Читать книгу: «Schattenklamm», страница 2

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»Tante Jessi?« Eine kleine Kinderhand schob sich in ihre und zwei große dunkelblaue Augen schauten zu ihr hinauf. »Wollen wir jetzt backen?«

»Hey, Kleines. Hast du auch eine Telefonnummer?« Ein großer, breitschultriger Mann mit viel zu langem, rotblondem Haar stellte sich Jessica in den Weg, sodass sie erschrocken ins Straucheln geriet und beinahe das Tablett mit dem Bier und den Tortillas für Tisch 16 fallen ließ. Sie schob die verrutschten Gläser wieder zurecht, atmete einmal tief durch und setzte dann ein breites Grinsen auf.

Jessica wurde bereits beim Vorstellungsgespräch erklärt, was ihr Chef und Besitzer der Kneipe, Markus Mertens, für sein Geld erwartete. Offenheit, Schlagfertigkeit und hier und da ein wenig flirten waren Pflicht. Auch durfte die Hand eines Gastes auf dem eigenen Hintern kein Problem darstellen und wäre sogar erwünscht. »Der Gast ist bei uns König, Kleines«, hatte Herr Mertens frivol grinsend bestimmt, »und zwar in jeder Beziehung. Ich hoffe, wir verstehen uns.«

Nach bis dahin mindestens zehn Absagen hatte Jessica diese Arbeit schließlich dankend angenommen. Und die Gäste der Kneipe waren in Wahrheit erstaunlich umgänglich, nett und sehr gesittet. Wären da nicht diese ungewohnten und vor allem unbequemen Klamotten, würde ihr der Job sicher auch noch Spaß machen.

»Bitte sehr, die Herren. Zwei Pils, ein Radler und die Tortillas. Zum Wohl!« Jessica griff nach den leeren Gläsern der letzten Bierrunde und platzierte sie auf ihrem Tablett.

»Wie heißt du? Du bist neu hier, oder?« Ein junger Mann beugte sich über den Tisch, um wegen der lauten Musik und dem Stimmengewirr von den Nachbartischen nicht allzu laut schreien zu müssen.

»Ja, ich bin neu. Sozusagen noch ganz frisch«, gab Jessica spontan zur Antwort, erinnerte sich dann wieder an die Ermahnungen ihres Chefs und zwinkerte dem Mann zusätzlich noch zu.

»Und wie heißt du?«, fragte der Mann erneut und grinste jetzt breit.

»Frag sie, ob sie einen Freund hat«, kam die Anweisung von links neben ihm. Ein etwas untersetzter Mittzwanziger boxte seinem Nachbarn grob gegen die Schulter.

»Ich heiße Jessica und nein, immer wenn ich hier arbeite, habe ich keinen Freund.« Den zweiten Teil ihrer Antwort richtete Jessica direkt an den dickeren Mann. »Und du?«

»Ich bin solo. Steh nicht so auf diesen Beziehungsquatsch«, verkündete er, lehnte sich lässig in seinem Stuhl zurück und fuhr sich arrogant mit der Zunge über die Vorderzähne. »Aber gegen ein wenig Spaß habe ich nichts.« Jetzt zwinkerte er Jessica zu.

Jessica lachte. »So viel geballter Manneskraft, wie du ausstrahlst, bin ich gar nicht gewachsen«, hauchte sie und versuchte ihrer Stimme gleichzeitig Bewunderung und eine leise Spur von Schüchternheit zu verleihen. Mit einer einzigen fließenden Bewegung griff sie nach dem letzten leeren Glas, drehte sich auf dem Absatz um und ließ diesen eingebildeten Schnösel einfach stehen.

Ein wenig wunderte sie sich immer noch darüber, wie leicht es ihr fiel, Situationen wie diese zu meistern, ohne vor Scham im Erdboden zu versinken oder vor Peinlichkeit kein Wort herauszubekommen. Schlagfertig war sie schon immer gewesen, doch mit derben Anmachsprüchen hatte sie als Kriminalbeamtin selten zu tun gehabt. Mit ihrer Uniform, ihrem Polizeiausweis und ihrer Dienstwaffe bekleidet, hatten Männer entweder genug Respekt vor ihr gehabt oder hielten sie für eine Furie, ein keifendes, abartiges Miststück, mit der man absolut keinen Spaß haben konnte. Jetzt hielten sie alle für ein dummes Blondchen ohne eigene Meinung, die nur darauf wartete, von heißen Verehrern erobert und genommen zu werden. Zum ersten Mal in ihrem Leben konnte sie sich wirklich hineinversetzen in all diese Frauen, die auf der Hamburger Reeperbahn aus den unterschiedlichsten Gründen anschaffen gingen. Trotz der Demütigungen, denen sie täglich ausgesetzt waren, trotz der Abhängigkeit von Freiern und dem eigenen Zuhälter gab ihnen das abartige und unterwürfige Begehren in den Augen der notgeilen Männer eine gewisse Art von Macht, eine Überheblichkeit und Stärke, die sie durchhalten ließ und die sie für ihren eigenen Selbstwert nur zu gut gebrauchen konnten. Wenn man die Sache aus ihrer Sicht betrachtete, waren sie diejenigen, die Macht ausübten und viel stärker waren als all die kleinen Schwächlinge, denen die herrschsüchtige Ehefrau zu Hause oder eigene solide Handarbeit einfach nicht ausreichte.

