Читать книгу: «Schattenklamm», страница 3

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Die Haustür vor ihm wurde mit Schwung aufgerissen und Berthold Willig zuckte erschrocken zusammen. Die Dame, die sich im Eingang vor ihnen aufbaute, starrte sie beinahe böse an und presste ihre Lippen fest aufeinander. Als sie jedoch die Uniformen bemerkte, veränderte sich ihr Gesichtsausdruck merklich und wirkte jetzt überrascht.

»Ja?«, fragte sie und zog eine Augenbraue nach oben, hielt aber nach wie vor die Tür fest und ließ keinen Blick in die Wohnung zu.

Gerade als Hauptkommissar Florian Forster den Mund öffnete, um sich vorzustellen, fiel ihm sein Kollege Willig ins nicht ausgesprochene Wort.

»Guten Tag, verehrte Frau Reuter. Wir sind von der Polizei. Kriminalpolizei Kempten. Hier.« Er zog seinen Dienstausweis hervor und hielt ihn der Dame so dicht vors Gesicht, dass diese einen Schritt zurückwich und wieder ärgerlich schaute. »Mein Name ist Kommissar Willig und das hier ist mein Kollege …«

»Hauptkommissar Forster«, meldete sich jetzt der leitende Kommissar selbst zu Wort. »Dürfen wir kurz reinkommen, Frau Reuter? Wir hätten da einige Fragen an Sie.« Ohne eine Antwort abzuwarten, trat er auf die Tür zu und die Dame ließ ihn widerstandslos passieren. Berthold Willig folgte ihm auf dem Fuße.

»Schön, dass Sie den Weg in unser Haus so problemlos alleine finden, Herr Hauptkommissar«, hörte Florian Forster die Dame kühl und leicht überheblich sagen, als er den Flur hinter sich gelassen hatte und jetzt im Wohnzimmer stehen blieb. »Mein Name ist übrigens Grothe. Meine Schwester, Frau Reuter, ist nicht im Hause. Vielleicht kann ich Ihnen weiterhelfen?«

Ihr letzter Satz war nicht wirklich eine Frage, sondern eine Aufforderung, ihr zu erklären, aus welchem Grund sie überhaupt da waren. Hauptkommissar Forster lächelte zaghaft, setzte dann wieder sein charmantes Grinsen auf und drehte sich zu Frau Grothe um.

»Vermutlich können auch Sie uns die nötigen Auskünfte geben«, teilte er ihr mit und nahm unaufgefordert Platz auf einem der Stühle am Esstisch im Wohnzimmer. Etwas verlegen stellte sich Berthold Willig neben ihn.

»Nehmen Sie doch bitte Platz, meine Herren.« Sarkasmus schwang in ihrer Stimme mit und beinahe theatralisch deutete sie auf zwei Stühle gegenüber von Florian Forster. »Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Tee? Kaffee? Ein Glas Wasser?« Fragend hob sie die Augenbrauen, doch in ihrem Blick sah Hauptkommissar Forster Argwohn und Misstrauen.

»Gern. Zwei Glas Wasser, bitte«, bestellte der Beamte, zog demonstrativ den Stuhl neben sich unter dem Tisch hervor und deutete seinem Kollegen an, sich zu setzen.

Wütend stampfte Jessica in die Küche, riss den Vitrinenschrank über der Kaffeemaschine auf und holte zwei Gläser heraus. Dann griff sie nach der Wasserflasche neben dem Kühlschrank und transportierte alles zurück an den Esszimmertisch. Höflich lächelnd platzierte sie die Gläser und die Flasche vor den beiden Beamten. Dann setzte sie sich selbst den Beamten gegenüber.

»Und was verschafft mir jetzt die Ehre Ihres plötzlichen Besuches? Habe ich falsch geparkt?«, fragte sie süffisant lächelnd, doch konnte sie ihren Ärger trotz allem nicht gänzlich unterdrücken.

Hauptkommissar Forster ließ sich sehr viel Zeit, griff beinahe im Zeitlupentempo nach der Flasche und schenkte sich und seinem Kollegen ein. Dann sah er Jessica lange und durchdringend an, doch Jessica hielt seinem Blick stand.

»Neigen Sie denn dazu, falsch zu parken?«, fragte er schließlich belustigt und nahm einen großen Schluck aus dem Glas, ohne Jessica aus den Augen zu lassen.

Jessica sparte sich die Antwort.

»Warum sind Sie also hier, Herr Hauptkommissar?« Sie lehnte sich lässig auf ihrem Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Es geht um den Mord auf dem Parkplatz des Baumarktes am letzten Samstag«, erklärte der Beamte und verfiel plötzlich in einen sachlichen, professionellen Verhörton. »Sie haben sicher davon gehört?« Als Jessica nickte, zog er ein kleines Notizbuch aus seiner Brusttasche, schlug es auf und fuhr fort.

