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Der Kampf um die Thronfolge

Das aus Oscar Wildes Gesellschaftskomödie Lady Windermeres Fächer überlieferte Bonmot, es gebe auf dieser Welt nur zwei Tragödien, nämlich wenn Wünsche enttäuscht und wenn sie erfüllt werden, aber Letzteres sei viel schlimmer, beruhte auf Lebenserfahrungen, die auch Clara Schumann und Johannes Brahms machen sollten. Die Pianistin und ihr Mann Robert erleichterten Brahms die Integration in die Familie und den Freundeskreis, so gut es ihnen möglich war. Clara pflegte ihr Leben lang Kontakt zu Mitgliedern der Bankiersfamilien Deichmann und Mendelssohn, den etablierten Kreisen der bürgerlichen Gesellschaft, Verlagen, Orchestern und Musikern. Anfangs vermittelte Robert noch die ersten Verbindungen zum Leipziger Verlag Breitkopf & Härtel. Von dem Zwischenstopp bei Joachim in Hannover aus begab sich Johannes im November 1853 in die Stadt an der Pleiße, um Vorbesprechungen für die Publikation seiner Werke zu führen. »Ich hatte ein langes Gespräch mit Brahms, was mich sehr interessierte und belehrte«, erinnerte sich Clara. »Er meinte, es gäbe viele Talente, die, wenn es ihnen gesagt worden, daß sie Empfindung und Originalität haben, an dem Bewußtsein, daß sie es [sic] haben, scheitern, weil sie dann danach trachten, immer mehr in der Weise wirken zu wollen und die eigentliche ursprüngliche Kraft und Natur (das unbewußte Schaffen) verlieren. Ich fand das sehr wahr, doch glaube ich dies nur anwendbar auf Talente, nicht auf das Genie, denn letzteres geht unbekümmert um alles, seinen Weg, folgt nur seinem Gotte! – Solch ein Genie ist auch gewiß Brahms; ein bewunderungswürdiger Mensch überhaupt!«121 Auch die Leipziger Herausgeber waren beeindruckt und im Dezember 1853 erschienen bereits die ersten Lieder sowie die erste und im Februar 1854 die zweite Klaviersonate im Druck. Die Erwartungen, die er mit seinen Kompositionen als Jugendlicher und junger Mann weckte, wuchsen sich zu einer Belastung aus. Später rühmte sich Brahms’ Hamburger Klavier- und Kompositionslehrer Eduard Marxsen, er habe 1847 bei der Nachricht von Mendelssohns Tode »unter trauten Freunden« bereits »nach innigster Überzeugung« geäußert: »Ein Meister der Kunst ist heimgegangen, ein größerer erblüht in Brahms.«122 Diese in kleinem Kreis verbreitete Erwartung stand am Beginn bedeutsamer Ereignisse. In den Jahren zwischen 1847 und 1854 bahnten sich in den deutschen Herzog-, Fürsten- und Königtümern nicht nur umwälzende politische Entwicklungen an, auch im Musikleben kam es zu einschneidenden Veränderungen. Einst waren deutschsprachige Musiker, trotz vieler Unstimmigkeiten in Einzelheiten, auf einen Konsens aus: Robert Schumann hatte mit Gleichgesinnten »im reinen Sinn und im Interesse der Kunst« 1834 sein Fachmagazin Neue Zeitschrift für Musik herausgebracht, das den eigenen Grundsätzen zufolge ein vielschichtiges Bild des Kulturlebens bieten sollte. Vor allem wollte man Musikern ermöglichen, zusätzlich »durch Wort und Schrift zu wirken« und