Zufrieden lächelnd schlenderte Jessica mit ihrem Tablett hinter den Tresen und stellte die leeren Gläser auf die Ablage neben dem Spülbecken. Sie verschaffte sich einen kurzen Überblick über den Gastraum und stellte fest, dass alle ihre Tische gut versorgt waren und nirgends auch nur ein annähernd leeres Glas zu sehen war. Jetzt, um kurz vor Mitternacht wurde es ruhiger in der Kneipe. Ruhig allerdings nicht im eigentlichen Sinne, denn der Geräuschpegel nahm im Laufe des Abends stetig zu, doch die Anzahl der Gäste war jetzt überschaubar, ab 23 Uhr konnte auch kein warmes Essen mehr bestellt werden und die Bedienungen hatten deutlich weniger zu tun. Um diese Uhrzeit saßen die meisten der Gäste auch nicht mehr an den Tischen, sondern direkt an der Theke. Die Arbeit im Thekenbereich erledigte fast ausschließlich Paula, eine junge, vollbusige und rothaarige Frau, die genau wegen dieser körperlichen Attribute vom Chef hier platziert worden war und bei den Kneipengästen hervorragend ankam. Sie plauderte und flirtete mit den Männern am Tresen und Jessica war sich sicher, dass der eine oder andere Gast auch mal mehr Service von ihr geboten bekam als nur einen tiefen Einblick in ihr allzu üppiges Dekolleté. Dennoch hatte sich Jessica von Beginn an ausgezeichnet mit Paula verstanden.

»Hi, Jess. Läuft alles gut?«, fragte die rothaarige Kollegin und begann, die mitgebrachten Gläser zu spülen.

»Alles prima, Paula. Jetzt wird’s ja auch etwas ruhiger.« Jessica ließ sich auf den kleinen Hocker plumpsen, der hinter der Theke stand. Sie wusste, dass Markus Mertens diese offensichtlichen Pausen nicht guthieß, doch da er heute nicht in der Kneipe war, nutzte Jessica die Gelegenheit, kurz ihre Beine auszustrecken und aus ihren Schuhen zu schlüpfen.

»Du, Jess?« Paula drehte sich zu ihr um, setzte ein beinahe sorgenvolles Gesicht auf und hob gleichzeitig fragend ihre Augenbrauen. Sie hatte eine ganz eigene theatralische Art, Dingen, und seien sie noch so unwichtig, durch einen dramatischen Gesichtsausdruck mehr Präsenz zu verleihen.

»Was denn?«

»Kannst du mich nachher mitnehmen? Mein Auto streikt schon wieder. Ich muss die olle Karre morgen wohl wirklich in die Werkstatt bringen.« Ein heftiges Kopfschütteln und ein Griff mit der Hand an ihre Schläfe unterstrichen auch dieses Mal die Dramatik eines Werkstattbesuches und das tragische Schicksal eines autolosen und damit verlorenen Mädchens.

»Klar.« Jessica schlüpfte in ihre Schuhe und stand auf. Es war nicht das erste Mal, dass sie Paula nach Hause brachte, und es war auch nicht gerade auf dem Weg, somit auch kein »Mitnehmen«, sondern eher ein unglaublicher Umweg, doch Jessica machte es gern. Sie liebte das Autofahren, besonders in der Nacht. Es gab ihr die Gelegenheit zum Nachdenken und Ruhe finden. Im Auto konnte Jessica prima entspannen.

