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Kapitel 6

Tief in Gedanken versunken schlenderte Hauptkommissar Forster über die Hamburger Reeperbahn. Am Tage war die Amüsiermeile von Hamburg unspektakulär und ein wenig schmuddelig, doch nachts erwachte sie zum Leben. Die bunten Lichter, die Kneipen, die zum Bleiben einluden, und natürlich die Stripbars, die mit nackten Frauen und purem Vergnügen warben, faszinierten den Allgäuer Beamten, der sich hier vorkam, als wäre er in Kempten ein kleiner Dorfpolizist ohne Herausforderung. Die Kommissare und Streifenpolizisten hatten hier monatlich sicher mit wesentlich mehr Verbrechen und Abgründen menschlichen Versagens zu tun, als er in seiner gesamten Polizeilaufbahn je haben würde.

Seit zwei Tagen war Hauptkommissar Forster bereits in Hamburg, hatte versucht, sich selbst ein Bild zu machen über diesen mysteriösen Mordfall an dem Polizeibeamten im Dezember letzten Jahres. Irgendwie hatte er das Gefühl, dieser Mord hätte etwas mit seinem aktuellen Fall zu tun, doch er kam nicht dahinter, welches Indiz ihn auf diese Idee brachte. Natürlich gab es da die Verbindung durch die gespeicherte Nummer im Handy des Kemptener Opfers. Florian Forster glaubte nicht an Zufälle und war sich sicher, dass mehr hinter dieser Nummer steckte, als die Beteiligten zugaben. Er vermutete irgendeine Beziehung zwischen den beiden Opfern. Da sowohl Susanne Reuter als auch Jessica Grothe glaubhaft versichert hatten, sie würden das Baumarktopfer Klaus Vollmer nicht kennen, musste die gespeicherte Telefonnummer in Verbindung zu dem Hamburger Opfer Wolfgang Reuter stehen, der als Einziger ebenfalls unter dieser Telefonnummer gemeldet gewesen war. Doch weder bei dem Polizeibeamten noch bei dem Baumarktmitarbeiter wies irgendetwas auf Korruption oder andere kriminelle Machenschaften hin. Beide Opfer hatten Familie, keine Eheprobleme, ein geregeltes Leben und schienen glücklich zu sein. Die beiden Opfer lebten schon immer beinahe 800 Kilometer voneinander entfernt und hatten nach Angaben der Freunde und Verwandten auch nie ihren Urlaub in der jeweils anderen Region verbracht, konnten sich also nicht begegnet sein. Und doch wurmte den Allgäuer Hauptkommissar etwas, das er nicht zu definieren vermochte. Auf der anderen Seite der mehrspurigen Straße sah er die hell erleuchteten Reklameschilder des Burger King und ihm gegenüber die Davidwache. Er hatte darum gebeten, sich den Tatort ansehen zu dürfen. Der leitende Kommissar Wächter war nicht begeistert gewesen, doch hatte er schließlich zugestimmt. Niemand ließ sich gern in die laufenden Ermittlungen blicken, das wusste Florian Forster nur zu gut.

Minuten später betrat er die Wache und stellte sich vor. Der diensthabende Polizist hinter dem Tresen verwies ihn freundlich an seinen Kollegen, der verärgert, ja beinahe zornig aus seinem Büro kam und Hauptkommissar Forster nur aus Höflichkeit die Hand zur Begrüßung entgegenstreckte. Florian wusste, dass er hier nicht willkommen war.

»Guten Tag, Herr Hauptkommissar«, wurde er mürrisch begrüßt. »Sie wurden uns schon angekündigt. Wollen Sie gleich mitkommen?« Ohne eine Antwort abzuwarten, stapfte der Polizeibeamte mit weit ausholenden Schritten durch den langen Gang in den hinteren Teil des Gebäudes. Scheinbar schien er diese leidige Angelegenheit so schnell wie nur möglich hinter sich bringen zu wollen.

»Was verschlägt Sie hier nach Hamburg, Herr Hauptkommissar?«, brummte der Beamte vor ihm, in dem Versuch, höfliche Konversation zu halten. »Sie hätten sich die Unterlagen zu diesem Fall schließlich auch faxen lassen können.« Letzteres klang mit voller Absicht vorwurfsvoll.

»Die Unterlagen hatte ich bereits in Kempten gesichtet, doch ich mache mir gern selbst ein Bild«, gab der Kommissar ruhig und sachlich zur Antwort.

