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Schmerzen und Todessehnsucht

Sechs Wochen bevor sie 37 Jahre alt wurde, glaubte Robert Schumanns Witwe, ihre Aufgabe erfüllt und ihr Dasein verwirkt zu haben. Sie versank in schwere Depressionen und hätte sich nie vorstellen können, dass die spannendsten vierzig Jahre ihres Lebens erst noch vor ihr lagen. »Wie oft muß ich an den leeren Platz, der noch in seinem Grabe ist, denken, den ich einstens ausfüllen werde, und doch so gern schon jetzt da läge!«, teilte sie einer Freundin mit.196 Und Joseph Joachim ließ sie wissen, wie ihr »der Schmerz im Innersten wühlt« und es immer wieder Stunden gebe, in denen ihr »aller Lebensmuth schwindet«, denn »meine Nerven sind in hohem Grade angegriffen«.197 »Freilich gebe ich Concerte, aber unter welch inneren Qualen?«, schrieb sie noch zwei Jahre nach Roberts Tod. »Meine Gesundheit geht dabei zu Grunde.«198 Monatelang fand sie, es sei ihr »bei meinem Gemüthszustand ganz unmöglich erheiternd anzuregen«.199 Selbst als sie das Rheinland mit den damit verbundenen Erinnerungen hinter sich lassen wollte und im Herbst 1857 endlich nach Berlin zog, durchlebte sie in Gedanken »die ganzen drei Leidensjahre« wieder von Neuem und begann »erschüttert an Leib und Seele« eine neue Lebensphase.200 »Hätte ich meine Kinder erst Alle erwachsen und versorgt, dann dürfte ich mir doch ohne Unrecht den Tod wünschen«, sinnierte sie.201

Erst Johannes Brahms holte sie wieder in die Wirklichkeit zurück. Er erlebte ihre Verzweiflungszustände unmittelbar und reagierte auf Schreiben, von denen nicht mehr alle überliefert sind. »Ich möchte Dir Interessantes von mir mittheilen können, doch kennst Du ja mein Leben«, schilderte sie in einem erhaltenen Brief ihre Lage, »von außen mag es wohl Manchem ein glückliches erscheinen, innen aber ist’s unsäglich traurig oft.«202 Mit Reiseideen und eindringlichen Briefen versuchte Johannes immer wieder, ihr Mut zu machen. »Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als Dich trösten zu können«, schrieb er und versicherte ihr, dass sie in ihm jemanden gefunden habe, dem sie absolut vertrauen könne: »Könntest Du nur fühlen, mit welcher Liebe ich so oft an Dich denke, Du wärest manchmal doch getröstet. Ich liebe Dich unsäglich, meine Clara, wie es mir nur möglich ist.«203

Wer liebt, sorgt sich um den anderen. Und wenn Clara ihm anvertraute, dass ihr jeglicher Lebensmut abhandengekommen sei, musste Johannes reagieren. Als sie dem gemeinsamen Freund Albert Dietrich einen Lorbeerkranz zukommen ließ und ihn bat, ihn zum zweiten Jahrestag von Roberts Tod auf das Grab in Bonn zu legen, meinte sie in einem Begleitschreiben: »Man sagt immer, die Zeit heile Wunden; ich finde das nicht wahr, denn ich fühle den Verlust täglich schmerzlicher und weiß von einer Lebensfreude nichts mehr.«204

Johannes schockierten ihre depressiven Zusammenbrüche. »Liebe Clara, Du mußt ernstlich danach trachten und dafür sorgen, daß Deine trübe Stimmung nicht alles Maß überschreite und nicht ohne Aufhören sei«, mahnte er sie. »Das Leben ist kostbar; gewaltig zerstört solche Geistesstimmung den Körper. Rede Dir nicht ein, daß Dir das Leben wenig wert sei. Das ist nicht wahr, das ist bei ganz wenigen Menschen wahr. Gibst Du Dich ganz solcher Stimmung hin, so genießest Du auch frohere Zeiten nicht, wie Du könntest.«205

