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Читать книгу: «Täubchen alla Boscaiola», страница 3

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5. Kapitel

Castellina al Monte Largo ist eine kleine Stadt in den Bergen im Westen Siziliens, fast ein Dorf, aber eine kleine Welt in der Welt. - Ausgestreckt auf sieben Hügeln, - nur ein wenig kleiner als Rom, - gewundene, krumme Straßen und Gassen, kleine, graue oder ehemals ocker gestrichene Häuser, viele leer oder verfallen, und die meisten verloren in einer ewigen Verlassenheit. Und an den Abenden im September erhebt sich langsam hinter den Hügeln ein roter und riesenhafter Mond, der wie eine Botschaft aus einem anderen Jahrhundert ausschaut.

Was für verwirrende Gegensätze birgt dieser Ort! An manchen Häusern hängen festgefügte hölzerne Balkone, hinter deren Jalousien man blasse, schwarzäugige Frauen reinsten Blutes hervorlugen meint - oder ihre finster blickenden, stolzen Brüder; doch die Zeit und der Staub haben alles in einen ewigen Schlaf versenkt. Statt der Mönche aller möglicher Orden laufen Ziegen herum mit ihren immer fragenden Gesichtern. In den kleineren Gassen sitzen ein paar schwarzgekleidete Frauen einsam auf ihren Stühlen vor ärmlichen Häusern und enthülsten Bohnen. Wenn ein Fremder an ihnen vorbeigeht, heben sie kaum die Augen und wagen den fremden Mann nur verstohlen zu mustern.

Heute war Castellina so totenstill, als ob überhaupt keine Menschen hier lebten. Die einzigen Wesen, die sich an diesem Septemberabend zu regen schienen, waren Fliegen. Fliegen summten an den Fenstern der 'Apotheke Meirelas', wo dunkle, mit Medizinen gefüllte Flaschen eingezwängt zwischen Hautwässern, Schwämmen und Pflastern standen. Auch an der Schaufensterscheibe, hinter der Sonnenbrillen, Kinder-Spaten, rosa Puppen und Tennisschuhen, nebst anderen hier schwer verständlichen Waren lagen, tanzten die Fliegen.

Sie krabbelten hinter einem Eisengitter über den leeren, blutbespritzten Hauklotz der 'Fleischerei von Signor Conardo - Verkauf von Fleisch und Honig'. Und der sandfarbene Hund, der mitten vor der Fleischerei auf der Straße lag, den Kopf zwischen den Pfoten, schnappte mit geschlossenen Augen nach den Fliegen, die ihn belästigten.

Aus einem kaum erleuchteten Gewölbe neben dem Laden lief Blut auf die Straße und der Fleischer, Signor Conardo kam gerade heraus und trug mit steifen Beinen und durchgedrückten Knien ein ausgenommenes Schwein auf dem Rücken in seinen Laden.

Ihm war eine grimmige Freude über das geschlachtete Tier ins Gesicht geschrieben, - seinem Lächeln nach zu urteilen, hatte er es sogar eigenhändig geschlachtet, - und so war es auch. Das Schwein war gerade erst getötet worden; seine Augen waren noch klar, doch sie sahen ins Leere, mit dem vorwurfsvollen Blick der gequälten Kreatur.

Aus der Wohnung über dem verstaubten 'Kolonialwaren-Laden' neben der Fleischerei drang jetzt das Kreischen eines Radios, das plötzlich abgedreht wurde, dann unvermutet ein unterdrückter Schrei, der eine Frau auf der Gasse übermäßig zusammenfahren ließ, danach das schwere Seufzen eines Menschen, der ungestört schlafen möchte.

Diese Frau, die in diesem Moment an dem Fleischergeschäft vorüber ging, war Luisa, die junge Frau Signor Botellos. Sie schüttelte sich unwillkürlich, als sie das tote Schwein auf dem Rücken des Fleischers sah. Sie selbst schleppte zwei Einkaufsnetze, die viel zu schwer schienen für ihre schmale Gestalt. Den Kopf hatte sie mit einem schwarzen Tuch verhüllt. Doch trotz der schweren Last, die sie tragen mußte, hatte ihr Gang eine eigentümliche Grazie und Würde.