Der Hamburger Beamte blieb vor einer Tür stehen, stieß diese mit einer Hand auf und deutete Florian an, einzutreten.

»Das ist der Umkleideraum«, erklärte er dem Hauptkommissar. »Dort hinten ist das Bad mit den Toiletten und Duschen. Dort ist der Mord passiert.« Als der Polizist dem Kommissar in den gefliesten Raum nicht folgte, drehte sich Florian Forster zur Tür um und sah, dass der Beamte wortlos und beinahe angsterfüllt an die hintere Wand starrte und nicht bereit war, einen weiteren Schritt zu gehen. Florian wusste sofort, dass dort die Leiche gelegen haben musste.

»Es ist immer schrecklich, einen Kollegen zu verlieren«, versuchte der Kommissar den jungen Beamten zu beruhigen. »Mir selbst ist das noch nie passiert, dem Himmel sei Dank«, gab er zu.

»Ich habe ihn gefunden«, flüsterte der Hamburger Beamte kaum hörbar. »Und er war mehr als ein Arbeitskollege für mich. Er war mein bester Freund.«

Den Abend verbrachte Florian mit Martin Hansen in einer kleinen, recht stilvollen Kneipe ganz in der Nähe der Polizeiwache. Er war froh, dass er den Kollegen überreden konnte, auf ein Bier mit ihm mitzukommen, einerseits, weil er so den Abend nicht einsam in seinem Hotelzimmer verbringen musste, andererseits, weil er hoffte, noch mehr Informationen über Wolfgang Reuter zu bekommen. Vielleicht half ihm dieses Treffen mit dem besten Freund des Opfers, etwas mehr Klarheit zu schaffen oder die gesuchte Verbindung ins Allgäu herzustellen. Wenn er allerdings ganz ehrlich zu sich selbst war, interessierte ihn all das nur am Rande. Viel lieber würde er mehr über Jessica erfahren. Martin Hansen musste sie schließlich mehr als gut kennen, wenn er mit ihrem Schwager befreundet gewesen war. Außerdem waren Jessica und Martin beide Polizisten und damit Kollegen gewesen.

Seit dem Treffen im »Feuertempel« vor über zwei Wochen hatte er Jessica nicht mehr gesehen. Die Handynummer, die sie ihm etwas widerwillig aufgeschrieben hatte, war falsch. Diese Nummer existierte nicht. Für Florian war das ein Zeichen gewesen, dass sie ihn nicht wiedersehen wollte. Das und die Tatsache, dass sie sich auch nicht bei ihm gemeldet hatte, denn sie hätte sowohl auf dem Revier als auch privat auf seinem Handy anrufen können. Doch ganz abgehakt hatte er diese Angelegenheit noch nicht. Diese Frau zog ihn beinahe magisch an. Vielleicht lag es gerade an der Schwierigkeit, ihr näherzukommen und dass es für ihn eine so große Herausforderung darstellte, was die ganze Sache noch aufregender machte. Sein Jagdinstinkt war jedenfalls geweckt.

»Du hattest doch damals sicher auch Kontakt zu der Ehefrau und der Schwägerin von Wolfgang, oder?«, fragte Florian, obwohl er die Antwort bereits kannte. Martin Hansen nickte zustimmend.

»Was hältst du von den beiden Schwestern?« Jetzt sah Martin ihn fragend an, runzelte die Stirn, beschloss dann aber für sich, dass die Frage nicht darauf abzielte, Susanne und Jessica in den Dreck zu ziehen. Der Beamte hielt sehr viel von den beiden Frauen und würde niemals zulassen, dass die eine oder die andere jemals in den Verdacht gerieten, mit dem Mord etwas zu tun zu haben.

»Wolfgangs Frau Susanne ist eine ganz liebe«, begann Martin und gab der Kellnerin mit seiner rechten Hand ein Zeichen, die nächste Runde Bier zu bringen. »Ich war bei Wolfgang und ihr immer willkommen und hatte nie das Gefühl zu stören. Wolfgang und Susanne waren das Traumpaar schlechthin.« Er lachte und verdrehte gespielt genervt die Augen. »Da kann man schon neidisch werden, oder? Hast du Frau und Kinder?«

»Nee.« Florian schüttelte vehement den Kopf. »Das hat doch noch Zeit.«

»Findest du?«, warf Martin etwas verwundert ein. »Also ich könnte mir schon vorstellen …« Er vollendete den Satz nicht, denn die Bedienung trat an ihren Tisch und brachte das Bier.