eigene Ansichten darzulegen, »so weit sich das mit Gerechtigkeit und Unparteilichkeit überhaupt verträgt«.123 Er und Clara Wieck freundeten sich mit Felix Mendelssohn Bartholdy an, den sie im August 1835 persönlich kennenlernten, als er in Leipzig Gewandhauskapellmeister wurde. Man stand sich näher als dem in den 1840er-Jahren erstmals erfolgreichen Richard Wagner. Schumann pries Mendelssohn als »den ersten Musiker der Gegenwart«.124 Der jugendliche Brahms, wie Mendelssohn gebürtiger Hamburger, dürfte die Werke seines Landsmanns gewiss aufgeführt haben. Schon als Jugendlicher bot sich ihm die Gelegenheit: Im Mai 1847 hatte ihn der Männerchor in Winsen aufgrund seines Talents bereits im Alter von 14 Jahren die Leitung anvertraut. Noch viele Jahre später äußerte er in einem Brief, er gäbe alle seine Werke »drum, wenn ich eine Ouvertüre wie die Hebriden von Mendelssohn hätte schreiben können«.125 Dass Brahms noch als reifer Künstler Mendelssohns achtstimmige Motette auf den Luther-Choral »Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen« als Schatz in seiner Autografensammlung hütete und 1864 aufführte, erscheint wie die mahnende Erinnerung an eine der folgenreichsten Katastrophen der deutschen Musikgeschichte: Ende Oktober 1847 war Felix Mendelssohn Bartholdy bei einem Spaziergang mit seiner Frau Cäcilie völlig unerwartet mit einem »Nervenschlag«, wie man es damals nannte, zusammengebrochen. Es deutete sich an, dass die Musikausrichtung, die Clara, Robert und Johannes viel bedeutete, ihren herausragendsten, international hoch angesehenen Komponisten verlieren würde. Das Ende kam rasch: Am 4. November 1847 starb Mendelssohn im Alter von nur 38 Jahren wahrscheinlich an den Folgen einer Subarachnoidalblutung, bei der in der ›spinnenartigen Hirnhaut‹ ein zumeist genetisch bedingtes intrakranielles Aneurysma riss.126 Die Schumanns waren schockiert. Über den Weggefährten äußerten sie sich öffentlich nur in Superlativen, nannten ihn den »besten Musiker«, den »verehrungswürdigsten Künstler«, gar den »eminentesten Menschen«.127 Diejenigen, mit denen Robert Schumann bei der Beerdigung den Sarg Mendelssohns trug – Ignaz Moscheles, Niels Gade, Ferdinand David und Julius Rietz – eiferten Mendelssohn beim Komponieren zwar nach, konnten ihn aber qualitativ nicht ersetzen. Die Schumanns sahen sich auf sich allein gestellt. Insofern kam es ihnen nur zupass, dass auch Brahms Mendelssohns Werke überaus schätzte. Aus der Sicht von Liszt hingegen konnten sich nur Abtrünnige mit so etwas befassen. Einem Zeitzeugen zufolge sprachen Liszt und die Seinen »in geringschätziger Weise« über die von ihnen verachteten »Leipziger Philistern, Pedanten und ›Absolute Musik-Machern‹«, die für sie »zum überwundenen Standpunkt gehörten«.128 Ihnen müsse man eine Kultur entgegensetzen, die Traditionen zerschmettern und Zukunftsikonen erschaffen sollte. Dabei ignorierte er mit seinen Kampfgenossen völlig, dass es durchaus verschiedene Pfade und Schneisen im Dschungel des kulturellen Lebens gibt.

