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Nawâdir – Kostbarkeiten

Eines späten Nachmittags erreichten wir ein Bergdorf und schlenderten durch die Ortschaft, da riefen einige ungezogene Kinder: »Hallo, o mein Onkel, du bist zu zweit gekommen!«

Es war ein gängiger Scherz beim Anblick europäischer Hosen, die man damals selten zu Gesicht bekam. Doch Suleymân zeigte sich nach meinem Bericht sehr verärgert. Er kehrte um und hielt den Kindern eine furchtbare Strafpredigt, tadelte sie streng, da sie sich erdreistet hatten, einen Fremden und Gast derart zu beleidigen. Seine Missbilligung beruhte auf solch hohen Prinzipien, dass niemand, der auch nur ein Fünkchen Frömmigkeit oder guten Willen im Herzen trug, widerstehen konnte; und seine Redekunst war so eindrucksvoll und gleichzeitig überzeugend, dass nicht nur die Kinder, sondern auch viele Erwachsene ihm folgten, als er schließlich fortging.

Das Dorf lag hoch oben, unter dem Gipfel eines Bergkamms, und von einer nur einen Steinwurf entfernten Felsengruppe aus konnte man das Meer sehen, eine große blaue Mauer, die sich nach Norden und Süden erstreckte. Wir hockten zwischen diesen Felsen, um den Sonnenuntergang zu beobachten. Die Dörfler ließen sich in Hörweite nieder, einige unter, andere über uns. Bald sagte ein alter Mann: »Ihr sprecht wohl, o Weiser! Sie haben gesündigt, als sie solch Worte hinter dem Rücken eines vornehmen Gastes riefen. Ihr schlechtes Benehmen verlangt nach strenger Erziehung. Aber ich bin überzeugt, dass kein Kind, das den Worten von Euer Ehren gelauscht hat, je wieder so unverschämt sein wird.«

»Amân!« (Friede), rief einer der Missetäter. »Allah weiß, dass wir es nicht böse gemeint haben.«

Ich beeilte mich zu erklären, dass die Beleidigung nichts bedeute. Doch Suleymân erlaubte nicht, dass ich sie kleinrede.

»Euer Ehren seid noch zu jung«, sagte er gebieterisch, »um den mystischen Wert der Worte und Taten eines Mannes zu verstehen. Ein Wort kann gut gemeint und unschuldig sein und dennoch viel Unheil heraufbeschwören, wenn es etwas besonders Bösartiges in sich trägt. Ihr wisst alle, wie die Jânn auf unbedachte Worte reagieren können; dass, wenn ich eine Ziege, einen Hund oder eine Katze bei ihren Gattungsnamen rufe, ohne jeweils auf das gemeinte Tier zu deuten, ein Jinni wahrscheinlich herbeieilen wird, da viele Jânn mit Tiernamen gerufen werden. Ihr wisst auch, dass es schlimm enden kann, wenn man die Schönheit eines Kindes lobpreist, ohne es Allah als Opfer darzubieten. Denn es gibt einen unsichtbaren, eifersüchtigen Zuhörer, der alle Nachkommen Evas hasst und sie verunstalten möchte. Solche Tatsachen sind jedem Dummkopf bekannt, und ihre Bedeutung ist klar. Doch liegt eine andere, schwerer erkennbare Gefahr im sorglosen Umgang mit Worten, besonders bei persönlichen Bemerkungen wie jenen der Kinder, als sie unserem guten Herrn nachriefen: ›Du bist zu zweit gekommen‹, und so die Aufmerksamkeit auf den lebendigen Körper richteten. Ich erinnere mich an eine Kostbarkeit, die Euch vielleicht vage zu verstehen hilft, was ich meine.