»Und die Schwester?«, erinnerte Florian den Polizisten, als die Kellnerin mit den leeren Gläsern gegangen war.

»Jessy? Die ist klasse. Ein richtiger Kumpeltyp. Auf die kann man sich immer verlassen.« Wieder lachte Martin, dieses Mal aber eher unsicher. »Ich muss zugeben, dass ich eine Zeit lang mal total scharf auf die war. Erzähl das bloß keinem«, beschwor er flüsternd den Allgäuer Kollegen, lehnte sich dann zurück und grinste, als er Florians ernstes Gesicht sah. »Nee«, sagte er dann. »Die ist eine Nummer zu groß für mich. Zu mir passt besser eine, die ruhig und lieb ist als so ein Energiebündel wie Jessy.« Gedankenverloren griff er nach seinem Glas, erhob es und prostete Florian zu. »Tja, trotzdem ne klasse Frau.«

»Ja.« Abwesend starrte Florian auf sein Bierglas und drehte es zwischen seinen Fingern im Kreis. Das Glas schabte über den Tisch und verursachte ein dumpfes, brummendes Geräusch. Schließlich ließ er von dem Bierglas ab und schaute zu Martin hinüber, der jetzt noch breiter grinste. Sein Mund war etwas schief verzogen und ließ sein Gesicht recht albern und schelmisch aussehen. Auch seine Augen schienen zu lachen.

»Was ist denn?«, fragte Florian und hob fragend eine Augenbraue.

»Du stehst auf sie!« Martin Hansen schüttelte lachend und verwundert seinen Kopf. »Die ganze Fragerei … Ich hätte es merken müssen … Gott, bin ich blöd.« Er griff sich theatralisch an seine Stirn und rieb sich mit der Hand über seine kurzen rotblonden Haare. »Und ich dachte erst, das ist eine Art Verhör, was wir hier beide führen. Dabei willst du nur mehr über Jessy erfahren.«

Der Hauptkommissar fühlte sich ertappt, aber nicht beschämt. Es gab nichts, wofür er sich schämen musste, also stimmte er in Martins Gelächter ein.

»Und?«, fragte er schließlich und prostete erneut seinem Kollegen zu.

»Was, und?«

»Gibst du mir jetzt die gewünschten Informationen? Wir Männer müssen doch zusammenhalten.«

Erschrocken riss Jessica die Augen auf. Das Zimmer war stockdunkel, nicht der kleinste Fetzen Licht kam durch das kleine Kellerfenster. Ihr Handy, das sie gerade so unsanft aus dem Schlaf gerissen hatte, klingelte und klingelte. Genervt schlug sie die Decke zurück und die eiskalte Raumluft ließ sie frösteln. Der kleine Heizkörper neben der Tür zu ihrem Zimmer erbrachte Höchstleistungen, doch schaffte er es vor allem in der Nacht nicht, den Kellerraum auf normale Zimmertemperatur zu bringen. Jetzt war erst Anfang November und Jessica dachte mit Grauen an die frostigen Wintermonate, die ihr bevorstanden. Die Anschaffung eines zusätzlichen Elektroheizkörpers ließ sich wohl nicht vermeiden. Sie stapfte barfuß durch den dunklen Raum, stieß mit dem Schienbein gegen den kleinen Tisch in der Mitte, fluchte laut und fand schließlich ihre Jacke, in der ihr Handy nach wie vor ununterbrochen läutete.

Das Display zeigte einen unbekannten Anrufer an. Jessica schaute auf die Ziffernanzeige der Uhr in ihrem Handy. 2:57 Uhr. Wer in Gottes Namen rief um diese Uhrzeit an? Kurze Zeit überlegte sie, ob sie diesen dreisten Anrufer einfach wegdrücken sollte, doch dann siegte die Neugier und sie nahm das Gespräch an.

»Wer stört?«, brummte sie in das Telefon und versuchte ihrer Stimme einen wütenden Unterton zu verleihen, allerdings gelang ihr das nicht. Kurz nach dem Aufstehen klang ihre Stimme immer etwas heiser und gebrochen. Sie hüstelte.

»Hallo, Jess«, hörte sie eine Männerstimme an ihrem Ohr säuseln. Lallte der Kerl? »Schön, deine Stimme zu hören.«

»Wer ist denn da, bitte?« Jetzt klang sie wirklich wütend, doch ihr Gesprächspartner ließ sich in keiner Weise dadurch einschüchtern, sondern kicherte etwas albern.