Allmählich beschlich Brahms, die Schumanns und Joachim Unbehagen. Schumann bemerkte einmal, dass mit flinker Feder mitunter rücksichtslos ein ganzes Lebenswerk beiseitegefegt werde. Dies konnten seine Kollegen nur bestätigen. Der Komponist Carl Reinecke stellte beispielsweise später fest, es sei »nicht in Abrede zu stellen, daß Ferdinand Hiller schon jetzt, noch nicht 20 Jahre nach seinem Tode, ziemlich vergessen ist, – der so viele Talente besaß, daß man hätte glauben sollen, der Besitz eines einzigen derselben würde genügen, ihm auf längere Zeit hinaus den Nachruhm zu sichern«.129 Um dem Vergessen entgegenzuwirken, begannen die Kreise um Brahms und Clara Schumann etliche Werke von Komponisten vergangener Generationen noch einmal daraufhin zu untersuchen, ob nicht doch manche Trouvaille für kommende Generationen erhaltenswert sei.

Während die einen glaubten, die ›Tradition‹ einfach ignorieren und sich ein eigenes Publikum erschaffen zu können, sahen Clara, Johannes und die Ihren einen besonderen Wert der Kunst gerade darin, dass sie möglichst viele Menschen ansprechen sollte. Der befreundete, aus Mainz stammende Komponist, Dirigent und Musikpädagoge Bernhard Scholz hatte es geschafft, dass »Chöre von Arbeitern und Arbeiterinnen« in dem von ihm in Frankfurt gegründeten »Volkschor« hingebungsvoll und »mit Begeisterung die Oratorien von Haydn studiert und gesungen haben«. Er fand diese Musik ebenso für jedermann zugänglich wie die von Mozart oder Beethoven. »Mozarts Melodik spricht zum Herzen jedes Kindes, und volksmäßigere Weisen als Beethovens ›Hymne an die Freude‹ oder der ›Lindenbaum‹ von Schubert gibt es nicht. Dieses Zusammenwirken des höchsten Kunstverstandes, der höchsten technischen Ausbildung mit der Einfalt naiven Empfindens sehe ich als den Gipfel der Kunst an.«130 In diese Tradition stellten sich auch Mendelssohn, Schumann und Brahms, der mit seinen Ungarischen Tänzen und der Weise »Guten Abend, gut’ Nacht« einerseits Populäres schuf und zugleich andererseits für viele der damaligen Orchester kaum spielbare Instrumentalmusik ersann. Der Clara und Johannes wohlgesonnene Scholz zeigte sich nicht von allen Entwicklungen überzeugt. »Seit Beethoven machen sich wieder Strömungen geltend, die den Einklang zwischen Kunst und Volksempfinden stören«, meinte er. »Die Späteren, auch Schumann und Brahms, so sehr ich sie schätze und liebe, wenden sich vorwiegend wieder an ein exklusives, vorbereitetes, ›gebildetes‹ Publikum; der Riß zwischen unserer Kunst und dem ›ungebildeten‹ Volk, welches Feinheiten und Absonderlichkeiten nicht würdigt, wird immer größer.«131

Brahms betrachtete sich hingegen als einen eher unverbildeten Musiker und betonte, dass es die unterschiedlichsten Ausrichtungen in der zeitgenössischen Musik gibt. »Weder Schumann, noch Wagner, noch ich haben was Ordentliches gelernt«, denn »keiner hat eine ordentliche Schule durchgemacht«, kommentierte Brahms, der wenig auf eine akademische Ausbildung gab. Dafür habe man mit Fleiß »nachgelernt«. Die verschiedenen individuellen Wege waren unausweichlich: »Da war auch das Talent entscheidend. Schumann ging den einen, Wagner den anderen, ich den dritten Weg.«132