Eine Stunde später saß Paula neben Jessica auf dem Beifahrersitz und plapperte fast ununterbrochen. Jessica konnte nach einem Abend in der Kneipe gar nicht verstehen, dass ihre Kollegin immer noch so ein Mitteilungsbedürfnis hatte. Man konnte doch annehmen, sie hätte seit Stunden nichts anderes getan, als zu reden, zu lächeln und zu flirten. Um 1 Uhr Nachts sollte man ruhig sein, die Dunkelheit genießen und nur noch das leise Brummen des Motors hören müssen. Auch das Radio blieb bei Jessica in der Nacht immer aus, obwohl sie sonst geradezu ein Musik-Junkie war, alte und neue Rocksongs liebte und auch in einer Lautstärke hörte, die für ihre Ohren nicht mehr gesund war. Genau aus diesem Grund brauchten ihre Ohren nachts ihre Ruhe.

Genervt schaltete sie in den dritten Gang runter und gab richtig Gas, als sie auf die B 12 fuhr, um nach Wildpoldsried zu kommen. Ihr BMW heulte zufrieden auf und beschleunigte beinahe ohne jeden Widerstand. Jessica lehnte sich entspannt in ihrem Sitz zurück und lächelte selig.

»Guck mal, Jess. Was blinkt denn da?« Verwundert deutete Paula mit dem Zeigefinger in die Dunkelheit vor ihnen, tippte sogar von innen gegen die Windschutzscheibe und schaute dann zu Jessica hinüber.

»Scheiße. Verdammter Mist. Ausgerechnet …!« Jessica trat auf die Bremse und reduzierte ihr Tempo auf ein angemessenes Maß. Die rot leuchtende Polizeikelle etwa 100 Meter vor ihr wies sie trotzdem an, in die Parkbucht einzubiegen und direkt hinter dem dort parkenden Streifenwagen, einem dunklen VW-Bus, anzuhalten.

»Was wollen die denn von uns?«, fragte Paula vorwurfsvoll und starrte wütend auf das Auto der Polizisten, obwohl das nun wirklich nichts für Jessicas überhöhte Geschwindigkeit konnte.

Jessica schaltete den Motor aus und ließ durch einen Knopfdruck die Scheibe auf der Fahrerseite hinunter. Kalte Nachtluft strömte in den warmen Innenraum und Paula schlang fröstelnd die Arme um ihren Körper.

»Einen schönen guten Abend, junge Frau. Sie wissen, warum wir Sie angehalten haben?« Eine ältlich aussehende Polizistin mit einem kantigen Gesicht und tiefen Falten auf der Stirn blickte streng und unerbittlich in den Wagen, schnüffelte dann, verzog angewidert das Gesicht und legte ihre rechte Hand auf ihre Dienstwaffe, die in einem Halfter an ihrem Gürtel hing. »Steigen Sie bitte aus. Haben Sie etwas getrunken?«, fragte sie. Es klang allerdings nicht so, als würde sie eine Antwort erwarten. Es war mehr eine Feststellung. Sie trat einen Schritt zurück und Jessica stieg tief seufzend aus dem Wagen.

»Nerve ich Sie?«, fragte diese Polizistin überheblich lächelnd, ohne ihre Hand von ihrer Dienstwaffe zu nehmen, und Jessica beschloss, sie nicht zu mögen. Eine wirklich unangenehme Person, die glaubte, sie sei etwas Besseres, nur weil sie eine Uniform trug. Solche Menschen waren Jessica zuwider.

»Selbstverständlich nicht, Frau …?« Fragend sah Jessica zu der Polizistin hinüber, die sich jetzt erhobenen Hauptes vor ihr aufbaute.

»Oberwachtmeisterin Schneible«, half sie ihrem Opfer auf die Sprünge und grinste dann wieder breit.

»Oh Mann, entschuldigen Sie«, trällerte Jessica fröhlich. »Da hätte ich Sie doch beinahe falsch angeredet. Ich hatte vermutet, dass Beamte in Ihrem Alter und mit Ihrer Kompetenz bereits Hauptwachtmeister wären. Sie legen sicher großen Wert auf eine korrekte Anrede, Frau Schneible.« Hatte ihre Aussage bis dahin noch nicht Frau Oberwachtmeisterins Nerv getroffen, ließ nun das komplette Weglassen ihres Titels sie beinahe explodieren. Wäre es nicht so dunkel gewesen, dann, da war Jessica sich sicher, hätte sie in ein purpurfarbenes, wütend verzerrtes Polizistinnengesicht geblickt.

»Haben Sie etwas getrunken?«, presste Frau Schneible zwischen fest zusammengebissenen Zähnen hervor.

»Zuallererst gebe ich Ihnen einmal meinen Führerschein. Sie haben vergessen, danach zu fragen«, belehrte Jessica die Beamtin und konnte nicht umhin, selbst breit zu lächeln, kramte in ihrer Handtasche und zog ihre Geldbörse heraus. »Und nein«, fügte sie hinzu, »ich habe nichts getrunken.«

Sie reichte Frau Oberwachtmeisterin Schneible ihren Führerschein.