»Du bisch sooooo süß«, verkündete die Männerstimme melodisch. »Oh Mann, i liab dei Stimm’. Die isch … sexy.«

»Wie bitte?« Dann plötzlich konnte sie die Stimme des Mannes endlich mit einem Bild in ihrem Kopf verbinden. »Herr Forster?« Erstaunt schüttelte sie ihren Kopf. Dann erinnerte sie sich daran, dass sie sich geeinigt hatten, sich zu duzen. »Florian?«

»Jaaaaaaaa«, kam es träge aus der Leitung.

»Bist du betrunken?«, fragte Jessica und grinste. Plötzlich amüsierten sie der Anruf und der angetrunkene Hauptkommissar sehr. Vielleicht freute sie sich aber auch nur, dass er nun endlich anrief.

»Na … a bissele höchschtens. Gar ned so schlimm. Du, Jess …?« Der Allgäuer Dialekt, der plötzlich so vehement bei ihm durchschlug, klang irgendwie niedlich.

»Ja?« Weil ihr die Kälte plötzlich durch und durch ging, stolperte Jessica zurück zu ihrem Bett, legte sich hinein und zog die Decke bis über ihre Schultern, das Handy fest an ihr Ohr gepresst.

»Mir müssen uns treffa«, verkündete Florian im Brustton der Überzeugung, hickste laut und räusperte sich dann. Jessica hörte, wie viel Mühe er sich gab, beim Sprechen nicht zu lallen, doch dieser Vorsatz misslang ihm gänzlich. Nur schwer bekam er die Worte einigermaßen klar über die Lippen. »Du derfsch mi itt so oifach wegschicka. Mir isch kalt.«

Jessica kicherte. »Es ist mitten in der Nacht! Wir können uns jetzt nicht treffen, Florian«, erklärte sie ihm ernst. »Wo bist du denn? Wieso ist dir kalt?«

»Ja, mir isch kalt«, sagte er geistesabwesend, dann kamen wohl ihre Worte bei ihm an und er beantwortete ihre Frage. »Bin im Hotel. Sehr kalt hier.«

»Du bist ja voll wie eine Schnapsdrossel. Geh ins Bett, dann wird dir wieder warm«, schlug Jessica vor und lächelte stumm in sich hinein.

»Kommsch du denn mit?«, fragte der Hauptkommissar. Es war die nüchterne, völlig sachliche Frage eines kleinen Kindes, das sich nicht wohlfühlte und nicht allein bleiben wollte, nicht die Frage eines Mannes, der nichts anderes im Kopf hatte als Sex. Im Kopf wie im ganzen Körper dieses Mannes war purer Alkohol, keine schmutzigen Gedanken.

»Ich liege bereits im Bett, Florian. Geh du jetzt auch schlafen. Wir können morgen weitersprechen.« Der mütterliche Ton in ihrer Stimme erschreckte Jessica erst, dann amüsierte sie sich köstlich über sich selbst, den Kommissar und die ganze Situation.

»Guats Nächtle, Jess.« Ein Rascheln und Knarzen drang durch den Hörer. Vermutlich kroch Florian in sein Bett. Dann wurde das Gespräch unterbrochen.

»Gute Nacht. Dann schlaf mal schön deinen Rausch aus.« Ohne das Handy aus der Hand zu legen, drehte sich Jessica auf die Seite, zog die Decke noch ein Stückchen höher, seufzte zufrieden und schloss die Augen.

Kapitel 7

Regen, der in Bindfäden vom Himmel fiel, und nasses Laub auf den Straßen waren eine unglückliche Kombination. Immerhin überfror die ganze Sache nicht auch noch, denn die Temperaturen hielten sich merklich bei acht bis zehn Grad. Wenn es nicht gerade regnete, wehte allerdings ein stürmischer Wind, dem nicht mehr viel fehlte und er wäre ein ausgewachsener Orkan geworden. Beinahe norddeutsches Wetter hier am Alpenrand.

Bei so einer scheußlichen Witterung war man einerseits froh, wenn man in einem Auto mit Sitzheizung und Klimaanlage fahren konnte, doch auf den glitschigen und rutschigen Untergrund hätte man wirklich verzichten können.