Was man den ›Schulen‹ entgegensetzen konnte, waren gute, überragende und noch bessere Kompositionen. Doch während sich die Reihen der Gegner zusammenschlossen, lichteten sich die eigenen. Der unerwartet frühe und schlagartige Verlust von Mendelssohn war eine einschneidende Zäsur in der deutschen Kulturgeschichte. Man hatte nicht nur einen der bedeutendsten Komponisten und Interpreten verloren; mit ihm riss ein bedeutsamer Strang der musikalischen Entwicklung ab. Dies machte es Liszt, Wagner und ihren Kreisen einfacher, fortan gegen ihn Stellung zu beziehen. Zu Lebzeiten war es Liszt und Mendelssohn noch gelungen, die Fassade der Höflichkeit zu wahren, wobei laut Andreas Moser »der unbeteiligte Beobachter annehmen konnte, sie beruhten auf gegenseitiger Hochachtung und Wertschätzung«. Mendelssohn bestaunte den Tastenzauberer und inspirierten Plauderer Liszt wie eine Zirkusattraktion, während dieser »wenigstens eine Zeit lang äusserlich einen gewissen Respekt vor dem ›specifischen‹ Musikergenie und den Dirigentenfähigkeiten Mendelssohns zur Schau« trug. Eine Künstlerfreundschaft zwischen ihnen war jedoch ebenso wenig denkbar wie zwischen Liszt und den Schumanns, Brahms nebst Joachim. Es handelte sich um »viel zu heterogene Naturen, als dass sie sich zu einander so hätten hingezogen fühlen können«.133 Scharfe Auseinandersetzungen waren vorgezeichnet. Als das Ehepaar Schumann wieder einmal Freunde zu einem Kammermusikabend in sein damaliges Domizil in Dresden geladen hatten, kam es zum Eklat. Dass Liszt mit zwei Stunden Verspätung auftauchte, war im Hinblick auf die anderen beteiligten Künstler schon ärgerlich genug. Die angespannte Atmosphäre konnte er noch durch wohlwollende Worte zu Robert Schumanns Klaviertrio abmildern. Über das sich anschließende Klavierquintett Schumanns rümpfte er aber nur die Nase und meinte, es sei »zu leipzigerisch«.134 »Allein Schumann war nicht der Mann, Sottisen, die ihm oder dem von ihm so hoch verehrten Mendelssohn galten, schweigend einzustecken«, schilderte Andreas Moser die Situation. Als Liszt in »wegwerfendem Ton« über Mendelssohn sprach, fuhr Schumann, »an allen Gliedern vor heftiger Erregung zitternd«, ihn in Gegenwart Richard Wagners und anderer namhafter Künstler an: »Wie können Sie sich erlauben, über einen Künstler wie Mendelssohn, der so hoch über Ihnen steht, in so abfälliger Weise zu reden?!«135

Was die Schumanns erlebt hatten, dürfte reichlich Gesprächsstoff für die Abende mit Brahms geliefert haben. Die Positionierung zu Mendelssohn Bartholdy wurde zum Gradmesser in der Entwicklung der deutschen Musik. Clara hatte schon ab 1841, ein Jahr nach ihrer Eheschließung, Werke von Liszt aus ihrem Repertoire eliminiert. Er wurde ihr nicht nur als Mensch zunehmend unangenehm, denn wo »Liszt hin kommt«, wusste sie, »da ist gleich alle häusliche Ordnung umgestoßen, man wird durch ihn in eine fortwährende Aufregung versetzt«.136 Eigentlich war Clara alles andere als abweisend. »Ihr Umgang mit anderen war freundlich und zuvorkommend, nur gegenüber ihr unsympathischen Personen benahm sie sich reserviert«, meinte eine Beobachterin.137 Während Johannes das Lisztsche Gebaren im Laufe der Jahre eher mit distanziertem Spott beobachtete, echauffierte sich Clara immer wieder von Neuem. »Er spielte, wie immer, mit einer wahrhaft dämonischen Bravour, er beherrscht das Klavier wahrhaft wie ein Teufel (ich kann mich nicht anders ausdrücken)«, notierte sie im Tagebuch, »aber ach, die Kompositionen, das war doch zu schreckliches Zeug!« Clara Schumann besaß ein äußerst differenziertes Urteilsvermögen und erwartete von einem Künstler, dass er reift und mit zunehmender Erfahrung tiefgründigere Werke konzipiert. »Schreibt einer jung solch Zeug, so entschuldigt man es mit seiner Jugend, aber was soll man sagen, wenn ein Mann noch so verblendet ist«, befand sie über Liszt. Durch dessen neueste Konzertstücke war sie »bis ins Innerste indigniert«.138 Ein Musiker, der sein Publikum mit Prometheus-Getöse und Études d’exécution transcen-dante-Geklimper traktiert, war für sie gestorben.