Ein gewisser Bauer (Fellâh) war geplagt von einer törichten Ehefrau. Als er eines Tages fortgehen musste, erklärte er ihr alles, was zu tun sei, und befahl ihr, besonders auf die Kuh zu achten, denn er fürchtete, die Kuh könnte umherwandern, wie sie es bereits getan hatte, und die Nachbarn verärgern. Er konnte sich nicht vorstellen, dass solch ein Auftrag an solch eine Person, also die Absicht, die Aufmerksamkeit der Frau auf etwas Bestimmtes zu lenken, zu Unheil führen würde. Der Mann meinte es gut; ebenso die Frau. Sie konzentrierte sich ganz darauf, seine letzten Worte vor der Abreise zu befolgen. Nachdem sie alle Arbeiten im Haus erledigt hatte, setzte sie sich unter einen Olivenbaum, der vor der Tür wuchs, und richtete ihre ganze Aufmerksamkeit mit aller Macht auf das einzige lebende Wesen in Sichtweite, die schwarzweiße Kuh, die in dem Bereich graste, den ihr eine kurze Leine gewährte. Die Verantwortung wog so schwer, dass die Frau es mit der Angst bekam, und nun, da sie so angestrengt starrte, auf den Gedanken verfiel, mit der Kuh sei etwas nicht in Ordnung. In Wahrheit hatte das arme Tier das ganze Gras in Reichweite gefressen, doch der Frau wollte nicht einfallen, den Pflock mit der Leine zu versetzen.

Schließlich kam ein Nachbar des Weges. Sie bat den weithin als freundlich bekannten Mann, die Kuh zu untersuchen und ihr zu sagen, was mit ihr los sei. Der Nachbar war ein Spaßvogel und kannte die Frauen. Er wusste auch, wie viel Ärger die Kuh machte, da sie immer den Pflock herausriss und in den bepflanzten Feldern umherwanderte. Nach langer eingehender Untersuchung erklärte er: ›Der Schwanz tut ihr weh, und man sollte ihn entfernen. Schaut nur, wie sie damit hin und her wedelt. Schneidet man den Schwanz nicht sofort ab, wird die Kuh eines Tages sterben.‹

›Barmherziger Allah!‹, rief die Frau. ›Bitte schneidet ihn für mich ab. Ich bin ganz allein und hilflos.‹

Der Mann hob die Axt, die er bei sich trug, und hackte den Schwanz der Kuh nah des Rumpfes ab. Er gab ihn der Frau, und sie dankte ihm herzlich. Er ging fort, während sie die Bewachung der Kuh wieder aufnahm. Und noch immer glaubte sie, das Tier sei nicht ganz gesund.

Ein anderer Nachbar kam des Wegs. Sie erzählte ihm von ihrer Sorge und wie der weithin als freundlich bekannte Sheykh Mukarram ihr geholfen habe, indem er den kranken Schwanz abgehackt hatte.

›Natürlich‹, rief der Neuankömmling. ›Das erklärt alles! Das Tier ist nun nicht mehr im Gleichgewicht. Es ist immer falsch, etwas von einem Ende wegzunehmen, ohne auch etwas vom anderen zu entfernen. Wollt Ihr, dass die Kuh gesund wird, so müssen die Hörner ab.‹

›Oh, helft mir, ich bin ganz allein! Tut es für mich‹, sagte die Frau.

Ihr Freund sägte die Hörner ab und gab sie ihr. Sie dankte ihm tausendfach. Doch als er gegangen war, erschien die Kuh nicht gesünder. Die Frau verzagte allmählich.