»Der Ermordete hieß Klaus Vollmer. Sagt Ihnen der Name etwas? Kennen Sie ihn?« Florian Forster schaute jetzt wieder von seinen Notizen auf und starrte Jessica unverwandt an.

»Nein, tut mir leid«, gab sie kopfschüttelnd zur Antwort. »Aber würden Sie mir bitte erklären, warum Sie ausgerechnet mich dazu befragen?« Dann fiel ihr ein, dass die Beamten ursprünglich nach Susanne gefragt hatten, und sie fügte hinzu: »Und was wollen Sie diesbezüglich von meiner Schwester? Wir haben den Mann schließlich nicht umgebracht.« Wieder schüttelte sie den Kopf, doch dieses Mal mehr aus Fassungslosigkeit.

»Davon gehen wir auch gar nicht aus«, wehrte Hauptkommissar Forster ab und hob beruhigend die rechte Hand. Es sah beinahe so aus, als würde er Jessica auffordern, stehen zu bleiben und nicht näher zu kommen.

»Und? Was wollen Sie dann hier? Haben Sie festgestellt, dass wir an diesem Tag in genau diesem Baumarkt eingekauft haben, und überprüfen Sie jetzt alle Kunden?« Wieder schwang Sarkasmus in ihrer Stimme mit und sie konnte es nicht verhindern. Sie war wütend und verstand die Zusammenhänge nicht. Was hatte das alles hier mit professioneller Polizeiarbeit zu tun?

»Das ist ja interessant«, stellte Herr Forster sachlich fest, doch konnte Jessica den Schalk in den Augen des Beamten aufblitzen sehen. »Sie geben also freiwillig zu, dass Sie am Tatort waren.« Noch bevor Jessica wütend aufbrausen konnte, winkte er erneut ab, verwies sie mit seiner erhobenen Hand in ihre Schranken und grinste breit und überheblich.

»Keine Panik, Frau Grothe. Das war nur ein Scherz«, erklärte er und schaute wieder in das kleine lederne Notizbuch. »Sagen Ihnen die Buchstaben ›LLFS‹ etwas, Frau Grothe?«

Jessica seufzte tief und eindeutig genervt. »Nein«, blaffte sie den Beamten wütend an. »Und ich möchte jetzt auf der Stelle wissen, was Sie von mir … was Sie von meiner Schwester wollen.« Um die Nachdrücklichkeit ihrer Worte zu unterstreichen, presste sie die Spitze ihres Zeigefingers auf die Tischplatte und den Mund fest zusammen.

»Wir haben festgestellt«, begann der Hauptkommissar schließlich, »dass es eine Verbindung des Opfers zu Ihnen und Ihrer Schwester gibt. Diesem Sachverhalt gehen wir nach. Was würden Sie also hinter den Buchstaben …«, er beugte sich wieder über sein Notizbuch und las ab, »›LLFS‹ vermuten?«

»Keine Ahnung, vielleicht eine Partydroge, vielleicht eine Abkürzung für … für … Lothar Lommel Fahr-Schule? Woher soll ich das denn wissen? Ich dachte, dafür würde man Sie bezahlen?«

»Deshalb sitze ich hier. Wir haben diese ›Abkürzung‹, oder was immer es ist, neben der Telefonnummer Ihrer Schwester gefunden. Sie war im Handy des Opfers gespeichert. Und die internen Ermittlungen haben ergeben, dass mehrmals Gespräche von diesem Handy an eben diese Nummer geführt wurden«, erklärte Florian Forster, legte sein Notizbuch auf den Esstisch und schob es zu Jessica hinüber. »Ist das die Telefonnummer Ihrer Schwester?«

Jessica schaute auf die etwas krakeligen Aufzeichnungen und fand schließlich die besagte Telefonnummer. Ungläubig schaute sie auf die zehn Ziffern. Dann nickte sie zögernd.

»Ja«, bestätigte sie schließlich. »Diese Telefonnummer gehörte zu dem Anschluss Wolfgang und Susanne Reuter in Hamburg. Und auch ich war unter dieser Nummer gemeldet, denn ich habe im selben Haus gewohnt.« Sie machte eine Pause und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Der Hauptkommissar unterbrach sie nicht.

»Wieso hatte das Mordopfer unsere Nummer in seinem Handy gespeichert? Und was bedeuten die Buchstaben vor der Telefonnummer? Wenn er diese Nummer benutzt hat, dann müssten wir diese Person doch kennen. Hat er schon immer in Kempten gewohnt? War er einmal in Hamburg zu Besuch? Wo hat er gearbeitet?« Jessica fühlte sich plötzlich ganz in ihrem Element. Der Fall interessierte sie brennend und sie wollte Antworten auf all diese Fragen, wollte die Verbindung verstehen, die angeblich zwischen ihrer Familie und dem Opfer bestand.