Hingegen lebte der Freund Mendelssohn in dem Namen weiter, den sie für ihr zuletzt geborenes Kind gewählt hatten: Felix. Den neuen Freund Johannes hatte das Paar kennengelernt, kurz nachdem Clara schwanger geworden war: »Klara’s Gewißheit«, notierte Robert am 3. Oktober 1853 in das Haushaltbuch.139 Der Taufpate Johannes Brahms war im Grunde genommen zwei Mal zum musikalischen Hoffnungsträger ausgerufen worden: Von Schumann und im kleinen Kreis zuvor von Marxsen. Trotz der einst großen Worte des Lehrers ist es unwahrscheinlich, dass in den Manuskripten des Jugendlichen Meisterwerke zu finden waren. In späteren Jahren verbrannte Johannes bewusst alle Skizzen und frühe Kompositionen, die er für unreif hielt. Bei vielen namhaften Komponisten lassen sich die Gedankengänge und Arbeitsmethoden anhand der spontan aufs Papier geschleuderten Notizen sowie der oftmals noch unausgereiften Entwürfe nachvollziehen. Aber bei dem Hamburger sind die Spuren der Annäherung an die Endfassung, die Entwicklung seiner Ideen, verwischt. Nachdem Marxsen im November 1887 verstorben war, machte sich Brahms die Mühe, dessen Nachlass zu sichten und alles zu vernichten, was ihn und seinen Lehrer persönlich betraf.

Brahms gewöhnte sich an, mit seinen musikalischen Ideen »spazieren zu gehen«, wie er es ausdrückte. Bis er sich mit Tinte und Feder gewappnet über das Notenpapier beugte, war ein Werk weitgehend konzipiert. »Was er zu Hause aufzeichnete, war bloße Schreibarbeit«, erinnerte sich sein Vertrauter Max Kalbeck.140 An das Licht der Öffentlichkeit sollten nur solche Werke gelangen, die den kritischen Blicken der Schumanns und ihrer Freunde standgehalten hatten und von denen er selbst restlos überzeugt war. In Clara und Robert Schumann glaubte Johannes starke Mitstreiter an seiner Seite zu haben. Aber nur wenige Monate später saß Robert geistig umnachtet in einer privaten psychiatrischen Klinik in Endenich.

Melancholie mit Wahn, schöne Schwermut

Knapp fünf Monate nachdem Brahms ihn kennengelernt hatte, begann Robert Schumanns endgültiger Verfall. Es ist unklar, inwiefern Clara Schumann die Freunde darauf vorbereitet hatte. Keines der zurückliegenden 15 Jahre war vergangen, ohne dass er Schwindelanfälle, Gehörstörungen, heftige Stimmungsschwankungen sowie leichtere und schwere Krankheitszustände erdulden musste. Selbst in den Wochen, in denen Robert Schumann eilends versuchte, Brahms Anerkennung zu verschaffen, quälten ihn immer wieder Beeinträchtigungen des Befindens – und Clara litt mit ihm.

Im Oktober 1853 kam der französische Maler Jean-Joseph Bonaventure Laurens, der alle Beteiligten gezeichnet hat, nach Düsseldorf und sprach sie auf die geweiteten Pupillen ihres Gemahls an. Sie musste zugestehen, dass er schwer krank sei.141 Falls Clara Schumann sich Sorgen um einen bevorstehenden Zusammenbruch gemacht haben sollte, kann sie nur persönlich mit ihren engsten Vertrauten – Brahms, Joachim, Rosalie Leser, Livia Frege – darüber gesprochen haben. Ihnen widmete sie einige ihrer letzten Kompositionen, mit denen sie ihr Œuvre in diesem Jahr so gut wie abschloss: Drei Romanzen für Pianoforte op. 21 (Brahms), Drei Romanzen für Violine und Pianoforte op. 22 (Joachim), Sechs Lieder aus Jucunde von Hermann Rollet op. 23 (Frege) und eine Romanze in a-Moll (Leser). Absprachen, wie im Falle der Katastrophe zu reagieren sei, sind nicht überliefert. Die Maßnahmen zur Unterstützung der schwangeren Clara liefen aber schließlich so reibungslos an, als ob schon Vereinbarungen für Krisenfälle getroffen worden wären.