Inzwischen hatte sich die Neuigkeit über ihren Kummer mit der Kuh im ganzen Dorf verbreitet, und jeder, der dazu fähig war, eilte herbei, um zu helfen oder zuzuschauen. Sie schnitten das Euter, die Ohren und schließlich die Beine ab und gaben sie ihr, und sie dankte ihnen tränenreich. Zu guter Letzt gab es keine Kuh mehr, um die man sich sorgen musste. Mit einem Blick auf den zerstückelten Kadaver lächelte die Frau und murmelte: ›Gepriesen sei Allah, sie ist endlich geheilt; sie schläft nun! Ich kann jetzt ins Haus gehen und alles für die Heimkehr meines Herrn vorbereiten.‹

Ihr Gatte kam bei Sonnenuntergang heim. Sie sagte ihm: ›Ich war gehorsam. Ich habe die Kuh stundenlang beobachtet und gepflegt. Sie war sehr krank, doch alle Nachbarn haben mir geholfen, sie zu verarzten, haben viele Operationen durchgeführt, und so haben wir sie von allen Leiden erlöst, gepriesen sei Allah! Hier sind die verschiedenen Teile, die sie abgeschnitten haben. Sie gaben sie freundlicherweise mir, da die Kuh uns gehört.‹

Der Mann ging schweigend hinaus, um die Überreste der Kuh anzusehen. Als er zurückkehrte, packte er die Frau an den Schultern, blickte ihr direkt in die Augen und sagte grimmig: ›Allah behüte dich! Ich werde die ganze Welt bereisen, bis ich eine finde, die noch grässlicher ist als du. Und wenn ich keine finde, die grässlicher ist, so gehe ich weiter bis zum Ende, das schwöre ich.‹«

An dieser Stelle brach Suleymân ab, was alle überraschte.

»Ich verstehe nicht, was diese Kostbarkeit mit meinem Erlebnis zu tun hat«, bemerkte ich, sobald ich sicher war, dass er seinen Vortrag abgeschlossen hatte.

»Sie passt nicht zu Eurem Fall, aber zu anderen Fällen«, erwiderte er nach kurzem Nachdenken. »Es ist gefährlich, anderen Leuten etwas in den Kopf zu setzen oder ihr Selbstbewusstsein zu wecken, denn niemand weiß, welche Dämonen in ihren Gehirnen lauern. … Doch wartet, ich finde eine Kostbarkeit, die zu unserem Fall passt.«

»Sagt, o Meer der Weisheit, hat er eine Frau gefunden, die grässlicher war als seine?«

»Natürlich.«

»Erzählt, wie es weiterging, ich flehe Euch an.«

Doch Suleymân durchforstete sein Gedächtnis nach einer Begebenheit, die die ernsten Gefahren zufälliger Andeutungen deutlicher illustrierte. Schließlich seufzte er zufrieden und sprach wie folgt:

»Einst lebte ein äußerst berühmter türkischer Pascha, ein gütiger alter Mann, den ich oft getroffen habe. Er hatte einen langen weißen Bart, auf den er überaus stolz war, bis eines Tages ein Spaßvogel an ihn herantrat und sagte: ›Exzellenz, uns bewegt folgende Frage: Wenn Ihr zu Bett geht, legt Ihr Euren Bart unter oder auf die Decke?‹

Der Pascha überlegte kurz, aber konnte keine Antwort geben, denn es war ihm nie in den Sinn gekommen, auf solch eine Sache zu achten. Er versprach dem Fragesteller, ihm am nächsten Tag Auskunft zu geben. Doch als er an jenem Abend zu Bett ging, legte er den Bart probehalber unter und dann auf die Decke, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Beide Varianten kamen ihm unbequem vor, und er erinnerte sich beim besten Willen nicht daran, wie er die Bartfrage für gewöhnlich gelöst hatte. In dieser Nacht fand er keinen Schlaf und in der nächsten auch nicht, denn seine Gedanken kreisten unaufhörlich um das Problem. Am dritten Tag ließ er wütend den Barbier kommen, damit dieser ihm den Bart abrasierte. Da er an das dichte Haar an seinem Hals gewöhnt war, erkältete er sich nach der Rasur und starb.

Diese Geschichte passt sehr schön zu unserem Fall«, sagte Suleymân zum Schluss mit triumphierender Miene.

»Seid so gnädig, Herr, und verratet uns die Moral, die man daraus ziehen soll«, rief man von allen Seiten in der zunehmenden Dämmerung.