Mit gerade einmal Schrittgeschwindigkeit bog Susanne Reuter in die schmale Nebenstraße ein, die zum Haus des Ehepaares Vollmer führte. Herr Vollmer hatte auf diesen Termin bei ihm zu Hause bestanden und Susanne kam diesem Wunsch selbstverständlich nach. Als sie in die Auffahrt zu dem großen herrschaftlichen Haus einbog, wusste sie noch nicht, was der Grund für dieses Beratungsgespräch war. Das Einzige, was sie wusste, war, dass Herr und Frau Vollmer die Eltern des ermordeten Mannes waren, der auf so tragische Weise vor einigen Wochen auf diesem Baumarktparkplatz ums Leben gekommen war. Dieser Besuch verursachte ihr zwar leichtes Bauchweh, denn es war niemals angenehm, trauernde Angehörige zu vertreten, doch sie war professionell genug, sich ihre Unruhe nicht anmerken zu lassen. Erhobenen Hauptes schritt sie schließlich auf die übergroße Eingangstür zu und betätigte den goldenen Klingelknopf.

Ein Butler öffnete und Susanne wurde durch eine kleine Empfangshalle mit imposanter Marmortreppe direkt in das Wohnzimmer des Hauses geführt.

Herr Vollmer begrüßte sie höflich, aber sehr distanziert und betrachtete sie völlig ungeniert und abschätzend. Frau Vollmer blieb auf dem mächtigen hellroten Designersofa sitzen und nickte nur kurz zum Gruß in ihre Richtung.

Schließlich saß die Anwältin dem Ehepaar gegenüber, legte artig die Hände auf ihren Schoß und wartete geduldig.

»Unser Anliegen ist folgendes«, begann Herr Vollmer ohne viel Herumgeplänkel. Höflichkeiten schienen genug ausgetauscht worden zu sein. »Sie müssen eine Schenkung rückgängig machen.«

Susanne sagte nichts, blinzelte nicht einmal, denn sie hatte gelernt, keine Fragen zu stellen, die sie nichts angingen. Was immer die Klienten von ihr wollten, musste sie tun. Nach kurzem Überlegen nickte sie.

»Haben Sie die Unterlagen vielleicht da? Ich müsste kurz einen Blick in die Übertragungsurkunde werfen«, erklärte sie nüchtern und professionell. »Handelt es sich um ein Geldgeschenk oder um die Übertragung einer Immobilie?«

»Geld«, sagte Herr Vollmer nur, verzog mürrisch das Gesicht und erhob sich schließlich. »Sehr, sehr viel Geld!« Er verließ das Wohnzimmer. Frau Vollmer starrte Susanne unverwandt an, rührte sich aber nicht. Stocksteif saß sie auf dem edlen Sofa, als würde sie einfach nur zur Einrichtung gehören, ein teurer Dekorationsgegenstand, der sonst zu nichts nütze war. Ab und zu rümpfte sie ihre kleine, etwas spitze Nase, sodass winzige Fältchen auf ihrem Nasenrücken entstanden. Ob es Abfälligkeit war oder ob sie einfach einen angeborenen oder antrainierten Tick hatte, konnte Susanne aus ihrer erstarrten Mimik nicht ergründen.

Der Butler brachte den Kaffee und platzierte völlig lautlos das zierliche Blumenmusterservice auf dem Tisch, schenkte drei Tassen dampfend heißen Kaffee ein, legte ungefragt dem Hausherrn zwei Stückchen Zucker in die Tasse und der Dame des Hauses goss er einen winzigen Schluck Milch hinzu. Dann sah er fragend, aber wortlos auf die Anwältin. Susanne schüttelte langsam den Kopf und hob abwehrend kurz ihre Hand. Niemals würde sie diese tödliche Grabesruhe, die in diesem Zimmer vorherrschte, durch unaufgefordertes Sprechen stören. Etwas unbehaglich war ihr schon zumute. Vorsichtig verlagerte sie ihr Gewicht ein wenig und schob ihre Beine etwas nach links. Der Raum zwischen dem Sofa, auf dem sie saß, und dem flachen Glastisch vor ihren Beinen war leider etwas schmal. Ihre Knie würden gegen die Kante des Tisches stoßen, wenn sie nach ihrer Tasse greifen würde, und das wollte sie vermeiden. Nicht, dass sie überhaupt auf die Idee kam, einen Schluck Kaffee zu nehmen, bevor Herr Vollmer wieder am Tisch saß.