Bei seinem Besuch in Düsseldorf im September 1853 zeichnete Jean-Joseph Bonaventure Laurens Clara Schumann, Robert Schumann und Johannes Brahms. Die Originale haben eine Größe von nur etwa 10 x 14 cm.

Das instabile körperliche und psychische Befinden Robert Schumanns führte am 27. Februar 1854 zur Eskalation. Nachdem Clara, wie sie berichtete, ihren kranken Mann »schon seit 10 Tagen keinen Augenblick allein gelassen hatte«, musste sie »nur auf wenige Augenblicke das Zimmer verlassen und Mariechen zu ihm sitzen lassen, um mit Dr. Hasenclever etwas im andern Zimmer zu sprechen«. Diesen kurzen Augenblick nutzte Robert: Er trat aus seinem Zimmer und »ging seufzend« ins Schlafgemach. »Marie glaubte, er werde gleich wiederkehren«, erzählte Clara, »doch er kam nicht, sondern lief, nur im Rock, im schrecklichsten Regenwetter, ohne Stiefel, ohne Weste fort. Bertha stürzte plötzlich herein und sagte es mir, daß er fort sei was ich empfand, ist nicht zu beschreiben, nur so viel weiß ich, daß es mir war, als höre das Herz auf zu schlagen. Dietrich, Hasenclever, kurz alle, die nur da waren, liefen fort, ihn zu suchen, fanden ihn aber nicht, bis zwei Fremde ihn nach etwa einer Stunde nach Haus geführt brachten; wo sie ihn gefunden und wie, ich konnte es nicht erfahren.«142

Der Konzertmeister des Düsseldorfer Orchesters, Ruppert Becker, dokumentierte die Geschehnisse in seinen Tagebuchnotizen. Er stand den Schumanns nahe. Sein Vater hatte sich einst in den 1830er-Jahren auf die Seite des befreundeten jungen Liebespaares Clara und Robert gestellt und als Jurist geholfen, Claras Vater Friedrich Wieck gerichtlich zu verpflichten, die Eheschließung zuzulassen. Ruppert Becker selbst sollte später ein Kollege von Clara Schumann am Frankfurter Konservatorium werden – ein Wegbegleiter, der aufzeichnete, was sich Ende Februar 1854 zutrug: »Schumann hatte sich mittags 2 Uhr aus seiner Schlafstube geschlichen (in Filzschuhen) und war direkt nach dem Rheine zugegangen, von wo aus er sich, in der Mitte der Brücke, in den Fluss stürzte! Glücklicherweise war er schon am Eingang der Brücke aufgefallen, und zwar dadurch, dass er, da er kein Geld bei sich hatte, sein Taschentuch als Pfand abgab! Mehrere Fischer, die ihn deshalb mit den Augen verfolgten, nahmen, sogleich nach dem Sprung, einen Kahn und retteten denselben glücklich. Vom Kahn aus soll er noch einmal versucht haben, ins Wasser zu springen, woran ihn die Fischer hinderten. Fürchterlich muss sein Heimweg gewesen sein; transportiert von 8 Männern und einer Masse Volks (es war Carnaval), das sich nach seiner Weise belustigte.«143