»Jetzt belügen Sie mich aber.« Polizistin Schneible war sichtlich um Fassung bemüht. Ihre Stimme bebte leicht, doch sie strengte sich an, ruhig und überheblich zu klingen, und nahm Jessica den Führerschein ab. »Sie riechen bestialisch nach Alkohol. Sie sind voll wie eine Haubitze …«, verkündete sie triumphierend, leuchtete mit der Taschenlampe erst auf die Papiere in ihrer Hand und dann direkt in Jessicas Gesicht. »… Frau Grothe.«

Jessica hob abwehrend die rechte Hand vor ihre Augen, um sich vor der plötzlichen Helligkeit zu schützen, und wollte gerade etwas auf die unberechtigten Vorwürfe erwidern, als Paulas glockenhelle Stimme aus dem Innenraum ihres BMWs nach draußen wehte.

»Liebe Frau Wachtmeisterin«, sang sie fröhlich, »meine gute Freundin Jessica riecht nur so komisch, weil sie sich ein komplett volles Bierglas über ihren Rock geschüttet hat. Und da wir im Anschluss sowieso die Kneipe verlassen haben, hätte sich das Auswaschen auf dem Klo gar nicht mehr gelohnt.«

Frau Oberwachtmeisterin Schneible beugte sich hinunter und blickte durch die geöffnete Fahrertür in den Wageninnenraum und direkt in Paulas tiefen Ausschnitt, die sich weit hinübergebeugt hatte, um von dem Geschehen draußen nichts zu verpassen. Jessica schüttelte seufzend ihren Kopf, verdrehte ihre Augen und flüsterte ein »Na, herzlichen Dank« in die kalte Nachtluft.

Als Polizistin Schneible sich wieder aufrichtete und sich nach einigen Sekunden scheinbar von Paulas Anblick erholt hatte, setzte sie erneut ihr überheblich grinsendes Gesicht auf.

»So, liebe Frau Grothe. Würden Sie mir bitte zum Wagen folgen. Schauen wir doch einmal, ob ich Ihren Führerschein gleich behalten darf.« Sie packte Jessica an der linken Schulter und schob sie vorweg zum Kleinbus und durch die geöffnete Seitentür. Dort wartete ein großer, schlaksiger Polizist an einem kleinen Schreibtisch, nahm den Führerschein an sich und lächelte Jessica freundlich entgegen.

»Frau Grothe, wie ich sehe«, sagte er nach einem Blick auf ihre Papiere. »Nehmen Sie Platz. Wenn Ihnen kalt ist, dann schließen wir die Tür.« Er strich sich beinahe schüchtern eine Haarsträhne seines haselnussbraunen Haares aus der Stirn und griff nach einem Kugelschreiber. »Nehmen wir erst einmal Ihre …«

»Halt«, unterbrach ihn seine resolute Kollegin. »Zuerst einen Alkoholtest. Die hat getrunken«, befahl sie, drehte sich um, ließ den jungen Mann mit Jessica allein und die Seitentür weit offen.

»Ist Ihnen kalt?«, fragte der Polizist erneut und machte Anstalten, sich zu erheben.

»Nein, nein. Kein Problem«, hielt ihn Jessica zurück. »Machen Sie bitte nur schnell diesen Test. Ich bin wirklich froh, wenn ich weiterfahren kann. Es ist schon so schrecklich spät.« Sie schob sich in die Bank ihm gegenüber, legte ihre Hände flach auf den Tisch vor sich und wartete.

Kurze Zeit später, nach Aufnahme ihrer Personalien und der Ermahnung für zu schnelles Fahren, las der junge Polizist das Alkoholkontrollgerät ab, lachte triumphierend und verkündete: »Nullkommanull. Ha, das wird ihr gar nicht gefallen.« Er überreichte ihr den Führerschein und wünschte ihr noch eine gute Heimfahrt, dann entließ er Jessica aus dem Polizeibus, nicht ohne seiner Kollegin mit Handzeichen und fröhlichem Lächeln verständlich zu machen, dass alles in Ordnung sei.

Nur sehr widerwillig ließ Frau Schneible Jessica schließlich weiterfahren.