»Führen Sie jetzt die Ermittlungen, Frau Grothe?«, fragte der Hauptkommissar belustigt, schnappte sich sein Notizbuch vom Tisch und verstaute es in seiner Jacke. »Das überlassen Sie mal lieber den Profis.«

Jessicas Handy klingelte und verhinderte somit die abfällige Bemerkung, die ihr auf der Zunge lag. Sie entschuldigte sich, stand auf und lief in den Flur zu ihrem Mantel, in dem ihr Handy steckte.

»Hallo?«, meldete sie sich ganz neutral, denn auf dem Display erschien keine Nummer. Der Anrufer war ihr also vermutlich nicht bekannt, und Jessica wollte unbekannten Anrufern nicht auch gleich ihren Namen verraten.

»Ich bin’s.« Eine Männerstimme meldete sich leise aus dem Telefon. Im Hintergrund rauschte es laut.

»Wer ist ›ich bin’s‹?«, fragte Jessica und spürte bereits wieder, wie Wut in ihr aufkochte. Dieser Tag, der eigentlich ruhig und besinnlich sein sollte, hatte eine Wendung genommen, die ihr gar nicht gefiel. Und weil sie nichts an ihrer Situation bessern konnte, war sie einfach nur genervt und ungnädig.

»Martin Hansen«, gab der Mann an und Jessica erkannte ihn sofort. »Hallo, Jess. Du wunderst dich sicher, dass ich anrufe.«

Der beste Freund ihres verstorbenen Schwagers Wolfgang war immer ein gern gesehener Gast auf jeder Familienfeier, jeder Party und jedem Sofa-Fernsehguck-Wochen­ende gewesen. Er gehörte beinahe schon zum Inventar der Wohnung. Doch seit dem Tod von Wolfgang hatte er sich nicht mehr bei den beiden Schwestern gemeldet. Bei der Beerdigung hatten sie ihn das letzte Mal gesehen. Jessica verstand damals sogar die Distanz, die er aufbaute. Martin Hansen fühlte sich genauso schuldig am Tod seines Freundes wie auch Jessica sich schuldig fühlte, den Mord nicht aufklären zu können. Außerdem war er schließlich hauptsächlich Wolfgangs Freund gewesen und nicht ihrer oder der ihrer Schwester. Doch warum meldete er sich ausgerechnet jetzt?

»Martin? Das ist aber jetzt eine Überraschung«, staunte sie deshalb wirklich überrascht. »Was gibt es? Wie geht es dir denn? Du hast dich lange nicht gemeldet.« Doch es war kein Vorwurf in ihren Worten. Sie freute sich wirklich, seine Stimme zu hören.

»Stimmt. Tut mir auch leid«, stammelte er und seine leise Stimme übertönte kaum das laute Rauschen im Hintergrund.

»Sitzt du im Auto?«, fragte Jessica, schaute sich dann aber beinahe ertappt zu den beiden Beamten um, die immer noch an ihrem Esstisch saßen.

»Nee … ja, schon. Aber ich stehe auf einem Rastplatz an der Autobahn. Ganz schön laut hier«, bestätigte Martin, der ihre Frage richtig gedeutet hatte.

»Ach, du stehst auf dem Rastplatz«, wiederholte Jessica betont laut und deutlich und grinste dann in Richtung Wohnzimmer. Hauptkommissar Forster grinste zurück, Kommissar Willig nickte anerkennend.

»Ja«, sagte Martin Hansen und sprach seinerseits jetzt auch etwas lauter. Er vermutete wohl eine schlechte Verbindung, weil Jessica beim Sprechen beinahe schrie. »Ich bin auf dem Weg nach Kempten … also eigentlich nach Österreich. Ähm, ich dachte, wir könnten uns sehen und ich mache hier einfach eine Nacht Pause.«

»Suchst du einen Platz zum Schlafen? Du weißt, du bist bei uns jederzeit willkommen«, verkündete Jessica fröhlich und freute sich bereits jetzt auf ein Wiedersehen mit Martin.

»Nee, danke«, gab ihr ehemaliger Kollege zurück. »Ich hab mich schon um eine Pension bemüht. Danke trotzdem für dein Angebot. Hast du heute Abend Zeit?«

Verwundert starrte Jessica auf den großen Garderobenspiegel im Flur. Dieser Besuch war also geplant und keine spontane Entscheidung, wie sie erst vermutet hatte. Doch vorerst würde sie sich auf ein Treffen einlassen. Martin würde schon mit der Sprache rausrücken, wenn sie ihm erst einmal gegenübersaß.