Darüber, was an jenem Tag tatsächlich geschah, wurde Clara Schumann bis nach dem Tod ihres Mannes im Unklaren gelassen. Erst spät erfuhr sie, dass er mit dem Sprung von der damaligen Oberkasseler Pontonbrücke einen Selbstmordversuch verübt hatte. »Ich ahnte es damals nur«, erinnerte sie sich.144 »Als man ihn zu Haus ins Bett gebracht, wollte man ihn nicht aufregen durch das Wiedersehen mit mir, und so entschloß ich mich, für diesen Tag zu Frl. Leser mitzugehen, denn im Haus bleiben und ihn nicht sehen, das wäre mir zuviel gewesen!«145

Dass Clara Schumann ihren Mann in dessen letzten beiden Lebensjahren nur noch wenige Male zu Gesicht bekommen sollte, entsprach nicht ihrem eigenen Wunsch, sondern war Teil der Behandlungsmaßnahmen. Johannes Brahms wurde einer der wichtigsten Vermittler zwischen ihr und dem Menschen, der nicht mehr die Persönlichkeit war, in die sie sich verliebt hatte. Brahms erfuhr in Hannover von den Vorkommnissen und traf am 3. März in Düsseldorf ein, wo er sich zunächst am Schadowplatz Nr. 16 einquartierte. Am 4. März 1854 wurde Robert Schumann auf seinen eigenen Wunsch hin in die Nervenheilanstalt in Endenich (heute ein Stadtteil von Bonn) eingeliefert. Die Familie von Johannes nahm lebhaften Anteil an Claras Situation und Roberts Misere. »Ein Mann in seinen besten Jahren soll zeitlebens in Gefangenschaft sitzen«, schrieb Christiane Brahms, Johannes’ Mutter. »Das ist sehr traurig.«146

Man wählte eine Klinik aus, die nach den neuesten Erkenntnissen der Wissenschaft therapierte. Ihr Leiter, der Psychiater Dr. Franz Richarz, der 1834 bereits mit einer Arbeit über das Erkennen von Geistesstörungen und deren Heilung promoviert hatte (De vesaniae cognitione et cura quaedam), trat zehn Jahre später mit seiner Reformschrift Ueber öffentliche Irrenpflege und die Nothwendigkeit ihrer Verbesserung mit besonderer Rücksicht auf die Rheinprovinz hervor. Er stand den Theorien des Engländers John Conolly nahe, die sich im konventionellen Klinikalltag allerdings nicht angemessen umsetzen ließen. Deswegen gründete Richarz 1844 in Endenich seine Privatklinik. Dass er mit seinen Initiativen zunehmend Anerkennung gewann, belegt die Steigerung der Patientenplätze von anfangs 14 auf 60. Auch Clara und Johannes schenkten ihm Vertrauen, denn Brahms berichtete Joachim in einem Brief, er lerne ihn bei den Begegnungen »jedesmal mehr lieben«, sodass er sich »lange und gründliche Gespräche gönnte«.147 Die Grundhaltung des Therapieansatzes schloss jegliches gewalttätige Vorgehen gegen die Patienten aus. Nur in extremen Ausnahmefällen wurde – wie auch einmal bei Schumann – die Zwangsjacke angewendet. Zur Maxime »no restraint« (keine Zwangsmaßnahmen) gehörte auch, dass engste Angehörige keinen Kontakt mit dem in Pflege befindlichen Menschen haben sollten, zumal unberechenbar war, wie er sich gegenüber engen Bezugspersonen verhalten würde. Aus Rücksichtnahme auf die Befindlichkeit des Patienten wollte man ihn im Sinne der Genesung aus dem alltäglichen Umfeld herauslösen. Dementsprechend verhielt sich Clara ganz im Sinne der Behandlung, in die sie große Hoffnungen setzte. »Recht inständig bitte ich Sie«, hieß es in einem ihrer Briefe an den behandelnden Arzt Dr. Peters, »sobald es zulässig, daß ich ihm einmal schreibe, es mich wissen zu lassen, und so bald ein Besuch ohne Nachteil für ihn stattfinden kann.«148