»Ich vermute«, wagte ich zu sagen, »dass die Aufmerksamkeit auf meine besonderen Beinkleider gelenkt wurde, damit ich sie abschneiden lasse oder türkische Pluderhosen trage?«

»Ich sage nicht, was geschehen wird. Das weiß Gott allein. Doch die bloße Möglichkeit, dass solche Unglücksfälle wie die, von denen ich berichtet habe, geschehen können, reicht aus, damit kluge Menschen künftig solche Reden vermeiden.«

Bis heute weiß ich nicht, wie viel von seinem Vortrag scherzhaft und wie viel ernst gemeint war. Doch die Fellâhîn sogen ihn auf wie reine Weisheit.

»Was geschah mit dem Mann, der eine grässlichere Frau als die seine suchte? Wie konnte er je eine finden?«, fragte Rashîd, als wir an jenem Abend im Gästezimmer des Dorfs zu Bett gingen, und erinnerte an Suleymâns unvollendete Geschichte über die törichte Frau und ihren Gatten und die unglückliche Kuh. Auch ich wollte den Rest der lehrreichen Mär hören. Nachdem wir Suleymân lang und breit darum gebeten hatten, stützte er sich auf seinen Ellbogen und erzählte weiter. Rashîd und ich lagen still unter unseren Decken.

»Wir sind bis zu der Stelle gekommen, meine Herren, als der gekränkte Gatte die Überreste der Kuh gesehen hatte und zu seiner Frau sagte: ›Ich werde nun die ganze Welt durchwandern, bis ich eine finde, die noch grässlicher ist als du. Und wenn ich keine finde, die grässlicher ist, gehe ich weiter, bis ich sterbe.‹ Nun, er reiste und reiste – einige sagen monatelang, andere jahrelang –, bis er ein Dorf im Libanongebirge erreichte, ein Dorf der Maroniten, die für ihre Arglosigkeit berühmt sind. Ihr Ruf, unbedarft zu sein, hatte ihn zu ihnen geführt.«

»Wie war sein Name?«, fragte Rashîd, der alles ganz genau wissen wollte.

»Sein Name?«, sagte Suleymân nachdenklich. »Sâlih.«

»War er Moslem?«

»Aye, ein Moslem, vermutlich … Obwohl er, das weiß nur Allah, auch Ismaelit oder Druse gewesen sein mag. Noch Fragen? Dann lasst mich fortfahren.

Er kam zu dem Dorf der Maroniten und warf, da er Durst hatte, einen Blick durch eine Tür. Er sah den Dorfpriester und dessen ganze Familie, wie sie ein dickes Schaf mit Maulbeerbaumblättern stopften. Das Schaf war in der Mitte der Treppe angebunden, die zum Dach führte. Der Priester und seine Frau saßen zusammen mit ihrer ältesten Tochter davor auf dem Boden in einem Haufen Maulbeerbaumzweigen, und all die anderen Kinder saßen hintereinander auf den Stufen und reichten die gepflückten Blätter nach oben zur zweitältesten Tochter, deren Aufgabe es war, das Schaf zum Weiterfressen zu zwingen. Sie würden so lange weitermachen, bis das Schaf zu dick zum Stehen wäre und auf die Seite kippte. Dann wollten sie es schlachten, um für das ganze kommende Jahr genug Fett zu haben.

Sie waren so eifrig bei der Sache, dass sie den Fremden an der Türschwelle nicht bemerkten, bis er rief: »Frieden diesem Hause« und freundlich um einen Schluck Wasser bat. Sogar dann ließ sich der Priester nicht stören, sondern sagte ›Itfaddalû!‹ und deutete auf einen an der Wand stehenden Krug. Der Gast sah hinein, doch das Gefäß war leer.

›Kein Wasser drin‹, sagte er.