Luisa wagte es einige Schritte lang nicht, fest aufzutreten, immer noch beladen vom Anblick des gerade eben geschlachteten Tieres. Als sie längst an der Fleischerei vorüber war, am Ende der Gasse, kam es ihr vor, als fühlte sie es immer noch im Rücken, den leeren Blick der toten Augen, wie eine wahnsinnige Erscheinung, und dann war es nur noch ein kleiner Seufzer, den sie auszustoßen wagte: „Muß das eigentlich sein, daß in diesem elenden Dorf fast auf der Straße geschlachtet wird?“

Inzwischen war sie zu einem kleinen ausgetrockneten Bach abgebogen, schritt über eine kleine Brücke und befand sich in einer kleinen Gasse, an deren Ende sich ein kleiner Platz vor ihr öffnete, Einige schöne alte Häuser mit hölzernen geschnitzten Balkonen in maurischer Art umgaben den Platz.

Ein junger, recht hübscher Mann, der ihr quer über den Platz entgegen kam, blieb stehen, als er sie bemerkte und sprach sie an: „Guten Tag, Signora Luisa! Darf ich Ihnen die Taschen bis zu Ihrem Hause tragen?“, und er wollte ihr gleich eine der Einkaufstaschen abnehmen. Luisa wunderte sich über die ungewohnte Hilfsbereitschaft des Jungen. „Laß, Angelo!“, sagte sie leise, und faßte ihre Taschen fester.

Und als er sie noch einmal bittend und hilfsbereit ansah, fügte sie hinzu: „Das ist sehr liebenswürdig von dir! Aber ich bin es gewöhnt, zu tragen! Und ich habe es nicht weit!“, damit huschte sie an ihm vorbei.

Ihre Stimme war sanft und schmerzlich, dabei warm und weiblich zart, so wenig passend zu dieser gedrückt wirkenden Gestalt. Sie blieb jetzt im Schatten des Gäßchens stehen, richtete etwas an ihrer Kleidung, und bog in eine kleine Neben-Gasse ein. Im Nu war sie verschwunden.

Angelo Toccabelli, der junge Mann, der Signora Luisa hatte helfen wollen, ging mit schnellen Schritten die Gasse entlang, die aus dem Ort hinaus führte, betrat die kleine Brücke, die sich über dem Bachbett wölbte, und befand sich nun auf einem Trampelpfad, der in einem Bogen zwischen einem großen Garten und einem Eichenwäldchen entlanglief. Dieser Pfad ging dann mitten durch das Eichenwäldchen hindurch, an dessen Ende sich überraschend ein großer, lang ausgedehnter Platz öffnete, der ehemalige Schießplatz; dort war es, wo Angelo hinstrebte.

Am westlichen Ende dieser Lichtung, in Richtung einiger niedriger Berge und des dahinter liegenden Meeres, stand die Ruine eines kleinen eingeschossigen Baus aus der faschistischen Zeit, das ehemalige Clubhaus, am anderen, östlichen Ende, in Richtung des Dorfes, fiel das Gelände steil ab, und man konnte in der Ferne den Kirchturm von Castellina erblicken, sowie die Spitzen der Dächer einiger größerer Häuser.

Eine kleine Herde von Schweinen, die auf dem wild bewachsenen Gelände grasten, flüchteten laut grunzend bei Angelos Annäherung. Aber nicht nur die Schweine zogen sich zurück, sondern auch eine Frau, die von der Erz-Grube kam und den Weg zurück zum Ort gehen wollte, versteckte sich sicherheitshalber - und auch aus Neugier - vor Angelo im Schatten des Eichenwäldchens.

Angelo stellte sich unter eine große Eiche, am östlichen Ende des Platzes, blickte einen Moment prüfend in den Himmel, ob das Wetter halten würde, und schickte sich ins Warten.

Direkt neben dem Weg, nicht weit von ihm entfernt, standen die Reste eines offenen Schuppens, des Palottolaio; darin verrostete eine große alte Maschine, zerbrochene Tonscheiben lagen herum, die sogenannten Tontauben, und die Maschine war die Apparatur gewesen, mit der sie in die Luft geschleudert wurden, - als Übungs-Ziel für die Schützen.

Angelo mußte nicht lange warten, denn kurz darauf näherte sich auf dem schmalen Weg durch das Eichenwäldchen ein Mädchen, das vom Ort her kam. Das Mädchen war hochgewachsen und recht kräftig, und ihr junges, etwas rundliches Gesicht strahlte Kraft und Sicherheit aus. Es war Agustina, die Tochter Luisas und Signor Botellos.