»Komm heute Abend doch in den ›Feuertempel‹ in der Innenstadt. Ich arbeite dort, finde aber sicher ein paar Minuten, um mit dir zu quatschen. Im Anschluss können wir dann ja noch woanders hingehen, wenn du magst«, schlug sie vor, beendete dann nach wenigen weiteren Sätzen das Gespräch und ging zurück zu den beiden Beamten an ihrem Esstisch.

»Vielleicht war dieser Herr Vollmer, der Ermordete, ein Bekannter meines verstorbenen Schwagers«, sinnierte Jessica nachdenklich und ließ sich auf ihrem alten Platz am Esstisch nieder. Die Sache war äußerst mysteriös und warf so viele Fragen auf. »Wie viele Gespräche wurden denn mit der Hamburger Nummer geführt? Und vor allem … wann und wie lange wurde telefoniert?« Fragend sah Jessica erst Herrn Forster, dann Herrn Willig an.

»Meine liebe Frau Grothe«, erklärte Hauptkommissar Forster mit einem weisen und überheblichen Lächeln auf seinen Lippen. »Sie können sicher ganz wunderbar Bestellungen aufnehmen und ganz ausgezeichnet bedienen«, sagte er arrogant. »Mein Kollege und ich konnten uns von letzterem höchst persönlich überzeugen. Doch bitte, versuchen Sie nicht, sich Gedanken über etwas zu machen, von dem Sie überhaupt keine Ahnung haben.« Der Beamte erhob sich gemächlich vom Stuhl und sein Kollege Willig tat es ihm eifrig und ein wenig hektisch gleich.

»Machen Sie Ihre Arbeit und wir unsere, okay?«

Jessicas Blicke waren unerbittlich und wütend, doch sie schwieg und blieb sitzen.

»Ich erwarte Ihre Schwester morgen um 10 Uhr auf der Wache«, bestimmte der Hauptkommissar ernst und Jessica vermutete, dass er selten keinen Erfolg mit diesen Befehlen hatte. Er wirkte in diesem Moment respekteinflößend und stark. »Ich werde auch Frau Reuter zu der Telefonnummer befragen müssen. »Als Jessica immer noch keine Reaktion zeigte, lächelte Florian Forster wieder überheblich.

»Ich finde auch allein hinaus, bleiben Sie ruhig sitzen, Frau Grothe. Vielen Dank für Ihre Mühen und das Gespräch.«

Mit diesen Worten verschwand er durch die Haustür, ohne sich noch einmal umzudrehen, und nahm seinen Kollegen mit, der wie sein Schatten an ihm klebte.

Kapitel 4

Die kühle Oktoberluft und der leichte Nebel, der über den Wiesen aufstieg, tauchte die Landschaft in eine beruhigende Herbstidylle. Jessica Grothe lief entspannt, doch mit großen kräftigen Schritten am Ufer des Bachtelweihers entlang und genoss die Ruhe ebenso wie den leichten Nieselregen, der ihr ins Gesicht wehte und ihre aufgeheizte Haut etwas abkühlte. Beim Joggen im Freien konnte sie am allerbesten nachdenken. Das war schon immer so. Noch als Schülerin hatte sie mit diesem Sport begonnen und besonders vor schwierigen Klassenarbeiten hatte ihr die Muskelanstrengung und die frische Luft Entspannung und Energie gebracht. Nach dem ereignisreichen gestrigen Tag und dem Treffen mit Martin in der Kneipe konnte sie in der Nacht kaum schlafen, also hatte sie sich gleich, als es draußen wieder hell wurde, ihre Laufschuhe übergezogen und hatte das Haus noch vor den Kindern, und noch bevor ihre Eltern wach wurden, verlassen. Jetzt lief sie bereits seit eineinhalb Stunden und war auf dem Heimweg.

Es war schön gewesen, ihren ehemaligen Hamburger Kollegen Martin Hansen wiederzusehen. Er war auf der Durchreise nach Österreich gewesen, wo er seinen Urlaub bei den Schwiegereltern seiner Arbeitskollegin Renate verbringen wollte, und hatte sich kurzfristig entschieden, Jessica zu besuchen. Es fiel ihm anfangs unheimlich schwer, sein schlechtes Gewissen zu verbergen, und Jessica wusste nur zu genau, wie er sich fühlte. Auch sie hatte nach Wolfgangs Tod in Hamburg alle Kontakte abgebrochen und selbst gute Freunde nicht mehr an sich herangelassen. Jeder, der Wolfgang näher gekannt hatte, trug sein Päckchen und musste sehen, wie er mit diesem Verlust klarkam und ohne Wolfgang weiterleben konnte. Martin hatte Jessica berichtet, dass es nach wie vor noch keine weiteren wichtigen Erkenntnisse im Mordfall Reuter gab und die Ermittlungen immer träger verliefen. Die Polizei konzentrierte sich wieder mehr auf aktuelle Kriminalfälle und Wolfgangs Fall würde wohl als ungelöst in die Geschichte eingehen und in den unzähligen Akten im Keller der Dienststelle verschwinden.