›Oh‹, seufzte der Priester, ›heute sind wir von der Arbeit so durstig, dass wir ihn leergetrunken haben, und so beschäftigt, dass die Kinder vergessen haben, ihn aufzufüllen. Steh auf, o Nesîbeh, nimm den Krug auf deinen Kopf, eile zur Quelle und bring Wasser für unseren Gast.‹

Das Mädchen Nesîbeh, es war vierzehn Jahre alt, stand gehorsam auf und schüttelte die Maulbeerbaumblätter und Raupen von seinem Gewand. Es nahm den Krug und ging durch das Dorf zur Quelle, die einem Felsen unter einem gewaltigen Birnbaum entsprang.

So viele Leute holten gerade Wasser, dass Nesîbeh sich nicht vordrängen konnte, also setzte sie sich, um zu warten, bis sie an die Reihe kam, auf einen schattigen Platz. Sie war von Natur aus nachdenklich, und während sie wartete, sprach sie zu ihrer Seele: ›O Seele, ich bin schon ein großes Mädchen. In ein, zwei Jahren vermählt mich meine Mutter mit einem anständigen Mann. Im Jahr darauf habe ich einen kleinen Sohn. Ein, zwei Jahre später ist er alt genug, um herumzulaufen, und sein Vater fertigt für ihn ein Paar roter Schühchen, und er wird zu dieser schönen Quelle kommen, wie es alle Kinder tun, um im Wasser zu plantschen. Da er ein wagemutiger Bursche ist, wird er auf den Baum klettern.‹

Und dann, als ihr Blick auf einen großen Ast fiel, der wie ein ausgestreckter Arm hervorragte, merkte sie, wie gefährlich es für Kinder war, auf den Baum zu klettern.

›Er wird herunterfallen und sich das Genick brechen.‹

Sofort begann sie untröstlich zu weinen und machte dabei solch einen Lärm, dass sich alle, die gekommen waren, um Wasser zu holen, um sie scharten und fragten: ›O Nesîbeh, was fehlt dir?‹

Und zwischen ihren Schluchzern antwortete sie: ›Ich bin schon ein großes Mädchen.‹

›Das stimmt, o Vielgeliebte!‹

›In ein, zwei Jahren wird meine Mutter einen Mann für mich finden.‹

›Höchstwahrscheinlich.‹

›Im Jahr darauf habe ich einen kleinen Sohn.‹

›So Gott will!‹, murmelte die Menge fromm.

›Ein, zwei Jahre später ist er alt genug, um herumzulaufen, und sein Vater fertigt für ihn ein Paar roter Schühchen, und er wird mit den anderen Kindern zu dieser schönen Quelle kommen und auf den Baum klettern. Und … oh! … Seht den großen, vorragenden Ast. Von dem wird er abrutschen, herunterfallen und sich das Genick brechen! Ach, wehe!‹

Daraufhin riefen die Leute: ›O grausames Schicksal!‹, und viele zerrissen ihre Kleider. Sie sanken rund um Nesîbeh zu Boden, wiegten sich hin und her und klagten: ›Ach, mein kleiner Nachbar. Mein armer, lieber, kleiner Nachbar! Ach, hättest du lang gelebt, um mich zu begraben, mein kleiner Nachbar!‹1

Derweil wurde der Fremde, der auf das Wasser wartete, ungeduldig und wagte erneut, das Schafstopfen zu stören, indem er bemerkte, das junge Mädchen mit ihrem Krug sei überfällig. ›Das stimmt‹, sagte der Dorfpriester und schickte seine zweitälteste Tochter aus, um der ersten Beine zu machen. Das Mädchen lief rasch zur Quelle und sah die ganze Dorfbevölkerung weinend um ihre Schwester am Boden sitzen. Sie fragte, was los sei. Sie antworteten: ›Großes Leid! Deine Schwester – arme, verwirrte Mutter! – sagt dir, worum es geht.‹ Sie lief zu Nesîbeh, die stöhnte: ›Ich bin schon ein großes Mädchen. In ein, zwei Jahren vermählt mich meine Mutter mit einem Mann. Im Jahr darauf habe ich einen kleinen Sohn. Ein, zwei Jahre später ist er alt genug, um herumzulaufen. Sein Vater fertigt für ihn ein Paar roter Schühchen. Er wird zu dieser schönen Quelle kommen, um wie alle Kinder zu spielen. Er auf klettert auf den Baum, fällt von diesem vorragenden Ast und bricht sich das Genick.‹