Der Ton, den Johannes anschlug, war jener, den nur engste, liebende Vertraute wagen dürfen. »Nimm dies nicht leicht, es ist sehr ernst«, mahnte er sie bei schweren depressiven Anfällen. »Der Körper und die Seele wird verdorben durch solches Nachhängen einer trüben Stimmung, die man durchaus mehr bewältigen oder nicht aufkommen zu lassen braucht. Es ist, als ob man seinem Leib die ungesundesten Speisen zumuten wollte und sich damit trösten wollte, daß man im Sommer die Milchkur gebraucht. Der Körper mag sich für kurze Zeit etwas erholen, aber ist verdorben und geht rasch zugrunde. Solche ungesunde Seelenspeise, wie der immerwährende Trübsinn, verdirbt den Körper und die Seele wie die ärgste Pest. Du mußt Dich ernstlich ändern, meine liebe Clara.« Der Freund mahnte »gleichmütiger (gleichmäßiger)« zu werden, denn »Leidenschaften« seien nichts Natürliches, sondern »immer Ausnahme«: »Bei wem sie das Maß überschreiten, der muß sich als Kranken betrachten und durch Arznei für sein Leben und das seiner Gesundheit sorgen«. Clara muss Johannes stark vertraut haben. Sie ließ zu, dass er ihre absoluten Tiefpunkte miterlebte. Kaum jemand hätte sich sonst getraut, sie zu mahnen: »Betrachte Dich als Kranke, liebe Clara, als ernstlich Kranke, und sorge für Dich, nicht ängstlich, sondern ruhig und immerwährend.« Wenn Leidenschaften nicht bald vergehen, bestand Johannes’ eigenes Rezept darin, sie zu »vertreiben«, wie er auch ihr riet, denn: »Ruhig in der Freude und ruhig im Schmerz und Kummer ist der schöne, wahrhafte Mensch.«206

Clara dürfte verstanden haben, dass sie in Johannes jemanden gefunden hatte, auf den sie sich in der Not absolut verlassen konnte. In jenen Jahren entstand wahrscheinlich auch die in den Liederzyklus Opus 43 eingegangene Vertonung eines Textes von Josef Wenzig, »Von ewiger Liebe«. Thema ist die Liebe in schweren Zeiten. »Dunkel, wie dunkel in Wald und in Feld! / Abend schon ist es, nun schweiget die Welt. / Nirgend noch Licht und nirgend noch Rauch, / Ja, und die Lerche sie schweiget nun auch«, lautet der bildreiche, düstere Beginn. Doch auch die Finsternis kann man gemeinsam durchstehen, wenn die Liebe nur so stark ist wie die härtesten Metalle, ja, »Eisen und Stahl, sie können zergehn, / Unsere Liebe muß ewig bestehn!«. Für Clara und Johannes bedeutete Liebe anderes als sinnliche Erfüllung. »Wozu«, schrieb Johannes an sie, »hat denn der Mensch das himmlische Geschenk, die Hoffnung, empfangen?«207

Ausweg mit Sinn

Clara Schumann erkor es zu einer ihrer wesentlichen Aufgaben, sich für das Werk ihres verstorbenen Mannes zu engagieren. »Ich finde nur Muth in dem Gedanken, nach seinem Sinne zu leben!«, teilte sie Emilie List mit.208 Und eine andere Freundin ließ sie wissen: »Mein Unglück ist so schwer und groß, aber ich fühle auch mit ganzem Herzen das Glück, das Gott mir in der Kunst, den Kindern und meinen Freunden verliehen.« 209 Johannes fiel dabei eine Sonderrolle zu. »Brahms«, schrieb sie Emilie List, »ist mein liebster treuester Beistand, er hat mich seit dem Beginn von Roberts Krankheit nicht verlassen, Alles mit mir durchlebt und gelitten und steht mir auch jetzt auf einer Reise tröstend zur Seite. Er, seine Schwester und meine beiden ältesten Knaben sind mit mir. Wir wollen auf vier Wochen irgendwohin in die Schweiz, denn mir thut eine Erholung für meine Nerven gar zu Noth.«210