„Warum kommst du erst jetzt?“, fragte Angelo. Als sie beide so dicht beieinander standen, konnte man sehen, daß Agustina fast größer war, als Angelo, und schon geformt wie eine Frau. Angelo wollte sie in den Arm nehmen, doch sie entwandt sich ihm, trat einen Schritt zurück und sagte:

„Laß mich! Man könnte uns sehen!“

„Hier ist niemand!“, entgegnete Angelo unwillig und versuchte noch einmal, sie an sich zu ziehen, „Du kannst mir wenigstens einen Kuß geben!“ rief er. Doch Agustina wich ihm geschickt aus,

„Laß mich los!“, sagte sie energisch, „Ich will nicht!“ Widerwillig ließ der junge Mann von ihr ab.

„Warum mußten wir uns ausgerechnet am Schießplatz treffen?“, fragte Agustina jetzt.

„Mir gefällt es hier!“, sagte Angelo, „Es ist nicht so lange her, daß wir hier schießen geübt haben. - Jeder weiß, daß ich einer der besten Schützen in Castellina bin.“

„Nicht so gut wie dein Bruder Giovanni!“, seufzte sie leise. Angelo zuckte zusammen,

„Giovanni ist tot!“, murmelte er mit schiefem Gesicht. Das Mädchen blickte ihn nur schweigend und nachdenklich an.

„Darf man wissen,“, sagte er nach einer Weile, „warum du mich so anschaust?“

„Ich schaue dich an wie immer!“, antwortete sie, ein wenig ärgerlich.

„Sei auf der Hut, du! Ich verstehe heute keinen Spaß!“

„Ciao!“, erwiderte sie schroff und wandte sich zum Gehen.

„Du bleibst hier!“, rief er und packte sie grob an der Schulter. Sie fuhr herum und blickte ihn so böse an, daß er sie freigab. Er ließ seine Arme sinken und schaute das Mädchen an, das steif und wie erstarrt vor ihm stand. Und durch ihren Körper und ihr Gesicht hindurch sah er einen Fallschirm langsam vom Himmel herabsegeln. An dem Fallschirm hing sein Bruder Giovanni.

„Hab ich dir weg getan?“, fragte er unsicher.

„Nein, du hast mir nicht wehgetan.“ Eine Weile standen sie schweigend voreinander, während der Himmel sich verfärbte und rosa und gelbliche Wolkenbänder am Horizont entlang zogen. Der Fallschirm war wieder fort.

„Und was jetzt?“, sagte er endlich. Angelo war es gewohnt, daß die Mädchen sich aufrichteten, wenn er an ihnen vorbei ging, und ihn so lange anschauten, bis ihnen die Augen weh taten. Doch Agustina war so stolz wie eine Prinzessin!

„Und?“, wiederholte das Mädchen leise, „Kann ich jetzt gehen?“

„Nein! - So leicht wirst du mich nicht los, meine Schöne!“

„Es ist gut,“, sagte das Mädchen und blieb. Und Angelo schien es, als ob sie lächelte.

Er betrachtete sie erwartungsvoll, und als sie immer noch nichts sagte, fragte er:

„Und? - Was meint dein Vater?“

„Ich bin gekommen, um dir zu sagen, daß es nicht meine Schuld ist. Vater sagt, ich muß warten! - Soll ich jetzt gehen?“

„Ich mag nicht länger warten!“ rief der Junge, „Wir sind alt genug. Wenn dein Bruder heiraten kann, warum nicht du?“

„Ich bin viel jünger als er!“, sagte Agustina.

„Was hat dein Vater gegen mich?“

„Nichts!“, sagte das Mädchen ruhig, „Er sagt, du bist zu jung! Er sagt, es geht nicht, daß eine Frau einen Minderjährigen heiratet. Er sagt, wenn du wenigstens schon beim Militär gewesen wärest . . . “ Angelo ballte seine Fäuste,

„Mein liebes Mädchen, glaubst du, ich bin ein Dummkopf? Wenn ich das Militär hinter mir habe, bin ich einundzwanzig. Und dann fängt die Geschichte von vorne an.“

„Nein!“, antwortete das Mädchen, „Er sagt, achtzehn oder einundzwanzig bei einem Mann ist ein großer Unterschied. Außerdem sagt er: Du bist noch nicht fertig mit deiner Ausbildung. Und er sagt, vorher kommt Heiraten nicht infrage. - Warum bist du überhaupt in Castellina? Habt ihr denn jetzt Ferien?“

„Ich mußte dich sehen! Ich habe es nicht mehr ausgehalten!“

„Und da fährst du mitten im Semester nachhause?“, das Mädchen schüttelte verwundert den Kopf.