Bei dieser traurigen Nachricht vergaß das zweite Mädchen seinen Auftrag. Es warf den Rock über den Kopf und begann zu schreien: ›Ach, mein kleiner Neffe! Mein armer, kleiner Neffe! Bei Gott, hättest du lang gelebt, um mich zu begraben, mein kleiner Neffe!‹ Und auch sie setzte sich zu den anderen auf den Boden, um sich ihrem Kummer hinzugeben.

Der Dorfpriester sagte: ›Auch die Zweite ist überfällig. Ich schicke noch ein Kind los, doch du, o Fremder, musst seinen Platz auf den Stufen einnehmen, sonst würde das Stopfen zu lange unterbrochen.‹

Der Fremde tat, worum man ihn gebeten hatte, während ein Kind nach dem anderen losgeschickt wurde, bis er alleine übrig blieb, um die frischen Blätter hinaufzutragen und dem Schaf ins Maul zu stopfen. Immer noch kam niemand zurück.

Die Frau des Dorfpriesters ging selbst los und meinte, ihr Mann und der Fremde könnten die Arbeit allein erledigen. Das taten sie lange Zeit, doch niemand kam zurück.

Schließlich stand der Priester auf und sagte: ›Ich gehe selbst und werde sie verprügeln, weil sie so lang fortbleiben. Füttert derweil das Schaf, o Fremder. Lasst nicht davon ab, die Blätter hinaufzutragen und es damit zu stopfen, sonst wäre aus Nachlässigkeit all die Arbeit umsonst gewesen.‹

Der Priester ging wütend durch das Dorf zur Quelle. Doch sein ganzer Zorn verwandelte sich in Staunen, als er die Menschenmenge schluchzend vor Kummer rund um seine Familie auf dem Boden sitzen sah.

Er wandte sich an seine Frau und fragte, was los sei.

Sie stöhnte: ›Ich kann es nicht sagen. Frag die arme Nesîbeh!‹

Dann wandte er sich an seine älteste Tochter, die von Schluchzern halb erstickt erklärte: ›Ich bin schon ein großes Mädchen.‹

›Das stimmt, o meine Tochter!‹

›In ein, zwei Jahren wird meine Mutter einen Mann für mich finden.‹

›Das ist möglich.‹

›Im Jahr darauf habe ich einen kleinen Sohn.‹

In sh’Allah!‹, sagte ihr Vater fromm.

›Ein, zwei Jahre später läuft mein Sohn herum. Sein Vater fertigt für ihn ein Paar roter Schühchen. Er kommt zu dieser Quelle, um mit den anderen Kindern zu spielen. Und von diesem vorragenden Ast – wie soll ich es erklären? – fällt er herunter und bricht sich das Genick.‹ Nesîbeh verbarg erneut ihr Gesicht und jammerte laut.

Dem Dorfpriester brach das Herz, als er die schreckliche Nachricht vernahm, er riss seine Soutane von unten bis zur Taille entzwei, warf die Enden über sein Gesicht und rief: ›Ach, mein kleiner Enkel! Mein lieber, kleiner Enkel! Oh, wenn du gelebt hättest, um mich zu begraben, mein kleiner Enkel!‹ Und auch er sank von Trauer erfüllt zu Boden.