»So eine blöde Kuh«, schimpfte Paula vom Beifahrersitz und kicherte dann plötzlich hinter vorgehaltener Hand. »Hihi, das passt ja. Scheißbullen …«, betonte sie jede einzelne Silbe des Wortes und wippte dabei langsam mit dem Kopf nach links und rechts. Ihr erhobener Zeigefinger tippte im gleichen Takt in die Luft. »… blöde Kuh. Haha, verstehst du, Jess? Weibliche Polizisten sind natürlich Kühe und keine Bullen. Komisch, oder?« Paula hielt sich den Bauch vor Lachen und krümmte sich in ihrem Sitz nach vorn.

Jessica gab Gas.

Zweimal am gleichen Abend wurde man bestimmt nicht angehalten.

Kapitel 3

»Fantastischer Mohnkuchen, Susi. Herrlich locker und leicht, nicht zu süß. Genau richtig«, lobte Elfriede Grothe ihre jüngere Tochter und hob mit elegant abgespreiztem kleinen Finger ihre Kaffeetasse zum Mund, nahm einen großen Schluck und lächelte begeistert.

»Danke, Mutti«, trällerte Susanne und sah zu ihrer Schwester hinüber, »aber das Lob muss ich an Jess weitergeben. Sie hat den Kuchen gemacht.« Liebevoll legte sie Jessica ihre Hand auf den Unterarm. Die Augen ihrer Mutter schnellten zu ihrer älteren Tochter und sie nickte dieser schließlich wohlwollend zu.

»Ja, ich und Svenja haben gestern gebacken. Aber die Tischdecke, die hat Susi gebügelt. Toll, nicht? Das hätte ich niemals so gut hinbekommen.« Lauthals lachend schlug sie sich mit den Händen auf die Oberschenkel und zwinkerte ihrer kleinen Schwester zu. Jessica wusste, wie sehr es ihrer Mutter zuwider war, am Tisch und vor allem beim Essen, derart laut zu lachen. Schon lautes Sprechen war ihrer Meinung nach nicht schicklich, doch Jessica hatte das nie gestört und auch Susi stimmte jetzt in ihr Lachen mit ein. Ihr Vater Herbert allerdings tupfte sich schnell mit seiner Serviette ein paar imaginäre Kuchenkrümel von seinen Lippen und versteckte so ein viel zu breites Grinsen.

»Schön habt ihr es hier«, sagte er schließlich mit einem Blick in den kleinen Garten hinter der großen Fensterfront im Wohnzimmer. »Der Garten ist aber noch nicht fertig«, entschied er schließlich.

»Wir haben gestern aber schon Blümchen gepflanzt, Opa«, meldete sich jetzt die kleine Svenja zu Wort. Susannes Tochter rutschte vom Esszimmerstuhl, lief zu ihrem Großvater und kletterte auf seinen Schoß. »Jetzt schlafen sie aber noch«, verkündete sie und legte ihm ihre kleinen Ärmchen um den Hals. »Erst im Frühjahr kommen sie heraus …«

»Im Frühjahr oder in Australien …«, warf Jessica ein und sorgte damit wieder für ausgelassene Stimmung.

Über den Besuch ihrer Eltern freuten sich die beiden Schwestern sehr. In Hamburg hatte sich die Familie regelmäßig getroffen und Zeit miteinander verbracht. Seit ihrem Umzug vor gut vier Monaten waren sie nicht mehr zusammengekommen, was bei einer Entfernung von guten 800 Kilometern auch nicht verwunderlich war. Auch Wolfgang hatte von Anfang an zur Familie gehört, war herzlich in ihren engen Kreis mit aufgenommen worden und wurde von ihren Eltern wie ein drittes Kind geliebt. Der Verlust ihres Schwiegersohns hatte auch Elfi und Herbert Grothe schwer getroffen.

Als ehemaliger Kriminalhauptkommissar war Jessicas Vater erschüttert über den Mord an einem Kollegen. Obwohl er seit guten fünf Jahren im Ruhestand war, nahmen ihn solche Schreckensmeldungen nach wie vor unheimlich mit und er wollte über den Stand der Ermittlungen ausführlichst unterrichtet werden. Dass er, genau wie seine Tochter, keinen Hinweis auf den Mörder sehen und finden konnte, nahm ihn beinahe genauso mit wie der eigentliche Verlust seines geliebten Schwiegersohnes. Herbert Grothe war Kriminalbeamter mit Herz und Seele. Seine Beliebtheit im Revier und seine immer professionelle Arbeit machten es Jessica nicht leicht, in seine Fußstapfen zu treten. Dennoch musste sie zugeben, dass wohl vor allem der gute Name und die empfehlenden Worte ihres Vaters ihren eigenen raschen Karriereaufstieg gefördert hatten. Mit 29 Jahren bereits zur leitenden Hauptkommissarin ernannt zu werden, war selten und ungewöhnlich. Nicht wenige ihrer Kollegen beneideten sie damals, doch sie strafte alle Zweifler Lügen, indem sie genau wie ihr Vater sauber, präzise und erfolgreich arbeitete.