Wie von allein liefen Jessicas Beine, und das dumpfe Trampeln ihrer Füße auf dem befestigten Schotterweg, der um den See herumführte, war neben dem leichten Sausen des Windes das einzige Geräusch um sie herum. Gleich würde sie wieder ein Stück an der Straße entlanglaufen müssen, dann ein kurzes Stück durch ein Wohngebiet und in weniger als 10 Minuten würde sie wieder zu Hause sein.

Der Besuch der zwei Beamten vom Vortag war ein weiteres Mysterium, mit dem sich Jessica während ihrer Joggingrunde beschäftigte. Nach wie vor war es ihr ein absolutes Rätsel, warum dieser ihr völlig unbekannte Mann, der so kaltblütig am letzten Samstag auf dem Baumarktparkplatz erschossen wurde, ausgerechnet ihre Hamburger Telefonnummer in seinem Handy gespeichert hatte. In der Montagsausgabe der Regionalzeitung war sogar ein Foto von diesem Herrn Vollmer abgebildet worden. Dieser Mensch war Jessica gänzlich unbekannt. Vielleicht konnte ihre Schwester heute auf dem Revier Licht in das Dunkel bringen. Vielleicht war es auch nur ein dummer Zufall. Auch die Telefonverbindungen in Wolfgangs Handy und die seines Festnetzanschlusses waren im letzten Jahr überprüft worden. Jessica musste, obwohl es ihr gänzlich widerstrebte, auch kurzzeitig wegen eventuellen Korruptionsverdachts ermitteln, doch wie Jessica bereits vermutete, bestätigte sich dieser Verdacht nicht. Ihr Schwager hatte absolut keine ungewöhnlichen Verbindungen aufrechterhalten. Auch Anrufe nach Süddeutschland hatte er in den letzten zwei Jahren seines Lebens nicht geführt. Die Beamten, die speziell für die Überprüfung der Telefondaten abgestellt worden waren, hatten keine derartigen Unregelmäßigkeiten oder unerklärlichen Fernverbindungen festgestellt. Hauptwachtmeister Reuter blieb auch nach seinem Tod ein angesehener und korrekter Beamter, der niemandem etwas schuldig geblieben war.

Wenige Minuten später joggte Jessica über die kleine Rasenfläche vor dem Endreihenhaus, bog um den großen Lorbeerbusch und verlangsamte ihr Tempo erst kurz vor der Kelleraußentreppe. Sie stieg die Stufen hinunter, schloss die schwere Metalltür auf und trat in den Kellergang und in das rechts angrenzende Badezimmer.

Als sie um Punkt 10 Uhr frisch geduscht und dick eingepackt in ihren alten grünen Frotteebademantel das Wohnzimmer betrat, traf sie nur auf ihren Vater. Er saß auf dem beigen Ledersofa, die Beine lässig übereinandergeschlagen und Kopf und Oberkörper hinter einer Zeitung verborgen.

»Guten Morgen, Jessica«, dröhnte sein tiefer Bass hinter der Tageszeitung hervor. »Dein Frühstück steht noch auf dem Tisch. Warst du Laufen?« Er klappte umständlich die viel zu große Zeitung zusammen und kam herüber, um sich gemeinsam mit seiner Tochter an den Esstisch zu setzen.

»Guten Morgen, Paps.« Jessica gab ihrem Vater einen Kuss auf die Wange. »Laufen beruhigt mich«, sagte sie nur, setzte sich und griff nach der Thermoskanne mit dem heißen Wasser. »Möchtest du auch noch einen Tee?«

»Gern.« Ohne Jessica aus den Augen zu lassen, schob er ihr eine leere Tasse entgegen und stützte dann seine Ellenbogen auf den Tisch und sein Gesicht in seine Hände. »Deine Mutter ist mit deiner Schwester zu diesem Hauptkommissar Forster gefahren, um ihre Aussage zu machen. Sie gehen im Anschluss noch durch die Stadt ein wenig Bummeln«, erklärte Herbert Grothe seiner Tochter, als diese sich fragend im Wohnzimmer umsah. Jessica lächelte. Ihr Vater hatte die erschreckend fantastische Gabe, Gedanken zu lesen. Zumindest hatte man als sein Gesprächspartner oft dieses Gefühl. Dabei besaß er einzig und allein eine ausgezeichnete Menschenkenntnis und das Talent, Gesten richtig zu deuten.