Dem Fremden wurde es schließlich zu mühsam, die Maulbeerbaumblätter abzureißen und sie die Stufen hinauf zu dem angebundenen Schaf zu bringen. Er merkte, dass er wegen der Anstrengung noch durstiger geworden war.«

»Hat er das wirklich getan, obwohl niemand zuschaute?«, fragte Rashîd. »Er muss ebenso dumm gewesen sein wie alle anderen.«

»Das war er, aber auf andere Art«, sagte Suleymân. »Er ging zur Quelle und sah die Versammlung unter dem Birnbaum, die heulte wie die Sünder am Jüngsten Tag. Mittendrin saß der Dorfpriester, der sein Gesicht in den Fetzen seines schwarzen Rocks barg. Der Fremde wagte es, sich dem Mann zu nähern und ihn zu fragen, was los sei. Der Priester zeigte kurz sein Gesicht und wollte sprechen, doch die Erinnerung an seinen Kummer überwältigte ihn. Er verbarg sein Gesicht erneut und jammerte: ›Ach, mein kleiner Enkel! Mein hübscher, kleiner Enkel! Oh, wenn du gelebt hättest, um mich zu begraben, mein kleiner Enkel!‹

Eine Frau, die in der Nähe saß, zupfte dem Fremden am Ärmel und sagte: ›Seht das Mädchen dort. Bald ist sie erwachsen. In ein, zwei Jahren ist sie sicher verheiratet. Ein Jahr später hat sie einen kleinen Sohn. Der Kleine ist bald groß genug, um herumzulaufen. Sein Vater macht ihm ein Paar roter Schühchen. Er kommt zur Quelle, um mit den anderen Kindern zu spielen. Seht Ihr den Birnbaum? An einem Tag wie diesem – einem schönen Nachmittag – klettert er hoch, und von dem Ast, der über die Quelle hinausragt, fällt er hinunter und bricht sich sein kleines Genick auf diesen Steinen. Ach, unser kleiner Nachbar. Ach, hättest du gelebt, um uns zu begraben, mein kleiner Nachbar!‹ Und alle begannen erneut, sich zu wiegen und zu jammern.

Der Fremde stand da und starrte sie eine Weile an. Dann schrie er ›Tfû’aleykum!2 und spukte auf den Boden. Er würdigte sie keines weiteren Wortes, sondern ging fort und wanderte immer weiter, bis er sein Heimatdorf erreichte. Dort setzte er sich auf seinen uralten Stuhl und sagte zu seiner Frau: ›Sei nicht traurig, o Geliebte! Ich habe eine Grässlichere gefunden.‹«

Suleymân erklärte die Geschichte für beendet.

»Was ist die Moral?«, fragte Suleymân.

»Das erklärt sich von selbst«, antwortete der Geschichtenerzähler. »Es ist diese: Ganz gleich, wie schlimm die eigene Frau auch sein mag, man kann immer eine schlimmere finden.«

»Man kann auch eine bessere finden«, schlug ich vor.

»Verlasst Euch nicht darauf!«, sagte Suleymân. »Auf der Welt gibt es drei Arten von Frauen, die allesamt behaupten, von unserem Vater Noah abzustammen. Doch die Wahrheit ist: Unser Vater Noah hatte nur eine Tochter, und drei Männer begehrten sie. Um die anderen zwei nicht zu enttäuschen, verwandelte er seinen Esel und seinen Hund in zwei Mädchen, die er den Freiern anbot – deswegen hat man es heute mit drei Arten von Frauen zu tun. Die echten Nachkommen unseres Vaters Noah sind sehr selten.«

»Wie kann man sie von den anderen unterscheiden?«, fragte ich.

»Nur durch eines: Sie behalten Euer Geheimnis für sich. Die zweite Art Frau verrät Euer Geheimnis an eine Freundin, die dritte wird es gegen Euch verwenden. Und dies tun sie instinktiv, so wie Hunde bellen und Esel schreien, ohne böse Absicht oder Hintergedanken.