Ihr Vater hatte ihren Ausstieg aus dem Polizeidienst nicht gutgeheißen. Für ihn war ihre Aufgabe ein Zeichen von Schwäche und entsprach in keiner Weise seinem persönlichen Lebensmotto. Jessicas Vater war der Meinung, dass nur sehr wenige Menschen tief in ihrer Seele so gut waren, dass sie sich in ihrem Leben nicht anstrengen mussten, um auf dem rechten Weg zu bleiben. Die meisten Menschen hatten dunkle Flecken auf der Seele und mussten sich tagaus, tagein bemühen, ihre schlechte Seite zu unterdrücken, um wirklich gut zu bleiben.

Und Jessica hatte mit ihrem Ausstieg aus dem Polizeidienst einen Schritt in die falsche Richtung getan. Sie sah an den enttäuschten Augen ihres Vaters und seinem durchdringenden Blick, dass sie seiner Meinung nach den größten Fehler ihres Lebens gemacht hatte. Doch gesagt hatte er nie etwas. Rein äußerlich hatte er ohne Murren ihre Fehlentscheidung scheinbar respektiert.

»Guck mal, Opa«, plapperte Svenja weiter, die ihren Großvater durch die Terrassentür in den kleinen Garten gezogen hatte und jetzt mit ihm vor dem dunklen und leeren Beet am Gartenzaun stand, »hier schlafen die kleinen Tulpen.« Dann sah sie ihren Opa mit großen runden Kinderaugen an und lächelte ihm entgegen. »Und da hinten soll die Sandkiste für mich und Tobi stehen.« Sie deutete mit ihrem kleinen Zeigefinger an den Rand der gefliesten Terrasse und erinnerte ihren Opa an das Versprechen, das er ihr noch in Hamburg gegeben hatte.

Herbert Grothe brach in schallendes Gelächter aus. »Das hast du also nicht vergessen!«, polterte er, hob seine Enkeltochter hoch in die Luft und drückte sie dann fest an sich. »Gleich morgen gehen wir in den Baumarkt und kaufen dir und deinem Bruder die versprochene Sandkiste. Ihr müsst mir aber helfen, sie aufzubauen, okay?«

»Klar, Opa. Das machen wir.«

Klaus Vollmer verließ als einer der letzten den Baumarkt, in dem er seit mehreren Jahren arbeitete. Er zog seinen alten Lederblouson fest um seinen Körper und schloss die Druckknöpfe über seiner Brust. Der Reißverschluss war seit Langem schon kaputt, doch er hatte weder das Geld für eine Reparatur noch konnte er sich eine neue Jacke leisten. Zu Hause warteten drei kleine Kinder und eine Ehefrau, die selbst kein Geld verdiente. Sein Ältester war letzte Woche gerade vier Jahre alt geworden und alle drei Kinder brauchten noch intensive Betreuung und kosteten jede Menge.

Doch bald würde es ihnen allen besser gehen.

Noch immer fröstelnd, stapfte Klaus Vollmer über den leeren Parkplatz zu seinem alten Ford, der am äußersten Rand parkte und das einzige Auto in diesem Bereich des großen Platzes war. Er zog seine Zigaretten aus der Jackentasche, ein Feuerzeug aus der Gesäßtasche seiner dreckigen Jeans und blieb kurz stehen, um sich eine Zigarette anzuzünden. Trotz der Flutlichtbeleuchtung war der Parkplatz um diese Uhrzeit bereits recht dunkel und umso weiter er sich vom Gebäude weg bewegte, umso schummriger wurde die Umgebung. Er parkte immer ganz am Rand und in dieser abgeschiedenen Ecke. Niemand sollte zu aufmerksam werden auf seine alte Rostlaube, die wirklich schon bessere Tage gesehen hatte, ihm aber treu und ohne Murren auch in ihrem hohen Alter noch ihren Dienst erwies. Doch bald würde er sich ein besseres Auto zulegen können. In der einen Hand seine brennende Zigarette, in der anderen seinen Autoschlüssel, ging er weiter auf den Ford zu. Er freute sich auf sein Zuhause, auf sein Sofa, das kalte Feierabendbier und das Abendessen.

Dann bemerkte er neben der Fahrertür seines Autos die dunkle Gestalt. Wie lange stand sie schon dort?