Im Laufe der Jahre zeichnete sich ein neuer Lebensrhythmus ab, der Clara zuträglich war: Im Sommer wollte sie so viel Zeit wie möglich mit ihrer Familie und einen Erholungsurlaub in erfrischender Bergluft verbringen. Die Konzertsaison war Gastspielen vorbehalten, die sie regelmäßig vor allem durch Deutschland, Holland und Großbritannien führten. Da Clara im Laufe der Jahre auch auf die Unterstützung wohlhabender Mäzene vertrauen konnte, ging es ihr insbesondere darum, sowohl mit aussagestarken Interpretationen der Klassiker als auch durch Erstaufführungen der Kompositionen von Robert und Johannes Musik zu verbreiten, die zu erhalten sich lohnt. Ein Hauptziel wurde England, »wo es mir sehr gut ergangen«, und wo sich zudem führende Komponisten für das Werk ihres Mannes begeisterten. »Schätze sind dort ein erstes Mal nicht zu erobern, jedoch sagt man mir allgemein, daß ich der erste Instrumentalist sei, der das erste Mal in England etwas verdient hat – gewöhnlich setzen sie zu. Nun und die Aufnahme war ja so auszeichnend wie möglich.«211

Erfolgsmomente musste sie auskosten. Clara selbst konnte anderen bei Stimmungsschwankungen kaum Unterstützung bieten. Johannes erschien ihr einfach nur launisch, wenn sich sein Niedergedrücktsein in Schroffheiten Bahn brach. »Sie verstand größeres Insichgekehrtsein, Schweigsamkeit, Gereiztheit, nicht aber verstand sie, weil es ihrem eigenen Wesen so fremd war, wenn solche Stimmungen sich in persönlich kränkender Weise äußerten«, meinte Claras Tochter Eugenie. »Sicher ist, daß unsre Mutter und die Freunde schon in der allerersten Zeit in Düsseldorf sie gelegentlich empfanden, auch schimmert sie hie und da in den frühesten Briefen an meine Mutter durch. Aber anderseits zeugen letztere von so viel Herzenswärme und zarter Empfindung, daß man geneigt ist, die oft so verletzende Herbheit seines Wesens als ein Ergebnis äußerer Einwirkungen anzusehen.«212 Brahms’ Persönlichkeit prägte auch den Duktus seiner Kompositionen. Eugenie wies darauf hin, dass Clara natürlich in »den früheren Werken oft Herbheiten« auffielen, was sie allerdings nicht störte, nur wenn »der Mensch in schroffer Art« ihr entgegentrat, dann »kränkte es sie tief«.

»Du weißt nicht, wie er früher war, so zart und liebevoll, ein idealer Mensch«, zitierte Eugenie ihre Mutter. Die jüngste Tochter nahm Brahms oft in Schutz und argumentierte: »Ein Mensch von fünfunddreißig Jahren wird immer ein andrer sein, als er mit fünfundzwanzig war; das Leben ist ein Erhärtungsvorgang, es erhärten sich mit den guten auch die weniger guten Eigenschaften, je nachdem Erfahrungen und Bestrebungen darauf einwirken.«213

