehrt von Bord zu lassen.

„Okay, sehen wir nach“, grummelte sie. Immer noch das Gleichgewicht haltend ging sie die drei Schritte bis zum Türrahmen und schaute nach rechts und nach links. Niemand zu sehen.

„Komm! Die Luft ist rein!“

In dem Moment, in dem sie das sagte, hörten sie oben jemand einen Befehl brüllen.“

„… euer!“

Shana und Belly schauten sich an.

„Was hat der gerufen?“, fragte Belly. „Euer? Was soll das denn heißen?“

Belly sah, das Shana schluckte, bevor sie antwortete. „Ich glaube, der hat nicht euer gerufen, sondern …“

Shana konnte nicht aussprechen, denn in der gleichen Sekunde ging ein gewaltiger Ruck durch den Schiffsleib, dann noch einer, und dann ein ganzes Dutzend.

Buohhmm … buohhmm … bouhm, bouhm, bouhm, bouhhmm …

Das gesamte Schiff erzitterte, und Shana und Belly hielten sich schreckerfüllt am Türrahmen fest. Das Boot krängte ein wenig zur Seite, und noch bevor es sich wieder aufrichtete, drang der Geruch nach verbranntem Pulver in die Kajüte.

„Der hat Feuer gerufen!“, krächzte Shana. „Die schießen!“

„Ach du heiliges Kanonenrohr!“, rief Belly. „Los, lass uns raufgehen! Die ballern Piraten ab!“

„Wie kannst du dich darüber freuen, dass jemand schießt?“, empörte sich Shana.

Belly löste sich vom Türrahmen und begann, im Gang nach rechts zu verschwinden. „Ich weiß alles über die alten Schiffe und die Piraten!“, rief er über die Schulter zurück. „Das ist meine Welt! Das kann ich allen zu Hause erzählen! Und außerdem ist das doch nur eine Traumwelt! Da passiert schon nichts!“

Shana konnte nicht glauben, was Belly da von sich gab. Meinte er wirklich, dass das hier alles nur erträumt war? Was war dann mit den Haarfressern und den Goshis? Waren die auch nur geträumt? Für einen Moment war sich Shana nicht mehr sicher, was sie denken sollte, aber dann fiel ihr etwas ein.

Was ist mit deiner Glatze?“, brüllte sie ihrem Freund hinterher. „Ist die auch nur geträumt?“

Aber Belly hörte sie nicht. Shana erblickte nur noch die Hacken seiner Schuhe, die gerade auf einer schmalen Stiege im nächsthöheren Deck verschwanden. Notgedrungen wollte sie ihm folgen, als eine zweite Salve das Schiff erschütterte.

Bouhhmm … bouhhmmm … bouhmm, bouhmm, bouhmm … bouhhmmm …

Shana wurde an die Wand geschleudert und hatte Mühe, nicht hinzufallen. Als es vorbei war, holte sie tief Luft und erklomm die Stufen. Sie landete in einem großen Raum, der von einem am Boden festgemachten Tisch beherrscht wurde, auf dem eine Seekarte und nautische Instrumente lagen. Hektisch blickte sie sich um. Rechts befand sich ein kleiner, nur aus drei Stufen gebauter Aufgang, darüber ein mit Holz verkleideter Ausstieg, der mit einer Luke verschlossen war. Von dort oben erklang das Geschrei und Fußgetrappel. Belly war hier drin nicht zu sehen, also musste er …

Mit einem Satz war sie an der Luke und wollte sie hoch drücken. Von dem Gewicht der Tür überrascht, ging sie in die Hocke und stemmte sie mit beiden Händen hoch. Mit einem Knall, der aber von der Geräuschkulisse an Deck verschluckt wurde, fiel das Ding nach hinten über und gab den Blick auf einen wunderbar blauen Himmel und einen Teil eines dicken Mastes frei. Shana hielt sich nicht lange auf. Behände erklomm sie das Deck. Und erstarrte. Belly stand direkt an dem dicken Mastbaum, von dem Shana unter Deck nur einen Teil hatte sehen können. Ihm stand der Mund offen, aber Shana erkannte, dass er seine Begeisterung verloren hatte, denn in seinen Augen blitzte nackte Angst. In Sekundenschnelle erfasste Shana, dass er auch allen Grund dazu hatte. Dies war kein Anifilm. Von ihrem Standort aus blickte Shana nach vorn in Richtung Bug. Sie erkannte einen zweiten Mast, etwas kleiner als der, an dem Belly lehnte. Viel wusste sie nicht über alte Schiffe, aber sie durchzuckte der Gedanke, dass dies ein Dreimaster sein musste. Auf Deck duckten sich ein Dutzend der seltsamsten Gestalten hinter die Reling auf der rechten Seite. Allesamt waren sie unterschiedlich gekleidet, teils mit Sachen, die absolut nicht zusammenpassten, teils zerlumpt und dreckig.

Das ist kein britisches Handelsschiff!, dachte Shana grimmig. Englische Seeleute wären niemals derart gekleidet gewesen. Sie hätten eine Uniform getragen. Die Kerle schauten alle vorsichtig über die Reling hinweg und drehten Shana den Rücken zu. Jeder von ihnen hielt einen Säbel in der Hand, und in ihren Gürteln steckten Messer und Pistolen. Das allein schon hätte genügt, Shana Todesangst einzuflößen. Aber das war noch nicht alles. Keine fünfzig Meter entfernt von ihnen driftete ein zweites Schiff vorüber, ebenso ein Dreimaster und ebenso schön und erhaben wirkend wie das, auf dessen Deck sie stand und wie gelähmt zuschauen musste, was sich hier abspielte. Und dann erkannte sie den Unterschied. Die Männer dort drüben trugen Uniformen! Shanas Blick flog am Mast des zweiten Schiffes nach oben und erkannte die englische Flagge.

Das sind die Guten! durchfuhr es Shana. Und wir sind auf einem Piratenschiff! Belly hatte sich geirrt! Und zwar gründlich! Kurz nahm Shana noch wahr, dass auf dem anderen Schiff einige Löcher klafften, ein Segel zerfetzt herunterhing und eine kleine Rauchfahne aus dem Innern in den Himmel stieg. Kaum hatte sie realisiert, dass das die zwei Salven angerichtet haben mussten, die sie vorhin unter Deck gespürt hatten, brach die Hölle los.

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9783738078831
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