»Hallo? Kann ich Ihnen helfen?«, fragte Klaus Vollmer ohne jeglichen Argwohn und hob zusätzlich grüßend die Hand mit dem Schlüsselbund.

»Ja, das können Sie tatsächlich«, begrüßte ihn die Person an seinem Auto und hob ebenfalls zum Gruß die Hand. Die Stimme klang hohl, etwas arrogant und passte überhaupt nicht zu diesem Menschen. Sie war beinahe furchteinflößend. Bei diesen Gedanken schüttelte Klaus Vollmer lächelnd den Kopf. Natürlich würde ihm hier nichts passieren. Niemand hatte einen Grund, ihm etwas zu tun. Er sah nicht aus, als hätte er Geld und seine alte Karre war noch weniger wert als seine kaputte Jacke. Trotzdem blieb er erschrocken wie versteinert einige Meter vom Auto entfernt stehen, als er diesen Menschen eiskalt und verbittert lachen hörte.

»Ja, Sie können mir tatsächlich behilflich sein, lieber Herr Vollmer«, wiederholte die Person dieses Mal flüsternd, doch nicht, um die Nachtruhe nicht zu stören, sondern um der eigenen Stimme Dramatik und eine unterschwellige Drohung zu verleihen. Beinahe theatralisch hob die dunkle Gestalt beide Hände gen Himmel und seufzte.

Klaus Vollmer kroch die Angst fröstelnd und unaufhaltsam über seinen Rücken, seinen Nacken und direkt in sein Gehirn. Dieser Mensch, der ihm gegenüberstand, war durch und durch böse. Er konnte die Augen nicht erkennen, denn sie lagen im Schatten eines dunklen Hutes, doch der etwas schief zu einem hämischen Grinsen verzogene Mund flößte ihm Panik ein.

»Was … wie kann ich Ihnen helfen?« Er wählte die Worte mit Bedacht und hoffte, er könne mit Ruhe und Selbstbeherrschung nicht nur seine Furcht bekämpfen, sondern auch die Situation zu seinen Gunsten ändern. »Ich habe absolut nichts, was Sie interessieren könnte«, fügte er hinzu und bereute sogleich seine Aussage, denn sein Gegenüber lachte erneut, dieses Mal beinahe belustigt, doch eiskalt.

»Oh doch, Herr Vollmer. Sie haben etwas, das mir gehört, und ich lasse mir nichts wegnehmen«, sagte die Stimme ruhig und bedächtig. »Niemals würde ich so etwas zulassen. Sie sind mir im Weg, Herr Vollmer. Sie … müssen weg!«

Als Klaus Vollmer sich auf dem Absatz umdrehte und zu rennen begann, wusste er im ersten Moment noch nicht, warum er so reagierte. Sein Verstand versuchte krampfhaft, ihm Gründe für diese merkwürdige Begegnung zu geben, doch ihm fiel absolut nichts ein, das ihm derartige Reaktionen verständlich machen konnte. Seine Flucht war eine absolut instinktive Handlung und auch diese Reaktion vermochte er nicht zu deuten. Bereits wenige Schritte später hallte die hämische Lache seines Angreifers erneut in sein Ohr und würde ihn verfolgen, bis er wieder nahe genug am Gebäude des Baumarktes und damit in Sicherheit und im Licht war. Schall war schneller, als er jemals würde laufen können, doch auch dieser gottverlassenen Stimme versuchte er zu entkommen und rannte jetzt noch schneller. Dann plötzlich dröhnte die Luft um ihn herum donnernd und brüllend und übertönte alles andere. Alle Lichter um ihn herum erloschen schlagartig und er hatte plötzlich das Gefühl zu fliegen, abzuheben und endlich frei von jeder Angst zu sein. Danke, er war gerettet.

Trotz der zwei Personen mehr im Haus verliefen die nächsten Tage ruhig und entspannt. Das lag vor allem daran, dass Susanne ihre Eltern, so oft es nur ging, zu Ausflügen mit den Kindern überredete und die Nachmittage deshalb immer still und friedlich waren. Jessica verbrachte diese freien Momente meist auf dem Sofa vor dem Fernseher. Im Gegensatz zu ihrer Schwester hatte sie für den Besuch ihrer Eltern keinen Urlaub genommen. Sie war noch in der Probezeit und durfte um freie Tage noch nicht bitten, wenn sie ihren Job behalten wollte.