Was die Verbindung letzten Endes unerschütterlich machte, war nach Eugenies Einschätzung, dass Clara Johannes »wahrhaftig und innig mit der ganzen Wärme ihres Herzens« liebte. »Man hätte – wie es auch geschehen ist – ihre Gefühle mit der Liebe einer Mutter zu ihrem Sohne vergleichen können, wäre nicht das Element der Verehrung so stark darin zum Ausdruck gekommen«, schrieb sie. »Die Verehrung, die sie für den Künstler empfand, übertrug sie auch auf den Menschen.« Und was Brahms laut Eugenie an ihrer Mutter »über alles liebte, was ihm mehr wert war als ihr künstlerisches Verständnis, das war ihr großes Herz, von dem er wußte, daß es ihn immer lieb haben, ihm immer verzeihen werde, und wenn er auch eine Legion Teufel dagegen losließe«.214 Dies war auch nötig, denn für seine Späße brachte die eher ernsthaft veranlagte Clara nicht immer das nötige Verständnis auf. Der Schweizer Freund Joseph Victor Widmann berichtete, Brahms »hatte eine tief wurzelnde Abneigung, sich irgendwie feierlich zu geben, ja, man darf sogar sagen, eine Art Schamhaftigkeit, sein tieferes Fühlen zu verraten, was dann allerdings gelegentlich – und so auch in diesem Falle – bewirkte, daß er im Suchen nach einem leichten, scherzhaft sein sollenden Ton den rechten Ausdruck verfehlte und mit etwas herausplatzte, das unartig klang, während es keineswegs böse gemeint war«.215 Die Diskrepanz unter den Künstlernaturen veranschaulicht ein Erlebnis während eines Besuchs von Brahms bei Hermann Goetz. Als Brahms auf einem Stehpult frisch beschriebene Notenblätter sah – ein Kammermusikstück, das Goetz gerade beschäftigte –, warf er einen Blick darauf und bemerkte: »Ah! Amüsieren Sie sich auch manchmal mit dergleichen!« Sofort breitete der Angesprochene beide Hände über die Noten und sagte mit jugendlich-feierlichem Ausdruck: »Es ist das Heiligste, was ich habe!« Brahms, so Widmann, wandte sich verärgert ab, sprach von etwas anderem und verabschiedete sich bald.216 Musik, Kunst, Kultur waren für Johannes ein Quell der Freude, kein Altar oder Monument.

Clara dachte ähnlich, drückte es aber anders aus. Selbst als sich ihr die Möglichkeit bot, ihrem verstorbenen Gatten die höchsten Weihen zu verleihen mit Konzerten in der Hauptstadt des Habsburgerreichs, die ausschließlich seinen Werken gewidmet sein sollten, winkte sie ab. »Du glaubst nicht wieviel Robert hier gespielt und gesungen wird«, schrieb sie Johannes von Auftritten in Wien. »Man suchte mich zu bewegen die drei Soireen nur aus seinen Sachen bestehen zu lassen, doch dazu hätte mich Niemand gebracht, ich fände es auch ganz unklug.«217 Clara war so geerdet, dass sie unabhängig von der Kunst große Freude daran hatte, mit der Mutter von Johannes einige Tage in Kiel zu verbringen. »Frau Brahms hatte vor 43 Jahren in Düsternbroock 3 Jahre gelebt und seitdem es nicht wieder gesehen; es gehörte seit langer Zeit zu ihren größten Wünschen noch einmal (sie ist 70 Jahr) dorthin zu kommen und sie nun zu begleiten, das hatte ich seit einem Jahre versprochen«, schrieb sie einer Freundin. »Sie fand ihr altes Haus noch wieder und ihre Freude und Glückseligkeit darüber war wonniglich anzusehen. Es war ein herrlicher Tag, wir machten eine Seefahrt, schöner als ich sie je erlebt. Ich lebte den ganzen Tag nur im Genusse dieser Frau, die ihr ganzes Leben in Entbehrungen zugebracht, und wohl mehr Glück empfand, als wir, die wir so manches doch genossen, uns wohl vorstellen mögen.«218