»Hier.« Ein schmaler Ordner mit einem dunkelbraunen Einband und einem Wappen auf dem Deckel landete klatschend auf dem Tisch neben ihrer Tasse. Erschrocken fuhr Susanne zusammen. Komplett geräuschlos war Herr Vollmer wieder zurück in das Zimmer gekommen. Trotz seiner mächtigen Leibesfülle hatte der dicke, beigefarbene Teppich jeden plumpen Schritt dieses Mannes geschluckt. Er ließ sich auf den Platz neben seiner Frau fallen und ächzte angestrengt. »Schauen Sie sich die Sache an«, befahl er der Anwältin. »Und dann sagen Sie mir, ob man da etwas machen kann.«

Susanne griff nach dem Ordner, öffnete ihn und begann zu lesen.

»Das ist eine Schenkung an Ihren Sohn Klaus über 5.000 Euro«, sagte sie schließlich laut und schaute zu Herrn Vollmer auf. Es gelang ihr, sämtliche Emotionen aus ihrer Stimme und aus ihrem Gesicht zu nehmen, als sie fortfuhr. »Gibt es einen triftigen Grund, warum Sie das Geld zurückverlangen?«

Herr Vollmer Senior verzog wieder mürrisch seinen Mund. »Damit seine dumme Ische das Geld nicht erbt«, brummte er beinahe bedrohlich. »Sie wissen sicher, dass mein Sohn tot ist.«

Susanne nickte. Sie hatte schon vorher nicht verstanden, warum der Sohn eines offensichtlich so reichen Mannes in einem Baumarkt arbeiten musste. Scheinbar war das Mordopfer Klaus Vollmer ein ganz armes Würstchen gewesen, lebte mit seiner fünfköpfigen Familie in einer ärmlichen Gegend von Kempten und war alles andere als reich.

»Die Rückforderung dieser Schenkung wird allerdings problematisch. Ich denke, wir werden damit keinen Erfolg haben.« Dieser Klient wollte keine ausgeschmückten Worte, sondern klare Aussagen. »Kein Richter wird die jetzige Erbin zwingen, das Geld zurückzugeben.«

»Das Geld war nicht für sie«, brauste der alte Herr Vollmer wütend auf und schlug seine Faust energisch auf seinen dicken Oberschenkel. »Das Geld gehörte meinem Sohn! Und mit dieser dummen Frau war ich eh nie einverstanden«, wetterte er weiter gegen seine Schwiegertochter. »Die war nicht gut für ihn! Verdammt noch mal! Die Schenkung wird doch erst nach zehn Jahren rechtskräftig!« Fluchend wippte er aufgeregt auf dem Sofa auf und ab. Seine Frau wippte neben ihm, allerdings völlig unfreiwillig. Susanne Reuter verkniff sich ein Lächeln.

»Herr Vollmer«, begann sie beruhigend auf ihn einzureden. »Sie haben recht, dass eine getätigte Schenkung im Falle einer Erbschaft erst nach zehn Jahren rechtskräftig wird und vorher komplett oder teilweise in die Erbmasse einfließt.« Jetzt griff sie nach ihrer Tasse und nahm einen großen Schluck Kaffee. »Doch in Ihrem Fall sind ja nicht Sie gestorben, sondern Ihr Sohn. Mein Beileid übrigens zu Ihrem …«

»Ja, vielen Dank«, unterbrach Herr Vollmer ihre Beileidswünsche rüde und unhöflich. »Aber was kann man in diesem Fall denn jetzt machen?«

Susanne seufzte angestrengt.

»Wofür war das Geld denn eigentlich ursprünglich gedacht?«, fragte sie, schlug den Ordner erneut auf und blätterte darin herum. Schließlich fand sie die gesuchte Stelle. »Immerhin ist diese Schenkung über acht Jahre her.«

»Mein Sohn hat studiert. Dafür war das Geld«, polterte Herr Vollmer erbost. »Und diese blöde Kuh hat ihn dazu gebracht, das Studium zu schmeißen und ihm gleich drei kleine Kinder angehängt. Wer weiß, ob die überhaupt von ihm sind. Scheißblöde Kuh.« Bei diesen Worten bemerkte Susanne, wie Frau Vollmer ein zweites Mal fast unauffällig zusammenzuckte und beinahe schmerzerfüllt den Mundwinkel hob. Dann wurde sie wieder starr und reglos.