»Worum geht es denn eigentlich?«, fragte er schließlich, griff nach dem kleinen silbernen Löffel neben seiner Tasse und rührte fast gedankenverloren in dem heißen Teewasser herum. Der Faden des Teebeutels in seiner Tasse wickelte sich dabei immer mehr um den kreisenden Löffel, doch Herbert Grothe störte sich nicht daran.

Jessica berichtete ausführlich von den wenigen Erkenntnissen zu dem Baumarktmord, als würde sie wie in alten Zeiten einen eigenen Fall mit ihrem Vater besprechen und auf seinen Rat oder eine zündende Idee hoffen. Doch mit ihren schwammigen und ungenauen Angaben konnte auch der Hauptkommissar A. D. nichts anfangen.

»Scheint ein interessanter Fall zu sein«, grübelte Jessicas Vater mehr für sich. »Und wenn die Beamten solchen Kleinsthinweisen wie Telefonnummern im Handy nachgehen, dann haben sie vermutlich nicht gerade viele Hinweise am Tatort gefunden. Vielleicht erfahren die anderen später mehr.« Mit den »anderen« meinte er seine jüngere Tochter Susanne und seine Frau. Auch Jessica brannte bereits gespannt darauf, mehr zu erfahren. Vielleicht war dieser Hauptkommissar Forster bei ihrer Schwester etwas zugänglicher und rückte endlich mit mehr Informationen heraus. Gestern noch hatte sich Jessica ganz fürchterlich über diesen arroganten Schnösel von Kriminalbeamten geärgert. Der glaubte doch tatsächlich, er wäre etwas Besseres und er könne sie behandeln, wie es ihm beliebte. Doch jetzt schmunzelte sie beinahe über dieses steinzeitlich männliche Verhalten ihres Allgäuer Kollegen. Immerhin hatte er mit seiner überheblichen Art genau das erreicht, was er erreichen wollte, und dabei nur die nötigsten Informationen preisgegeben. Er war zwar unausstehlich, aber scheinbar wirklich ein Profi.

Dem geballten mädchenhaft schüchternen Charme ihrer Schwester allerdings würde er kaum etwas entgegenzusetzen haben. Soweit sich Jessica erinnerte, gelang es ihrer Schwester bisher immer mühelos, jeden Mann in ihren Bann zu ziehen, um den Finger zu wickeln und schließlich mit dieser komplett gegensätzlichen Vorgehensweise genau wie Florian Forster alle Informationen zu bekommen, die sie haben wollte.

»Susi macht das schon«, bestimmte Jessica schließlich und zwinkerte ihrem Vater wissend zu. Herbert Grothe brach in schallendes Gelächter aus.

Während der wenigen letzten Tage des Besuches ihrer Eltern war der Mordfall immer noch Hauptgesprächsthema und wurde erst ad acta gelegt, als Elfriede Grothe wütend mit der Faust auf den Tisch schlug und verkündete, dass sie von dieser Sache jetzt wirklich genug hätte. Natürlich schlug sie nur verbal und auch das sehr gesittet, denn Elfriede Grothe widerstrebte jede Art von Kontrollverlust gänzlich, sodass lediglich ihre Augen sich zu schmalen Schlitzen verengten und ihre Worte streng, aber gewählt und bedächtig klangen. Und Jessicas Mutter hatte recht. Weitere Ermittlungen hatten ergeben, dass im Handy des Mordopfers die Rufnummernunterdrückung eingeschaltet war und niemals vom Festnetzanschluss der Familie Reuter ein Gespräch zu diesem Mobiltelefon getätigt wurde. Es gab also offensichtlich keine Verbindung ihrer Familie zu diesem armen Herrn Vollmer.

Wie Jessica bereits vermutet hatte, war ihre Schwester Susanne nach ihrem Termin im Polizeirevier mit einigen neuen Erkenntnissen zur Sachlage nach Hause gekommen und hatte gänzlich Freude daran gehabt, Jessica und ihren Vater mit den neuen Informationen zu füttern.

Klaus Vollmer war demnach auf dem Weg von seiner Arbeitsstelle nach Hause gewesen. Er hatte also im Baumarkt gearbeitet, war scheinbar nicht sonderlich reich gewesen und hinterließ eine Frau und drei kleine Kinder. Einen wirklichen Grund für die Tat konnten die Beamten bisher noch nicht ausmachen. Sie vermuteten eine Eifersuchtstat, doch seine Frau hatte ein Alibi und es gab auch keine Hinweise auf eine mögliche Geliebte. Geldsorgen waren bei dieser Familie das einzig erkennbare Problem und schlossen somit auch Mord aus Habgier und einen Raubüberfall aus. Trotz der Redseligkeit des Kommissars bekam Susanne leider keine Auskünfte über mögliche Spuren am Tatort oder Informationen über den Freundes- und Bekanntenkreis des Opfers, wie sie bedauernd, doch schelmisch grinsend ihren wissenshungrigen Angehörigen mitteilte. Susanne hatte, wie nicht anders erwartet, einen hervorragenden Job gemacht, als sie all diese Informationen mit wenigen charmanten Augenaufschlägen dem Hauptkommissar aus den Rippen geleiert hatte.