Gelegentlich schimmerte ihr Humor durch, wenn sie den Freund beispielsweise in einem Brief neckte: »Lieber Johannes, heute komme ich wieder einmal mit einem Anliegen als Quälgeist …«,219 eine Wendung wie »Dein ganz ergebener J. B.« mit »Deiner altergebenen Clara« beantwortete220 oder wenn sie gemeinsam mit Freunden für ihre Gastgeber in England, den Kaufmann Arthur Burnand und seine Familie, im Salon die »Kindersymphonie von Haydn« aufführte, wobei sich insbesondere »Miß Burnand« vor Vergnügen fast »halb tot lachen« wollte, »besonders über die Physiognomien der verschiedenen Betheiligten«.221 Sie amüsierte sich, wenn sie Johannes bei mangelnder Logik ertappen konnte und verstrickte sich dabei in einen Erklärungswirrwarr, der sicher auch Brahms zum Schmunzeln brachte. »Lachen mußte ich aber über Deine Äußerung von ›Unlogischem‹ und ›Unnötigem‹, das ich zuweilen schriebe«, triumphierte sie. »Wie Ihr Männer Euch doch dreht und windet, und lieber selbst aller Logik den Rücken kehrt, ehe Ihr eine Wahrheit erkennen mögt. Was ich Dir schrieb, war nur in Bezug auf mich, mit Joachim und in schöner Natur lebtest Du ja zwei Monate; konnte ich da nicht mindestens einen von den Zweien wünschen und beanspruchen? Daß ich Dich nur einige Tage sah ist Tatsache, die sich nicht hinwegleugnen läßt. Daß Du aber nach so langem Bummeln nach Hamburg gingst fand ich ganz recht, wenngleich sich wieder nicht hinwegleugnen läßt, daß, hättest Du mich gern noch mal gesehen, Du über hier leicht hättest zurückgehen können, wodurch Du mir noch eine Freude bereitet hättest. Ich erwähne dies aber nur von wegen der Logik.«222

Johannes leistete Entscheidendes dabei, Clara zu helfen, einen eigenen Weg zu finden und dem, was sie als »mein einsames Leben« beklagte,223 in eine neue Richtung zu lenken. Zusammen mit ihm und Joachim war sie willens, dafür zu sorgen, dass das Werk und die Überzeugungen ihres Mannes nicht in Vergessenheit geraten. Die Gefahr drohte allemal, denn es gab immer einflussreicher werdende Zirkel, in denen man bereits über Mendelssohn und sein Leipziger Vermächtnis nur noch die Nase rümpfte. Robert Schumann soll es nicht so ergehen, nahm sich Clara vor.

Wie die Ehe mit Robert, war auch die Freundschaft mit Johannes für Clara eine intellektuelle Herausforderung. Eine Pianistin und ein Pianist, beide von Weltrang, beide belesen und offen für Neues, schickten sich an, das Konzertleben und die Musik ihrer Zeit mit neuen Konzepten für den Spielbetrieb und eigenwilligen Kompositionen zu bereichern. Literarisch war Clara durch Robert geschult worden, Johannes entwickelte sich als Autodidakt zum Kenner. Gemeinsam pflegten Clara und Johannes einen intensiven Austausch über Literatur, wozu auch der persönliche Kontakt mit Schriftstellern gehörte bis hin zu einem potenziellen Nobelpreiskandidaten wie Joseph Victor Widmann.224

Obwohl sie über das gesamte Hintergrundmaterial verfügte, machte Clara nie Anstalten, eine Biografie ihres Mannes zu verfassen. Stattdessen verlegte sie sich auf die Herausgabe seiner Werke. Für die praktische Darbietung und Verbreitung seiner Kompositionen verfeinerte sie zunehmend die Dramaturgie ihrer Konzerte. Johannes nutzte seine literarischen Kenntnisse und Ansprüche für seine umfangreichen Vokalkompositionen. Kulturästhetische Traktate verfasste er nie. Ferdinand Hiller umriss treffend die Haltung ihrer Kreise, als er meinte, »bürgerliche Erziehung, friedliche Beschäftigung (wenn man das von der des Musikers behaupten kann), tolerante Gesinnung machen einen zu Duellen, auch nur mit der Federspitze, wenig geeignet«.225 Das kulturelle Vermächtnis von Clara und Johannes wurde in Tausenden von Briefen und Noten überliefert.

Selbstbesinnung und neue Ziele

Zur Neuorientierung von Clara und Johannes gehörte es, gemeinsam getrennte Wege zu gehen. Nie riss der Kontakt ab, kaum ein Jahr verging, in dem man sich nicht mindestens einmal traf. Doch um sich in der eigenen Kunstausübung vollends entfalten zu können, benötigten beide Bewegungsfreiheit und Abstand. Gelegentliche gemeinsame Reisen und zahlreiche Treffen ermöglichten den unmittelbaren Austausch. Sie schrieben sich stapelweise Briefe, gaben Ratschläge, tauschten sich über Stimmungsbilder sowie Pläne aus, vermittelten dem jeweils anderen Anregungen und hielten sich stets auf dem aktuellen Stand.