»Gut.« Susanne Reuter legte den Ordner wieder auf den Tisch. »Wenn Ihr Sohn studiert hat, dann hat er doch sicher das Geld bereits verbraucht«, sagte sie und wusste, dass sie mit dieser Aussage ihren Klienten noch mehr reizte. Frau Vollmer warf ihr einen flehenden Blick zu. Herr Vollmer schnaufte verächtlich.

»Was ich damit sagen will«, fuhr sie vorsichtig fort, »ist, dass Ihre Schwiegertochter gar nichts von dem Geld bekommen hat und deshalb auch nichts zurückzahlen muss.«

»Das ist mir egal«, schimpfte der Senior und seine Stimme klang grob und ärgerlich. »Mein Sohn hat nicht zu Ende studiert, er hat das Geld nicht für seine Ausbildung verwendet, also verlange ich es zurück. Die bleede Bix kriegt mein Geld sicher nicht.«

»Wir können natürlich versuchen, diese Schenkung anzufechten«, versuchte Susanne die Stimmung wieder ins Positive zu rücken. »Doch machen Sie sich nicht allzu viele Hoffnungen. Ich persönlich glaube nicht an einen Erfolg. Wenn wir Ihrer Schwiegertochter allerdings Böswilligkeit oder Habgier nachweisen könnten, dann würde es etwas günstiger aussehen.« Die Anwältin in ihr triumphierte, weil sie höchstwahrscheinlich mit diesen Worten den Zuschlag für diesen Fall an Land gezogen hatte, trotzdem er mehr als zweifelhaft und höchstwahrscheinlich völlig aussichtslos war. Die menschliche Seite in ihr allerdings konnte absolut nicht nachvollziehen, warum diese arme Frau all dieses Leid verdient hatte, was jetzt in naher Zukunft neben ihrem eigentlichen Schicksal als junge Witwe und alleinerziehende Mutter auf sie zukommen würde. Selbst wenn sie am Ende als Siegerin aus diesem Fall hervorging, kostete sie die ganze Aufregung eines langwierigen Prozesses Nerven, die sie vermutlich schon lange nicht mehr im Überfluss hatte.

»Leiten Sie alles in die Wege, Frau Reuter«, befahl Herr Vollmer und erhob sich ächzend, dann streckte er ihr zum Abschied seine Hand entgegen. »Ich verlasse mich auf Sie. Sie finden doch allein hinaus, oder?«

Martin Hansen hatte ein schlechtes Gewissen. Das und rasende Kopfschmerzen. Der gestrige Abend war lang gewesen und er war heilfroh, dass er an diesem Tag erst zur Spätschicht in die Wache musste. Gequält rieb er sich mit seinen Daumen und Mittelfingern die Schläfen, kroch dann mühsam aus dem Bett und schlurfte ins Badezimmer. Dabei wäre er beinahe gegen den Türrahmen gelaufen, weil sein Gleichgewichtssinn ihn im Stich ließ. Nur mühsam konnte er die Augen aufhalten. Er war zwar nicht mehr müde, doch das helle Licht, das durch das kleine Badezimmerfenster fiel, war grell und schmerzte schrecklich in seinem Kopf. Er schaute auf die Toilette, dann aufs Waschbecken und wieder auf das Klo. »Nee«, brummte er resigniert, stellte sich vors Waschbecken und pinkelte hinein. Sich zu bücken und den verdammten Klodeckel zu öffnen, wäre wirklich eine Spur zu viel gewesen. So war es einfacher.

Verdammt, er vertrug einfach gar nichts mehr. Mit Wolfgang war er oft um die Häuser gezogen, hatte auch mal ein Bierchen zu viel gehabt, doch selten war es ihm am nächsten Tag so schlecht gegangen wie heute. Soweit er sich an den gestrigen Abend erinnerte, war er recht lustig gewesen. Anfangs hatte er diesen Allgäuer Hauptkommissar für einen Idioten gehalten, doch im Laufe des Abends hatte er seine Meinung revidiert und korrigiert. Florian Forster war ein prima Kerl. Ob das allerdings Jessy auch so sah, bezweifelte er inzwischen. Florian war eindeutig an Susannes Schwester interessiert gewesen, doch Jessica hatte ihm vor zwei Wochen eine falsche Handynummer gegeben, wollte also scheinbar nicht, dass der Kommissar sich erneut bei ihr meldete. Jetzt allerdings hatte der Allgäuer von ihm die richtige Nummer bekommen. Hoffentlich war Jessy nicht sauer.