Schließlich reisten ihre Eltern nach zehn Tagen wieder ab und im Reihenhaus Grothe kehrte der Alltagstrott zurück.

Susanne arbeitete wieder vormittags in der Kanzlei, die Kinder besuchten Schule und Kindergarten und Jessica verbrachte ihre Abende in der Kneipe und bediente mehr oder weniger betrunkene und mehr oder weniger sympathische Menschen, wobei das eine nicht unbedingt etwas mit dem anderen zu tun hatte.

Der Mordfall Vollmer geriet mehr und mehr in Vergessenheit und auch die regionale Presse verlor merklich das Interesse an diesem Verbrechen. Die anfänglich dramatischen Schlagzeilen wurden abgelöst von banalen Alltagsinformationen über bevorstehende Herbstbasare oder die Rede des Bürgermeisters zur Einweihung des neuen Gemeindezentrums.

In Kempten kehrte wieder Ruhe ein.

So richtig wohl fühlte sich Martin hier auf dem Bauernhof nicht. Seine Kollegin Renate hatte ihm die kleine Ferienwohnung auf dem Hof ihrer Schwiegereltern günstig vermittelt und er selbst hatte das Gefühl, er müsste unbedingt mal raus, unbedingt einmal weit weg von Hamburg Urlaub machen, so dass er dankbar das Angebot annahm. Jetzt allerdings bereute er diese Entscheidung. Die beiden älteren Verwandten von Renate belegten ihn fortwährend mit Beschlag und scheuchten ihn auf dem Hof herum, als wäre er ihr Angestellter. Vermutlich dachten sie, wenn er schon so günstig wohnte, könne er ein wenig bei der Hofarbeit helfen, um die Unmengen an Nebenkosten, die er durch seine Anwesenheit verursachte, abzuarbeiten. Das Frühstück allerdings war gut, deftig und mehr als ausreichend. Er köpfte sein Frühstücksei, das auf den Punkt genau richtig gekocht war und hervorragend schmeckte, und streute etwas Salz darauf.

Das Treffen mit Jessica vor ein paar Tagen war nett, aber mehr als unbefriedigend. Er hatte sich erhofft, ihr jetzt auf neuem Terrain etwas näher zu sein als in Hamburg unter den Augen der Familie und der Freunde, doch nach all dieser Zeit, die inzwischen verstrichen war, hatte er beinahe das Gefühl, sie wären sich fremd. Und Jessica war schön wie eh und je, hatte sich in den paar Monaten überhaupt nicht verändert, war sogar irgendwie ausgeglichener und entspannter. Der Umzug hatte den beiden Schwestern vermutlich sehr gutgetan.

Martin hatte bei seinem Treffen mit Jessica nicht erwähnt, dass er bereits seit zwei Tagen in Kempten war, bevor er sich traute, überhaupt bei ihr anzurufen. Sie sollte nicht wissen, wie sehr das schlechte Gewissen ihn plagte, wie sehr er immer noch unter dem Verlust des besten Freundes litt, und auf gar keinen Fall wollte er Susanne begegnen. Er hätte nicht gewusst, was er ihr sagen sollte. Sie hatte es schließlich am Allerschlimmsten getroffen. Sie hatte nicht nur ihren besten Freund, sondern auch ihren Partner und den Vater ihrer Kinder verloren. Es gab nichts, was er ihr Tröstendes hätte sagen können.

Er trank seinen Kaffee und die Milch aus, griff nach dem duftenden Brot mit leckerer hausgemachter Butter darauf und schob es sich in den Mund. Dann stand er auf und verließ den kleinen Frühstücksraum durch die Terrassentür nach draußen. Die klare frische Bergluft und der herrliche Blick ins Tal entschädigten ihn etwas für diese Reise, die nicht das gebracht hatte, was er sich erwünschte. Jessica war immer noch nicht seine Freundin.