Clara musste sich aber eingestehen: Sie war keine Komponistin. Es drängte sie nicht zum Komponieren. Sie hätte während ihrer ausgedehnten Tourneen Skizzen und Ideen für Kammermusik und Orchesterwerke entwickeln können, denn zumindest während der Sommermonate blieb genug Zeit, neue Liederzyklen, Sonaten und Klavierkonzerte für eigene Auftritte auszuarbeiten. Andere Künstler haben es auch so gehalten: Der gemeinsame Freund Julius Otto Grimm hinterließ zwar nur ein schmales Œuvre, weil er als Dirigent und Lektor in Münster beruflich stark eingespannt war, aber er komponierte sein Leben lang. Dies galt zudem für ihre ehemalige Schülerin und Brahms’ Jugendfreundin Louise Japha, die als Pianistin den Ruf einer geist- und temperamentvollen Schumann-Interpretin genoss. Gerade so wie der Dirigent Hermann Levi, der nach der Begegnung mit Brahms erkannte, dass er als reproduzierender Künstler unendlich mehr zu leisten vermochte denn als produzierender, sah auch Clara deutlich, dass sie vor allem ihrem »innigstengeliebten Robert« zum Gefallen komponiert hatte, dem sie Werke »in tiefster Bescheidenheit« widmete.226 Aber sie verspürte keine innere Notwendigkeit dazu, sondern sah, dass sie sich als Interpretin inmitten ihrer »größten und erfolgreichsten Thätigkeit« befand.227 Zwar hätte sie auch allein vom Unterrichten zu Höchstpreisen leben und es sich dank der finanziellen Unterstützung wohlhabender Freunde sogar leisten können, vorübergehend auf manche anstrengende Konzertreise zu verzichten. Sie betrachtete es aufgrund ihrer Begabung aber geradezu als Verpflichtung, die für sie besonders kostbare Musik auch international zu fördern. In ihrer Jugend hatte sie genügend amateurhafte Darbietungen erdulden müssen – jetzt war Claras Zeit gekommen, sich mit versierten Profis an die gewaltige Aufgabe zu wagen, denn sie wusste: Ein Verstand braucht große Musik wie das Schwert den Schleifstein. »Das Liebhaberthum, die ›organisirte Dilettantenschaft‹, war die herrschende Macht in dem vormärzlichen Concertwesen; sie ging als solche zu Grunde an ihrem Unvermögen, den gesteigerten künstlerischen Anforderungen zu genügen«, beschrieb Eduard Hanslick die Entwicklung, die sich in allen deutschsprachigen Regionen ähnlich abspielte. »Im Gegensatz zu der früheren ›Association der Dilettanten‹ ist die ›Association der Künstler‹ das charakteristische Moment in den großen Concertinstituten des nachmärzlichen Wien. Unsere stabilen Concertinstitute, die ›Philharmonie‹ und die ›Gesellschaft der Musikfreunde‹, sind in strengem Sinne Künstler-Concerte, Association der Fachmusiker. Die Thronentsagung des Dilettantismus war eine kunsthistorische Nothwendigkeit – und sie vollzog sich fast kampflos.«228

Einst hatte noch Franz Schubert seine frühen Sinfonien mit Liebhaberorchestern uraufführen müssen; mittlerweile setzten in dem sich zunehmend ausweitenden professionellen Konzertwesen Clara und Johannes mit Soloabenden am Klavier, Kammerkonzerten und ihren Beiträgen in Sinfoniekonzerten Maßstäbe: Wenn Johannes Brahms oder Clara Schumann am Klavier saßen, wollten sich fast alle Orchester von ihrer besten Seite zeigen. Die Erwartungen des Publikums, die Reisen, Proben und Auftritte zehrten an den Kräften. Sobald die Pflicht erfüllt war, verlangte es Johannes danach, sich anschließend wieder in die Bücherburg seiner eigenen vier Wände zurückzuziehen; hingegen betrachtete Clara Tourneeauftritte als Kür, genoss im Sommer gerne die Natur, sehnte sich aber im Anschluss an eine mehrmonatige Regenerationsphase immer wieder nach Bühnenauftritten. Nicht zuletzt waren die Bedenken aus jungen Jahren, »als Künstlerin vergessen« zu werden, eine der Triebfedern in ihrer langen Laufbahn.229 Der Kulturphilosoph Wladimir Stassow schrieb einem Freund während ihrer Russlandtournee im Frühjahr 1864, Frau Schumann »erklärte selbst, daß sie den Abend über spielen will (daß sie ohne das keinen Tag überleben kann)«.230