Heute verbrachte die Groth’sche Familie den Nachmittag im Augsburger Zoo. Alle fünf waren, gleich nachdem Svenja aus der Schule kam, losgefahren und würden vermutlich erst gegen Abend wieder in Kempten sein. Jessicas Schicht begann bereits um 19 Uhr und sie glaubte nicht, dass sie ihre Schwester und den Rest heute noch sehen würde. Sie liebte ihre Nichte und ihren Neffen sehr, doch es war ausnahmsweise auch einmal schön, keine kleinen Kinder um sich herumwuseln zu haben. Solche Momente waren selten genug, also genoss Jessica die vermutlich letzten warmen Sonnenstrahlen des Oktobers, warm eingepackt in eine Wolldecke, auf einem Liegestuhl auf der winzigen Terrasse. Ihr Vater hatte am Samstag im Baumarkt nicht nur die Sandkiste für seine Enkelkinder gekauft, sondern seinen beiden Töchtern zum Einzug gleich noch zwei teure Holzliegen spendiert, zwei wunderbare Teile ganz ausgezeichneter Qualität. Wenn Herbert Grothe etwas kaufte, dann musste es gut sein und sehr lange halten. Jedenfalls war Jessica mehr als dankbar für dieses herrliche Geschenk. Wenn es nach ihr ginge, würde sie jede freie Minute im Freien verbringen, egal in welcher Jahreszeit und bei welchem Wetter.

Gerade hatte sie sich eine Tasse heißen Kakao aus der Küche geholt, ihn auf das kleine Tischchen gestellt, das eigentlich neben das Sofa im Wohnzimmer gehörte, und sich wieder auf die Liege gelegt, als es an der Tür läutete. Genervt warf sie die Wolldecke beiseite, erhob sich erneut von der Liege und betrat das Wohnzimmer durch die Terrassentür. Dann ging sie am Esstisch vorbei und schritt durch den kleinen Flur. Vor der mattierten Glasscheibe der Haustür konnte sie zwei dunkle Umrisse erkennen. Vermutlich waren das irgendwelche unangenehmen Vertreter von Staubsaugern oder merkwürdigen Glaubensformen, die ihr gleich mit Dreck auf dem Fußboden oder Blödsinn aus den verdrehten Gehirnen auf die Nerven gehen würden. Solchen Leuten musste man sofort zeigen, dass sie nicht willkommen waren. Also setzte Jessica eine betont ärgerliche Miene auf und öffnete die Tür.

»Da stehen zwei Namen an der Tür, Chef«, stellte der junge Beamte fest, als er die Haustür noch vor seinem Vorgesetzten erreichte und den Klingelknopf betätigte. Er verschränkte die Arme hinter seinem Rücken und baute sich neben dem Briefkasten auf. Hätte er nicht so zappelig und nervös sein Gewicht immer wieder von dem einen auf den anderen Fuß verlagert, dann wäre seine Körperhaltung beinahe majestätisch gewesen. Kommissar Berthold Willig war groß und schlaksig, überragte seinen Kollegen um einen ganzen Kopf und machte seinem Namen alle Ehre. Er war willig bemüht, aber bisher konnte Hauptkommissar Florian Forster noch keine außergewöhnlichen Talente an seinem Untergebenen feststellen. Er schien loyal und ehrlich zu sein, aber auch tollpatschig und scheinbar wenig intelligent. Florian Forster war es ein Rätsel, warum der Junge unbedingt zur Kriminalpolizei wollte, doch er behielt seine Meinung für sich.

»Hauptsache ist, der Name ›Reuter‹ steht auf dem Klingelschild«, sagte er sarkastisch. »Sonst stehen wir vorm falschen Haus!«

»Ja«, bestätigte Berthold Willig und beugte seinen Oberkörper weit hinab, um das Schild neben der Tür noch einmal ganz aus der Nähe zu betrachten, nickte dann und wiederholte seine Aussage. »Ja, Chef. Wir sind richtig. Hier wohnt aber auch noch ein Herr oder eine Frau Grothe.«

»Nicht ›Chef‹, Berthold. Wir hatten uns doch geeinigt, uns zu duzen.« Hauptkommissar Forster setzte ein charmantes Lächeln auf und sah zu seinem Kollegen auf. Auch daran würde er sich gewöhnen müssen. Sein vorheriger Kollege und Partner war mit ihm wenigstens auf Augenhöhe. Dabei war er selbst nicht einmal klein. Mit seinen eins neunundachtzig überragte er einige seiner Kollegen, seinen neuen Partner schätzte er auf zwei Meter zehn.

956,89 ₽
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Возрастное ограничение:
18+
Дата выхода на Литрес:
26 мая 2021
Объем:
380 стр. 1 иллюстрация
ISBN:
9783839249604
Издатель:
Правообладатель:
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