Clara Schumann erhielt von der Klinik regelmäßig Nachrichten über die aktuellen Entwicklungen, zunächst wöchentlich, später alle zwei Wochen. Als Brahms und Joachim endlich Robert Schumann in Endenich aufsuchen durften, konnten sie ihn zunächst nur als wirr vor sich hinfaselnden Kranken beobachten. Auch der Berliner Freundin Mathilde Hartmann wurde gestattet, Robert »hinter einer Gardine« zu betrachten. Ihren Mann wie ein Tier im Käfig zu beobachten war Claras Sache nicht. Verständlich, dass sie in ihrem Tagebuch notierte, sie »ertrüge es ja nicht, ihn so zu sehen«.149 Später durften die Freunde auch mit dem Patienten sprechen. Nach einem halben Jahr wurde Clara im September 1854 gestattet, Briefkontakt mit ihrem Mann aufzunehmen. Sie nutzte diese Möglichkeit unverzüglich, allerdings kam der Schriftverkehr im Mai 1855 zum Erliegen, weil sich der Gesundheitszustand erheblich verschlechterte. Was der Freundeskreis wahrscheinlich nicht erkannte oder sich nicht eingestehen wollte: Roberts fortschreitender Zerfall war unaufhaltbar. Schon lange bevor er verstarb, existierte die Persönlichkeit nicht mehr, die Robert Schumann einmal gewesen war – der Liebende, der Vater, der Künstler, der Intellektuelle. Um nicht selbst vollends zu verzweifeln, tat Clara gut daran, für sich und ihre Kinder Robert so in Erinnerung zu behalten, wie er vor dem völligen Zusammenbruch war. Für Robert Schumann gab es keine Aussicht auf Heilung. »Melancholie mit Wahn«, lautete die Diagnose im Aufnahmebuch der Klinik am 4. März 1854, die dann nach seinem Tod am 29. Juli 1856 mit dem Bleistiftzusatz »Paralyse« versehen wurde.150 Wie die Krankenakten, Arztberichte und Analysen der Obduktion nahelegen, litt Schumann an hirnorganischen Abbauprozessen, die charakteristisch sind für eine syphilitisch bedingte progressive Paralyse.151 Die Fakten belegen, dass weder Clara und Johannes noch die behandelnden Ärzte die Entwicklungen hätten beeinflussen können: Schumann hatte sich wohl schon 1831 wahrscheinlich bei seiner Leipziger Geliebten Christiane Apitzsch infiziert, die er in seinen Tagebüchern »Christel« oder auch »Charitas« nannte. Im Laufe der Jahre plagten ihn immer wieder Kopfschmerzen, Depressionen und Aggressionen, die allerdings seine höchst produktive künstlerische Aktivität noch nicht beeinträchtigten. Aber es gab kaum zusammenhängende Monate, in denen sich das Leiden nicht bemerkbar machte. Ohne Claras teilnahmsvolle Pflege wäre das Aus wahrscheinlich schon früher gekommen. Verhindern konnte sie es letztlich nicht. »Was muß die arme Frau leiden!«, schrieb Brahms an Joachim.152 Johannes besuchte Robert Schumann mehrfach und hielt Clara und enge Freunde wie Joseph Joachim auf dem aktuellen Stand. Claras Mann schwankte zwischen apathischem Vor-sich-Hintranen, homöopathischen Dosen von lichten Augenblicken und konfusem Gebrabbel »mit einer schauerlichen Eile und Angst von dem, was ihm die Stimmen zuflüsterten oder auch die Ärzte, er verwirrte beides«, wie Johannes es formulierte.153 Letztendlich indes »sieht es schlimm, ja trostlos aus«.154 Die Hoffnung der Freunde, wie Johannes schrieb, dass eines Tages »Fr. Sch. ihn pflegen könnte«,155 zerschlug sich bald. Robert Schumann dämmerte zwei Jahre lang dem Tod entgegen.

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