Der Wasserhahn rauschte, als Martin das Becken ausspülte, sich dann einen Schwall eiskaltes Wasser ins Gesicht klatschte und schließlich seinen ganzen Kopf unter den laufenden Hahn hielt, was seine Kopfschmerzen keinesfalls minderte, sondern zu Höchstleistungen antrieb. Um ein paar Schmerztabletten würde er nicht herumkommen, um seinen Kater in den Griff zu bekommen, doch zuerst musste er ein Gespräch nach Kempten führen.

Es klingelte lange, bis Jessica schließlich abnahm.

»Hallo, Martin. Wie geht’s?«, lachte sie fröhlich in den Hörer und Martin griff sich erneut gequält an den Kopf. Ihre Stimme war laut. Viel zu laut.

»Geht so«, brummte er etwas mürrisch. »Ich hatte gestern ein Gläschen zu viel.«

Jessica kicherte leise. »Dass es wirklich nur eins war, wage ich zu bezweifeln«, neckte sie ihn freundschaftlich. Mitleid hatte sie allerdings nicht mit ihm. Männer, die so viel tranken, dass sie am nächsten Tag nicht mehr geradeaus schauen konnten, hatten ihren Zustand selbst verschuldet und waren keines Bedauerns wert.

»Warum rufst du an?«, fragte sie schließlich, als von ihrem Gesprächspartner wieder nur ein schmerzhaftes Stöhnen zu hören war.

»Ich habe gestern aus Versehen deine Handynummer weitergegeben«, gab er etwas zerknirscht zu. »Ohne dich vorher zu fragen.« Mehr sagte er nicht.

Zuerst konnte Jessica sich keinen Reim aus seinen Worten machen, doch dann puzzelte sie sich alles zusammen. Der Anruf von Florian gestern Nacht, der ebenfalls total betrunken war, jetzt Martin, der wirres Zeug stammelte und weit davon entfernt war, wenigstens nüchtern zu klingen. Die beiden Männer waren gestern Abend zusammen gewesen.

»Bist du in Kempten?«, fragte sie schließlich verwundert und ließ sich auf den Esszimmerstuhl fallen, neben dem sie gerade stand.

»Wie kommst du denn darauf?«, kam Martins Antwort etwas verspätet und total verwirrt an ihr Ohr.

»Ja, weil … du warst doch gestern …« Sie unterbrach sich selbst, schüttelte den Kopf, beschloss dann aber, dass ihre Schlussfolgerung richtig sein musste, und sprach sie aus. »Was macht denn Florian Forster in Hamburg?«

Als Jessica Minuten später das Gespräch beendete, konnte sie immer noch nicht glauben, dass Hauptkommissar Forster extra nach Hamburg gefahren war, um in der Kemptener Mordfallgeschichte zu ermitteln. Wie kam er nur darauf, dass die beiden Todesfälle irgendetwas miteinander zu tun hatten? Jessicas Vater hatte einmal gesagt, wenn jemand wollte, fände er sogar eine verwandtschaftliche Verbindung zwischen Pinguinen und Eisbären. Jeder Mensch hatte über wenige Ecken irgendetwas mit jedem anderen Erdbewohner zu tun und man müsste nur wichtige von völlig irrelevanten Informationen trennen, um die Bedeutsamen herauszufiltern. Die einzig wirkliche Verbindung zwischen dem Hamburger und dem Kemptener Mordfall war dieser merkwürdige Eintrag im Handy des zweiten Opfers. Glaubte Florian Forster denn immer noch, dass an dieser Spur irgendetwas dran war? Das wiederum würde dann aber bedeuten, Wolfgang hätte diesen Mann gekannt, was eindeutig nicht der Fall war. Jessica und vor allem Susanne kannten Wolfgang in- und auswendig. Dieser Mann war offen und ehrlich gewesen und hätte keine Gründe gehabt, irgendetwas zu verbergen. Hauptkommissar Forster sollte sich besser im näheren Umfeld des Opfers umsehen, anstatt in ihrem alten Fall herumzuwühlen. Jessica war eine gute Kommissarin gewesen, hatte sauber gearbeitet und eine Verbindung welcher Art auch immer ins Allgäu sicher nicht übersehen, wenn es einen Hinweis darauf gegeben hätte. Und es gab keinen, absolut gar keinen.

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Возрастное ограничение:
18+
Дата выхода на Литрес:
26 мая 2021
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380 стр. 1 иллюстрация
ISBN:
9783839249604
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