„Warum nicht?“, entgegnete der Junge trotzig, „Es ist so langweilig in Palermo.“

„Wie lange mußt du denn noch auf diese Fachschule gehen?“

„Ach, diese Schule! - Weißt du, ich bin nicht einmal sicher, ob ich das überhaupt weiter mache.“

„Und was dann?“, fragte das Mädchen verwundert, „Was willst du anfangen? Wovon willst du später leben? - Wovon sollten wir beide denn einmal leben?“

Statt einer Antwort zog Angelo ein Messer aus der Tasche und ließ es aufspringen, hielt die Klinge spielerisch hoch in die Sonne, sodaß die reflektierten Lichtstrahlen das Gesicht des Mädchens trafen.

„Mal sehen! Vielleicht - Geschäfte!“, sagte er und zog dabei die Mundwinkel hinunter. Als er diese 'Geschäfte' erwähnte, bekam sein Gesicht etwas Überhebliches, etwas was Agustina an ihm nicht kannte. Sie blickte ihn unangenehm überrascht an.

„Geschäfte?“, wiederholte sie mißtrauisch, „Was für Geschäfte?“ Angelo war ihr immer als ein unreifer, vielleicht ein wenig eitler, doch im Grunde gutherziger Junge vorgekommen, dazu aber paßten diese Worte und paßte dieses arrogante Gesicht nicht. Etwas in seinen Augen mißfiel ihr, doch sie wußte nicht, was es sein könnte. Sein glattes Gesicht, seine regelmäßig und anziehend geformten Züge, die schon begannen, männlich zu wirken, waren wie immer - und doch war etwas verändert!

Als könnte Angelo ihre Gedanken erraten, - oder vieleicht las er auch in ihrer Miene, was ihr durch den Kopf ging, - fragte er:

„Du bist so merkwürdig heute. So - abweisend, so - von oben herab!“

„Ich bin wie immer!“, sagte sie achselzuckend.

„Du treibst deinen Scherz mit mir, nicht wahr?“, rief er, „Was bist du auf einmal so hochnäsig?“ und er schimpfte weiter und begann sogar zu fluchen. Das Mädchen hauchte nicht einmal.

Heute, wo sie voller Abwehr war, kam ihm Agustina noch begehrenswerter vor, und da sie jetzt wieder auf eine undurchschaubare Art lächelte, beschlich ihn ein Verdacht. Die Eifersucht packte ihn mit ihren scharfen Krallen, ihm schoß das Blut ins Gesicht, ihm wurde heiß und kalt, er hielt das Messer in ihre Richtung - und halb ängstlich, halb aufgebracht stieß er hervor:

„Hast du einen anderen? Ich bring ihn um! Dir zerschlitze ich das Gesicht und ihn bringe ich um! Und deinen Vater auch!“ Agustina lächelte nur herablassend und schob mit einer Gebärde des Ekels das Messer von sich weg,

„Was soll das heißen?“, rief sie, „Willst du mir drohen? Oder Vater? - Wie kindisch!!“ Der junge Mann trat dicht vor sie hin,

„Kindisch?“ wiederholte er zähneknischend, „Sag das nicht noch mal!“ Unwillkürlich machte das Mädchen einen Schritt zurück und sah ihn entgeistert an,

„Hast du den Verstand verloren? - Wo hast du überhaupt das Messer her?“

„Das geht dich nichts an!“, sagte er mit einem eiskalten Blick. Unwillkürlich fuhr sie zusammen und ein Schauer lief ihr über den Rücken; sie fühlte sich auf einmal von ihm abgestoßen.

Auf jeden Fall wollte sie jetzt weg von ihm, sie wollte allein sein, damit sie darüber nachdenken konnte; und so setzte sie ein möglichst unbefangenes Lächeln auf, sah sich nervös um, blickte zum Himmel, dann in Richtung des Dorfes, als würde sie fürchten, daß von dort jemand käme.

„Es ist Zeit! Ich muß nachhause! Sie vermissen mich bestimmt schon.“

„Morgen sehen wir uns wieder!“, entgegnete er bestimmt.

„Morgen kann ich nicht! - Mein Vater . . . “

„Dann übermorgen.“ unterbrach Angelo sie, „Zur gleichen Zeit! Aber laß mich nicht wieder so lange warten!“ Agustina nickte, dann fragte sie:

„Wie lange bleibst du in Castellina?“

„Auf jeden Fall bis zu Gioacchinos Hochzeit!“

Angelo wollte sie umarmen, doch sie wich zurück, schaute ihn aber freundlich an, sodaß er ermutigt wurde, weiter zu drängen:

„Hab dich nicht so! Einen Kuß, zum Abschied!“ Endlich gab sie ihm einen flüchtigen Kuß, drehte sich schnell um, und ging.