Tief über die Akten gebeugt studierte Hauptkommissar Forster zum wiederholten Male die Untersuchungsergebnisse, die bislang vorlagen. Der Mordfall Vollmer entpuppte sich als ein schwieriger, undurchsichtiger Fall, der unheimlich nervte, weil es eben kaum voranging. Das Opfer schien völlig grundlos gestorben zu sein und absolut nichts, nicht einmal ein undeutlicher Fußabdruck deutete auf den Täter hin. Die Mordwaffe war nach wie vor unauffindbar, lediglich die Patronenhülse und die Kugel selbst waren sichergestellt worden, ließen aber auch keine näheren Vermutungen zu. Klaus Vollmer war mit einer einzigen Kugel im Rücken niedergestreckt worden, aus welchem Grund wusste niemand.

Jetzt, gute 14 Tage nach dem Mord, war es sehr unwahrscheinlich, den Mörder noch zu finden, doch Florian Forster wollte auf gar keinen Fall aufgeben. Gerade scheinbar unlösbare Fälle weckten sein kriminalistisches Interesse, ließen ihn fast fanatisch immer intensiver nach möglichen Motiven suchen und brachten ihm im Kreis seiner Kollegen den Spitznamen »Kampfterrier« ein, weil er sich in solche Fälle regelrecht verbiss und niemals aufgab.

Tief in Gedanken griff er nach seinem Kaffeebecher und nahm einen Schluck eiskalten Kaffee. Angewidert verzog er das Gesicht und stellte die Tasse zurück auf das einzig freie Plätzchen auf seinem überfüllten Schreibtisch. Aktenordner, Briefe, lose Zettel, seine Dienstmütze, diverse Stifte, Kaugummipackungen und ein Blumentopf mit einem komplett vertrockneten schrumpeligen Kaktus waren neben seinem Bildschirm und der Tastatur mehr oder weniger geordnet über seinen ganzen Schreibtisch verteilt. Hier im ersten Stock der Dienststelle war so gut wie kein Kundenverkehr und unumgängliche Verhöre wurden sowieso im angrenzenden Schreibzimmer oder in dem dafür vorgesehenen Verhörraum geführt. Es bestand also gar keine Veranlassung, Ordnung zu halten.

Hauptkommissar Florian Forster hasste die anfallende Büroarbeit, arbeitete viel lieber draußen und besuchte seine Verdächtigen gern zu Hause. Auch die häusliche Umgebung konnte schließlich Aufschluss über die zu befragende Person geben.

Von der Wohnsituation der beiden Schwestern aus Hamburg allerdings konnte er überhaupt keine Rückschlüsse ziehen. Aus welchem Grund hatten die beiden ein so enges Verhältnis, dass sie sogar den Wohnraum miteinander teilten, ja, noch dazu selbst in Hamburg schon immer geteilt hatten? Doch darüber brauchte er sich keine weiteren Gedanken machen, denn diese Spur hatte sich als Sackgasse herausgestellt. Nichts deutete auf eine Verbindung des Opfers zu den Schwestern oder dem verstorbenen Polizisten Reuter aus Hamburg hin, denn auch das Gespräch mit Susanne Reuter vor einer Woche hatte keine neuen Anhaltspunkte ergeben. Als er jetzt an die Unterhaltung mit der jüngeren der beiden Schwestern dachte, schüttelte er gedankenverloren seinen Kopf. Frau Reuter war eine unheimlich attraktive, sehr zierliche Frau und ihr Aussehen und ihr charmantes Auftreten hatten ihn total in ihren Bann gezogen. Normalerweise reagierte er auf Frauen ebenso sachlich und professionell wie auf jeden Mann, den er befragte, doch Susanne Reuter hatte etwas an sich, das ihn faszinierte. Im Nachhinein war er sich bewusst, dass er plappernd und offenherzig über den Fall gesprochen hatte, obwohl genau das sonst gar nicht seine Art war, und dieses Verhalten ärgerte ihn sehr. Er ließ sich ungern manipulieren, denn er zeigte nie Schwäche und verlor selten die Kontrolle über ein Gespräch oder eine Situation. Und Susanne Reuter war zwar unbestritten schön, doch weder ihr Äußeres noch ihr schüchternes und damit hilfloses Verhalten zogen ihn als Mann in irgendeiner Form an. Seine Traumfrau musste schlank, sportlich und selbstbewusst sein, ein Karrieremensch durch und durch, genau wie er, die wusste, was sie wollte, vielleicht schwer zu lenken war, aber gerade das machte doch den Reiz einer Partnerschaft aus. Er wollte diskutieren und streiten. Hauptkommissar Florian Forster brauchte eine intelligente Frau, die ihn forderte, geistig wie auch körperlich. Florian Forster brauchte keine Kellnerin!

956,89 ₽
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Возрастное ограничение:
18+
Дата выхода на Литрес:
26 мая 2021
Объем:
380 стр. 1 иллюстрация
ISBN:
9783839249604
Издатель:
Правообладатель:
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