Komponierend wollte sie indes nicht zu ihrem Nachruhm beitragen. »Du weißt, das Partiturlesen wird mir nicht leicht, dazu brauche ich Zeit«, schrieb sie Johannes Ende 1858 in einem Brief231 und gestand noch über dreißig Jahre später ohne Bedauern ein, dass sie allein bei einem Stück wie einem Streichquintett von Brahms »zu wenig Übung im Lesen solcher Werke habe, um mir einen klaren Begriff von ihrer Wirkung machen zu können«.232 Dementsprechend wären ihr komplexe Instrumental- und Orchesterkompositionen schwergefallen. Als Johannes ihr anlässlich seines eigenen Geburtstags das h-Moll-Intermezzo aus den Vier Stücken für Klavier op. 119, Nr. 1 schenkte, gestand sie ein: »Es ist recht verkehrte Welt, anstatt daß ich Dich zu Deinem Geburtstag, wie so gern, beschenkt hätte, beschenkst Du mich! Aber so hätte ich es ja nicht gekonnt.«233 Zwanzig Jahre bevor sie Johannes kennenlernte, hatte sie zwar als 14-jährige Clara Wieck Ideen für ein Klavierkonzert zu Papier gebracht. Ohne ihren jungen Klavierlehrer Robert Schumann wäre es der Jugendlichen aber kaum gelungen, den Skizzenwust zu ordnen und zu orchestrieren: Zuerst den längsten Satz, das Finale; dann den mit »Romanze« überschriebenen »Andante non troppo con grazia«-Mittelsatz und schließlich den Kopfsatz im »Allegro maestoso«. Gute Beziehungen und ihr Ruhm als mädchenhafte Meisterin am Pianoforte ermöglichten 1835 die Uraufführung mit dem Leipziger Gewandhausorchester unter Mendelssohns Leitung. Gedruckt wurde das Stück zu ihren Lebzeiten nicht. Die Instrumentierung war einfach zu dürftig, die melodischen Einfälle zu blass und die Gesamtanlage wirkte eher wie mit Orchesterbegleitung aufgeplusterte Kammermusik – nicht zuletzt ist der langsame Satz vornehmlich ein Duo für Klavier- und Cello-Solo. Die Klavierkonzerte von Ignaz Moscheles, Bernhard Scholz, Ferdinand Hiller und Luise Adolpha Le Beau sowie die Kammermusik von Fanny Hensel sind hörenswerter und selbst ein guter Freund wie Joseph Joachim brachte für sein Hauptinstrument mehr Konzerte mit Orchester zustande. Wenn Liszt seinen Verstand nicht gerade daran vergeudete, virtuose Opernparaphrasen zu zaubern, schrieb er gehaltvollere Klaviermusik und Brahms war auf dem Weg, der bedeutendste deutschsprachige Kammermusik- und Liedkomponist in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu werden. Selbst unter den komponierenden Frauen besaß Clara nicht die überbordende Fantasie ihrer deutschen Zeitgenossin Emilie Mayer, die acht Sinfonien schrieb, der Französin Louise Farrenc, der Engländerin Alice Mary Smith oder ihrer Freundin Pauline Viardot-García. An deren privat in Baden-Baden gespielten Opern auf Texte von Turgenjew bewunderte Clara »mit welchem Geschick, feinsinnig, anmuthig, abgerundet das Alles gemacht ist, dabei oft amüsantester Humor«.234 Umgeben von wahren Kompositionstalenten musste sie einfach die Segel streichen. Dabei fand Musik von Frauen durchaus Aufmerksamkeit im 19. Jahrhundert. Gelegentlich wurde Clara bei ihren Konzerten ermuntert, auch Werke aus der eigenen Feder zum Besten zu geben. »Mein 2. Concert ist am 8.«, schrieb sie aus Wien an Joachim. »Mein Trio!!! Was sagen Sie zu dieser Courage? Es geschieht zum ersten Male, daß ich’s öffentlich spiele, und wahrhaftig nur auf dringendes Zureden von vielen Seiten.«235 Dort und auch etliche Jahre später in London freute sie sich, dass das Publikum das Stück »höchst freundlich aufnahm«, und sie das Scherzo sogar wiederholen musste.236