„Sag einmal!“, rief er ihr nach. Sie blieb stehen und drehte sich um, „Wer ist eigentlich dieser Kerl, der da ständig an der Bleigrube herumstreicht?“

„Ja, ich habe davon gehört.“, rief sie, „Er soll sich dafür interessieren. Mehr weiß ich nicht.“

Agustina entfernte sich schleunigst in Richtung von Castellina und murmelte traurig: „Giovanni, ach, Giovanni!“ Sie kam dabei dicht an der Frau vorbei, die sich immer noch im Eichenwäldchen versteckt hielt und ihr erstaunt nachblickte. Und während des gesamten Weges murmelte Agustina immer wieder vor sich hin: „Giovanni, ach, Giovanni!“, und stieß dabei von Zeit zu Zeit einen tiefen Seufzer aus.

Als Agustina den Blicken Angelos entschwunden war, zog dieser eine Pistole aus der Jackentasche, und tat so, als ob er in der Luft ein Ziel suchen und danach schießen würde. Dies trieb er eine kleine Weile, um seinen Unmut über das Mädchen loszuwerden und sich abzulenken. Und immer wieder war er in Versuchung, den Sicherungshebel zurückzuschieben, und wirklich zu schießen, doch er wollte nicht, daß jemand einen Schuß hörte.

Eine Frau, es war dieselbe, die sich vor ihm versteckt hatte, kam jetzt aus dem Schatten des Eichenwäldchens, näherte sich ihm langsam und leise, blieb dabei aber immer in seinem Rücken und rief plötzlich:

„Was machst du denn da, Angelo?“ Angelo drehte sich erschrocken um,

„Anna-Maria! - Wo kommen Sie denn her?“

„Ich gehe hier immer spazieren. Und als ich Stimmen hörte, habe ich mich zurückgezogen. Man weiß ja nie! - Laß bloß niemanden die Pistole sehen! Was willst du eigentlich damit?“, und dabei zeigte sie auf die Waffe in seiner Hand.

„Ach, nur so!“, sagte er ausweichend und zuckte mit den Schultern.

„Wie kommst du an diese Pistole?“

„Die habe ich - von einem Freund!“

„Schöner Freund! - Hast du überhaupt einen Waffenschein?“

„Brauche ich dafür nicht!“

„Wieso?“

„Sie ist nicht scharf!“

„Zeig einmal her!“, Anna-Maria streckte die Hand aus, „Du weißt, durch Giovanni kenne ich mich ein bißchen aus mit Waffen!“

„Nicht nötig!“ rief Angelo und versteckte die Pistole in seiner Jacke. „Ciao! Ich hab's eilig!“, er drehte sich um und ging den schmalen Weg durch das Eichenwäldchen zur Landstraße, wo sein Auto stand, sprang hinein, startete es und raste damit ins Nachbardorf.

Anna-Maria aber sah sich vorsichtig noch einmal um, ob auch wirklich sonst niemand hier war, und ging dann in großem Abstand hinter dem jungen Mann her. Und auch sie flüsterte ab und zu „Giovanni, ach Giovanni!“, und dabei schluchzte sie, und aus ihren Augen quollen dicke Tränen.

6. Kapitel

Pauline war mit ihrem Malgerät auf dem Rücken aufs geratewohl in die Landschaft gelaufen, war über einen Weidezaun geklettert, um eine geeignete Aussicht zu finden, ein schönes Motiv zum Malen, hatte ihre Staffelei aufgestellt, die Palette ausgepackt, die Pinsel bereit gelegt, und wollte nun diese Bergkette vor ihren Augen malen, die nördlichen Ausläufer der Monti Nebrodici, sie in ihrer eigentümlichen Gestalt und Färbung erfassen, - bläuliche Hügelketten unter einem blaugrauen Himmel, - doch die Berge schienen sich dagegen zu sträuben, von ihr erfaßt zu werden, und weil sie abgelenkt war mit ihren Gedanken, wollte ihr nichts gelingen.

Schließlich war sie so durcheinander und verärgert, daß es überhaupt nicht mehr ging, also packte sie alles wieder zusammen, lief zurück zum Hof, in ihr Zimmer, stellte ihre Staffelei und Palette in eine Ecke, warf die beiden Skizzen, die sie gemacht hatte, auf den Boden, hockte sich auf die Bettkante, wie auf dem Sprung, - und kaute an ihren Nägeln.