Derselbe Dorfpriester der Maroniten, von dem ich gerade erzählt habe, wurde in den ersten Tagen seiner Ehe von seiner Lebensgefährtin gepeinigt, ihr die Geheimnisse anzuvertrauen, die ihm die Leute beichteten. Er weigerte sich und behauptete, sie würde sie preisgeben.

›Nein, ich kann ein Geheimnis für mich behalten, wenn ich es geschworen habe. Stell mich auf die Probe!‹, antwortete sie.

›Na, das wollen wir mal sehen‹, sagte der Dorfpriester in einem neckenden Tonfall.

Eines Tages, als er zu Hause auf dem Sofa lag, begann der Priester zu stöhnen und sich zu winden, als litte er starke Schmerzen. Seine Frau fragte ihn entsetzt, was ihm fehle.

›Es ist ein Geheimnis‹, erwiderte er, ›das ich dir nicht anzuvertrauen wage, denn mein Wohlergehen auf Erden und mein Seelenheil hängen davon ab.‹

›Ich schwöre bei Allah, es für mich zu behalten. Erzähl’s mir!‹, drängte sie.

›Nun‹, antwortete er wie unter Höllenqualen, ›ich riskiere mein Leben und vertraue dir. Wisse, dass du Zeugin des größten Wunders bist. Obwohl ich keine Frau bin, werde ich bald ein Kind gebären – etwas, was auf Erden bis heute noch nie geschehen ist –, und in dieser Stunde soll ich mein Erstgeborenes zur Welt bringen.‹

Dann steckte er mit einem furchtbaren Schrei die Hände unter seinen Rock und zeigte seiner Frau einen kleinen Vogel, den er dort versteckt hatte. Er ließ ihn durch das Fenster davonfliegen. Nachdem der Vogel verschwunden war, sagte der Priester fromm: ›Gelobt sei Allah! Das ist vorbei! Du hast mein Kind gesehen. Dies ist ein heiliges und schreckliches Geheimnis. Behalte es für dich oder wir müssen alle sterben!‹

›Ich schwöre, dass ich es geheimhalte‹, erwiderte sie inbrünstig.

Doch das Wunder, dessen Zeugin sie gewesen war, ließ ihr keine Ruhe. Sie musste darüber sprechen oder sterben. Also besuchte sie eine Freundin, auf deren Klugheit sie sich verlassen konnte, ließ sie schwören, Stillschweigen zu bewahren, und erzählte ihr die Geschichte.

Diese Frau hatte ebenfalls eine vertrauenswürdige Freundin, der sie unter Eid, alles für sich zu behalten, die Geschichte erzählte, und so ging es weiter, mit dem Ergebnis, dass am selben Abend eine Delegation der Dorfältesten den Priester aufsuchte und ihn im Namen der Gemeinde bat, die Füße seines geheimnisvollen Sohnes küssen zu dürfen – jenes kleinen regenbogenfarbenen Vogels, der ein Horn auf dem Kopf trage und Flöte spiele.

Der Dorfpriester sagte nichts zu seiner Frau. Er schlug sie nicht. Er warf ihr nur einen Blick zu. Und doch peinigte sie ihn von diesem Tage an nie wieder und blieb demütig.«

»Der Priester war zu diesem Anlass sehr weise, aber so töricht in der anderen Geschichte!«, wandte ich ein.

»So sind die meisten Männer«, sagte Suleymân. »Doch Frauen sind eher gleichbleibend klug oder töricht. Eine glückliche Nacht!«, sagte Suleymân zum Abschluss und legte sich schlafen.

Das übliche Nachtlicht der syrischen Bauern – ein Docht, der in einer Tasse voll Öl und Wasser schwimmt – brannte zwischen uns auf dem Boden und ließ auf Wand und Decke große Schatten tanzen. Das Letzte, was ich vor dem Einschlafen hörte, war Rashîds Stimme: »Er ist ein berühmter Lügner, unser weiser Mann dort; und trotzdem sagt er die Wahrheit!«

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25 мая 2021
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9783958299429
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