Clara Schumanns stärkste kompositorische Arbeiten bilden einige Stücke für Soloklavier und Lieder, die sie vor allem für oder mit Robert schrieb. Ohne ihn gab sie das Komponieren auf. Selbst als sie ein Vierteljahrhundert später noch einmal darauf zurückkam, geschah dies nur anlässlich einer goldenen Hochzeit, denn laut Tagebuch war »guter Rath teuer, was ich ihnen schenken sollte«. Die rettende Idee kam nicht von ihr selbst, sondern von einer Tochter: »Da fiel Marien ein, ich könnte ihnen einen Marsch componiren und darin ›Großvater und Großmutter‹ Duett von Robert, anbringen. [sic] Ich gab mich daran und nach ein paar Tagen gelang es.«237

Einige der Hauptgründe, warum aus jener Zeit eher Schriftstellerinnen im Vordergrund stehen, sind zum einen, dass das Komponieren handwerkliche Fachkenntnisse erfordert, und zum anderen die literarische Publikationsmöglichkeit unter – gelegentlich auch männlichem – Pseudonym. Da zum Komponieren im 19. Jahrhundert immer auch das Interpretieren gehörte – dirigierend, singend oder ein Instrument spielend –, standen musizierende Künstler viel mehr im Rampenlicht als schreibende. Im 18. und 19. Jahrhundert gehörte es für Frauen zwar zum guten Ton, ein Instrument zu spielen, aber aus der Musik letztendlich als Komponistin einen Beruf zu machen, wäre unter ihrer Würde gewesen. Komponisten galten seinerzeit als Bedienstete. Dementsprechend trug beispielsweise Haydn im Rang eines Hausoffiziers am Hofe der Esterházys noch eine Livree. Wer mit dem zunehmenden Einfluss eines bürgerlichen Kulturlebens glaubte, als unabhängiger und freier Künstler sein Auskommen zu finden, jagte einer Fata Morgana nach. »Künstler und gar Componisten sind nun einmal in Deutschland nie so gestellt, daß sie solche Aufführung aus eignen Mitteln bestreiten könnten!«, erkannte Clara.238 Ihr Enkel Ferdinand überlieferte Überlegungen, die sie noch im fortgeschrittenen Alter anstellte: »Über das Componieren stellte Großmutter heute so ihre Betrachtungen an. Das Componieren sei nie einträglich gewesen. Der Großvater hätte nie ein Jahr gehabt, in dem er so viel durch seine Compositionen verdiente, seine Familie anständig zu erhalten. Erst Brahms und Simrock hätten die Honorare in die Höhe getrieben.«239

Fast alle, die antraten, um vom Komponieren leben zu können, mussten als Presserezensenten, Chorleiter, Dirigenten, Dozenten oder Musiklehrer für den Lebensunterhalt sorgen. Zudem erforderte eine Musikerlaufbahn eine sorgfältige Ausbildung und fachliches Können, war komplexer als Malen oder Texte entwerfen und brachte weniger unmittelbare Anerkennung als die Schauspielerei. Keine Frau war so gedankenlos, im 19. Jahrhundert hauptberuflich Komponistin werden zu wollen, schließlich war die Luft zu dünn in den Gipfelregionen dieser Zunft, in denen man ausschließlich davon leben konnte.

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9783955102678
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