Plötzlich fragte sie sich, ob Raphael sie überhaupt attraktiv finden könne, - sein Blick mit diesem häufigen, spöttischen Lächeln fiel ihr ein. Dann überlegte sie, ob er das bewußt so angestellt hatte, mit dieser Ölspur, stellte sich einen Moment lang vor, daß er mit Absicht über einen großen Stein am Rande der Straße gefahren sei, um die Ölwanne zu beschädigen und so aufzufallen, einen Vorwand zu haben, sich einfach zu ihr, einer fremden Frau, an den Tisch zu setzen. -

Bei diesem Gedanken lachte sie hell auf, stieß ihre Zeichnungen mit dem Fuß beiseite, diese rutschten halb unter das Bett, - sprang auf, zog sich aus, zog den blauen Hosenanzug an, - und eine frische geblümte Bluse! - nahm ihr Bildhauerwerkzeug, den großen Klöpfel aus Holz und die verschiedenen Meißel, ging nach draußen, dorthin, wo ihre Skulpturen im Gras lagen, und begann, an einem ihrer Steine weiterzuarbeiten. Es war ein großer Kopf, ein Männerkopf, mit einem Haarschopf, der wie eine Mütze aussah, - alles noch unfertig und roh, die Massen nur angelegt, die Formen bisher nur angedeutet.

Hier, im Freien, bemerkte sie erst, wie warm es immer noch war, verspürte heftigen Durst und holte sich eine Karaffe mit Wasser und ein Glas. Endlich waren ihre Vorbereitungen abgeschlossen und sie konnte anfangen zu arbeiten. Verbissen hämmerte sie an dem Stein herum, war bald mit Staub bedeckt und geschwitzt. Ab und zu mußte sie sich mit schmerzendem Rücken aufrichten, - und kam sich dabei vor wie auf der Fron, wie eine Sklavin, die - für wen eigentlich? - in ihren Ferien, hier in der Hitze schuften mußte, während andere Menschen jetzt in einem Liegestuhl lagen, - an einem schönen Strand, auf das Meer schauen durften, und, wenn es ihnen zu heiß wurde, schwimmen gingen, - als Raphael plötzlich neben ihr stand; und sie hatte nicht bemerkt, wie er gekommen war, hatte über ihrem Hämmern nicht einmal seinen Wagen gehört.

Raphael musterte sie amüsiert, „Der einzige Mensch, der auf dieser Insel jetzt wirklich fleißig ist,“, sagte er, „sind wahrscheinlich Sie! - Was soll das für ein Tier werden?“ Warum duzte er sie nicht einfach?, wunderte sich Pauline.

„Kein Tier,“, sagte sie wütend, „sondern ein Männerkopf, - ich dachte dabei ein wenig an Ihren!“ Wieder lächelte er.

Vor diesem Mann hier, der sie so offen mit seinen hellen blauen Augen ansah, mit diesen freundlichen warmen Augen, zerfiel ihre Wut und Empörung zu nichts. Sie fühlte sich nur noch hilflos. Sie schämte sich, in Arbeitskleidung vor ihm zu stehen, verschwitzt und mit Staub überpudert; - und sie wollte ihm doch gefallen! -

Raphael tat jetzt etwas Unerwartetes. Er nahm ihre Hand in seine und hielt sie fest. Sie spürte, daß er sogar mit seinen Fingern ganz behutsam ihren Handrücken streichelte. Sie hielt still, schaute ihn mit offenem Mund an, seine Berührungen hatten etwas Beruhigendes, Tröstliches. - Er will mich trösten!, dachte sie verblüfft. - Warum nur?

Sie machte ihre Hand vorsichtig los, nahm ihr Glas, trank es leer und wartete. „Kommen Sie mit,“, sagte er, „ein kleiner Ausflug in die Berge. Ich möchte Ihnen zeigen, was ich dort gefunden habe, und weshalb ich immer dorthin fahre.“ - Einmal etwas anderes! Es wäre ja noch früh am Nachmittag. Sie hätten Zeit genug.

Sie nickte nicht, sie reagierte überhaupt nicht. Irgendetwas war geschehen, - oder geschah gerade jetzt, - was etwas Neues in ihr Leben brachte, ganz überraschend. Einen Moment überlegte sie , was sie ihm mitteilen könnte, und sagte dann nur etwas sehr triviales: „Ja! - Ich muß mich nur noch frisch umziehen.“

Als sie ins Bad ging, war sie erschrocken, wie häßlich sie aussah, häßlich und müde! Sie war tatsächlich über und über mit Staub bedeckt, mußte erst einmal duschen, die Haare waschen, - fühlte sich gehetzt, - mußte plötzlich noch soviel erledigen, daß die Zeit nie reichen konnte für alles.

Endlich langte Pauline an seinem Wagen an, mit nassen Haaren, verschmiertem Lippenstift, unordentlich angezogen, - er saß auf dem Fahrersitz, las eine Zeitung. „Ich hasse es, jemanden warten zu lassen!“ murmelte sie, ließ sich auf den Sitz fallen.

„Nicht so schlimm!“, sagte er, ohne hochzublicken und faltete die Zeitung zusammen. War er verstimmt? Dann legte er vertraulich den Arm um ihre Schulter, ihr wurde es heiß, sie atmete tief durch, hoffentlich würde er jetzt nicht versuchen, sie zu küssen! Nein! Er sah sie nur an, strahlte, „Schön, daß wir diesen Ausflug machen!“

Raphael setzte sich seine Schirm-Mütze auf, hatte auch eine für sie, startete, fuhr los, sie winkten Maria und Antonio zu, dem Hauswarts-Ehepaar, das am Restauranthaus stand, wie früher die Dienstboten.

Unten auf der Küstenstraße wirkte Raphael auf einmal unsicher, hatte er nicht behauptet, die Strecke zu kennen? Nahm er eine andere Straße als gewohnt? Pauline wollte ihm helfen, bestand darauf, die Karte zu lesen, die gerade in diesem Küstenabschnitt nicht stimmte, was er wiederum nicht glauben wollte. Um auch in die Karte schauen zu können, lenkte er den Wagen mit der linken Hand und neigte sich dabei gefährlich zu ihr herüber.

Plötzlich fing der Wagen an zu stottern, Raphael bückte sich nach unten, fingerte unter dem Armaturenbrett herum, dann sogar im Pedalraum.

„Was machst du da?“, fragte sie ängstlich.

„Ich suche den 'Secret switch'; den Schalter für die Benzinpumpe, - eine Sicherung gegen Diebstahl.“

„Achtung!“, schrie sie, denn beinahe wäre er bei diesem Manöver in den Straßengraben getrudelt. Er richtete sich auf, lenkte den Wagen gerade, lachte,

„Keine Angst, you secret witch!, denn das sind Sie doch, eine geheime Hexe, oder?“

„Warum Männer ausgerechnet beim Autofahren plötzlich vertraulich werden,“, sagte sie, „Das werde ich nie begreifen. Wahrscheinlich liegt es daran, daß die Frauen sich dann nicht wehren oder nicht einfach aussteigen können, - denn das wäre bei dieser Geschwindigkeit lebensgefährlich.“ Er lächelte in sich hinein und sagte nur,

„Verzeihung! - Aber das mit der Hexe werde ich Ihnen später einmal erklären. - Es ist ein großes Kompliment.“

„Danke für solch verschlüsselte Komplimente.“

Eigentlich hatte sie nur darauf zu achten, daß sie eine kleine, nicht beschilderte Abzweigung fanden, auf sonst nichts, dennoch mußte sie sich zusammennehmen, denn selbst wenn sie diese Abzweigung finden würden, war er immer noch da und sie neben ihm und das ganze war jetzt und heute und nicht im Nirgendwo!

Es gelang ihr sogar ab und zu, die Landschaft, durch die sie fuhren, zu betrachten; es gab die Flanken steiler Hügelzüge, von hohen Mauern umschlossene Villen, und wenn die Straße sich hochwand, sahen sie tief unten Klippen oder zugangslose Strände, plötzlich auf der anderen Straßenseite ein Stückchen überraschend dichter Wald, - doch diese Abzweigung in die Berge wollte einfach nicht kommen, so angestrengt sie auch nach links und nach rechts starrte. „Wir müssen eben zurück, wenn wir es nicht mehr finden!“, sagte er. Anscheinend war er schon bereit, aufzugeben.

Kurz danach rief sie, „Da könnte es sein!“, denn sie hatte eine Tafel gesehen. - Doch es war nur die Zufahrt zu einem Hotel, einem trostlosen Betonkasten an einem dunklen, verdreckten Strand, und dann war rechts plötzlich nur noch das Meer zu sehen und links nur noch Fels und Geröll, und dazwischen die Straße, und nach ein paar hundert Metern sah sie mittendrin im Geröll ein unleserliches Schild, verrostet, zerschossen und verbeult, und weil es das einzige war, glaubte sie, daß es das endlich sein müßte.

„Links jetzt, bitte links!“, schrie sie auf, aber zu spät, denn sie waren schon daran vorbei gefahren, „Das muß es sein, hier gibt es sonst nichts. Glaub mir, links war richtig! Ich schwöre es dir!“ Sie duzte ihn plötzlich, und es war ganz selbstverständlich.

„Ja, du hast recht,“, sagte er, „ich erkenne es wieder!“ Er wendete direkt auf der Straße, und fuhr zurück. Ja, es war wirklich diese Abzweigung, die sie gesucht hatten, jetzt auf der rechten Straßenseite, die in die Berge führte. Gezwungen ruhig sagte sie,

„Dort hinauf geht es also!?“

Doch als sie die schräge, entsetzlich steile Geröllfläche in der ganzen Ausdehnung überblickte, durch die sich die Straße nach oben wand, rief sie, „Doch nicht da hinauf! Nein, das will ich nicht!“ Er lachte einfach, dieser ahnungslose Junge!

Je höher sie fuhren, desto kahler wurde der Berg, desto feiner die Luft, desto durchsichtiger der Himmel. Das Meer erschien manchmal nah, manchmal weit weg, wie in manchen Reisen ihrer Träume. Schließlich war die Straße nur noch eine Geröllpiste, und ab und zu flogen kleine Steine gegen den Boden des Wagens.

Bei einer Kehre sah sie das Meer unter sich, unvermittelt zu Füßen eines lotrecht abfallenden Felsens, wie aus der Höhe eines riesigen Turms, der nur Stein war, nackt und riesig, und vom kürzlichen Regen sauber gewaschen. Endlich waren sie daran vorbei!

Abergläubisch zählte sie die Kehren. An der dreizehnten Steilkehre begann es. Sie spürte es kommen, machte sich steif, stemmte sich ab, drückte sich mit den Füßen gegen das Bodenblech des Wagens, mit solcher Kraft, daß sie befürchtete, eine Beule in das Blech des alten Autos zu treten.

„Nicht so schnell!“, flüsterte sie.

„Der Wagen kann noch schneller . . . “ und er lachte, legte sogar seine Hand auf ihre Knie, „Du brauchst nicht mitzubremsen!“ So versteinert war sie vor Angst, daß sie nichts mehr zu sagen wagte. Es ist mein Ende, dachte sie, ich vergehe, ich löse mich auf, wenn er weiter hoch fährt!

Bei jeder Kehre verging sie von neuem.

„Herrlich . . . ,“, sagte er, „obwohl unpraktisch, mit einem solchen Wagen!“ Er bremste, kuppelte aus, weil er einen niedrigeren Gang einlegen mußte. Sie litt - und er genoß es! Wie ungerecht! -

Wie konnte man nur eine derartige Straße fahren? Und diese ständigen Steilkurven an Abhängen, wo nur Wahnsinnige so schnell hindurchrasen konnten. - Warum hatte sie nicht gleich gemerkt, daß etwas mit ihm nicht stimmte?

„Wie soll denn da oben noch ein Dorf sein?“ Hier oben konnte es überhaupt kein Dorf geben, hier war nur noch Wind und eine steile Straße, die sich den Berg hinaufquälte, mit diesem gelben Auto, das jeden Moment mit ihnen beiden den Abhang hinabstürzen mußte.

Er verstand natürlich nichts. Männer begreifen nie, was in Frauen vorgeht. - Er erzählte ihr etwas von Dörfern, die man aus Angst vor arabischen Korsaren so hoch in die Berge gebaut hatte, selbst noch zu Schinkels Zeiten hatte es sie gegeben, und daß die Amerikaner damals ein Kriegsschiff ins Mittelmeer geschickt hatten, um diesem Piraterie-Unwesen ein Ende zu bereiten, - wie sie so oft einem Unwesen endlich ein Ende machen wollten, doch damals wie heute meist völlig erfolglos.

Gut, diese Korsaren, dachte sie, die alten waren doch aber seit zweihundert Jahren fort, vertrieben, und die neuen hatten anderen Methoden. Da reichte ein Tapetenmesser. Die Zeit gebärdete sich doch so modern! Warum konnte man die Dörfer nicht nach unten verlegen, ihr zuliebe?

„Und die Silbermine?“, fragte er.

„Die auch!“, murmelte sie verstört. Er lachte. Wieder eine Kehre, bei der alles neben ihr wegsackte, um dann plötzlich als riesige Wand neben ihr wieder aufzutauchen und sie zu erschlagen. Nur Geröll, Gesteinsbrocken, schwarz und braun, dazwischen wuchsen weiße Kerzen. Asphodelos, Affodil, die Totenblume, ein Totenacker am Hang, ein rhythmisch aufheulender Motor. -

399
489,38 ₽
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480 стр. 1 иллюстрация
ISBN:
9783742794741
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