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Kapitel 9


München-Giesing, 30. Mai 2019, nachmittags

»Georg? Wo steckst du?« Gewohnt unbekümmert stürmt Tosh in den Serverraum.

»Hier hinten«, sage ich dumpf. Unglücklicherweise habe ich mich gerade in den schmalen Spalt zwischen Wand und der Rückseite eines Serverschrankes gequetscht.

Sekunden später linst Tosh in den engen Zwischenraum, ein blaugraues Auge mustert mich interessiert. »Was machst du da?«

»Die Verkabelung. Irgendwo muss ein defektes Kabel sein, oder eine Verbindung hat sich gelockert …«

»Warum gibst du nicht Bescheid? Marco kann den Schrank ein Stück vorziehen.«

»Bist du wahnsinnig?« Allein die Vorstellung, dass der massige Italiener hier herumtrampelt und an meinen Babys zerrt … ich schnappe nach Luft.

Tosh lacht leise, und ich merke, dass er mich mal wieder veräppelt.

»Sehr witzig«, brummle ich. »Ich habs gleich.«

»Schon gut«, sagt er, und das Auge verschwindet. Ich höre ihn auf und ab gehen. »Ich sags dir, diese Frau ist eine einzige Plage! Alle fünf Minuten braucht sie so ein verdammtes Buch, und ich wette, in Wahrheit will sie nur mit ihrem geilen Arsch vor meiner Nase rumwackeln. Ich hab praktisch einen Dauerständer!«

»Warum legst du sie nicht endlich flach?«

»Sie ist noch nicht so weit«, brummt er missmutig.

Das hält Tosh normalerweise nicht unbedingt ab, wenn er eine Frau will. Aber wie immer muss er Carlos Anweisungen wortwörtlich nehmen. Dabei könnte ich Minnie auch finden. Ich habe damals sogar Diego aufgetrieben, als der Domenicos Drogengeschäfte auffliegen lassen wollte – und Diego war in einem erstklassigen Zeugenschutzprogramm. Aber nein, wenn Carlo sagt, die Anwältin solle freiwillig die Beine breitmachen und während des Beischlafs Minnies Versteck herausposaunen, dann wird das natürlich genau so gemacht. Verstehe diese Mafiosi, wer will.

»Ich hoffe, mit deiner Anna läufts besser!«

Ich seufze innerlich. Ich weiß ja, dass Tosh nie irgendwas vergisst, warum sollte er ausgerechnet Anna vergessen? Eigentlich habe ich Anna erfunden, damit Tosh aufhört, mich über mein Sexleben auszuhorchen. Aber seit diese Mayra in seinem Büro hockt, denkt er anscheinend andauernd ans Ficken.

Ich fische mein Smartphone aus der Hosentasche und reguliere mit Hilfe der entsprechenden App die Temperatur im Serverraum ein bisschen herunter. Vielleicht hilft das, um Tosh ein wenig abzukühlen. Als ich es wegstecke, entdecke ich plötzlich das fehlerhafte Kabel kurz über dem Fußboden. Wie eine Schlange winde ich mich nach unten, um das Problem zu beheben.

Toshs Gesicht erscheint wieder in dem Spalt. »Sicher, dass man dir nicht helfen kann?«

»Sicher!« Ich werfe einen ärgerlichen Blick in seine Richtung und erblicke von unten sein freches Grinsen, und dann erwischt es mich wieder mal völlig unvorbereitet. Ich bin froh, dass ich hier hinten derartig eingeklemmt bin, dass ich nicht umfallen kann. Denn wenn er mich so ansieht, sieht er umwerfend aus. Und keinen Tag älter als in jener Nacht, in der ich um drei Uhr morgens mit einem Strick um den Hals auf dem Geländer der Praterwehrbrücke saß, die Beine über den Fluss hängen ließ und versuchte, den Mut zum Springen zu finden …

München-Lehel, Sommer 2011

Ich höre ihn nicht kommen, ich bin zu beschäftigt damit, in das trübe Wasser der Isar zu starren und mich selbst einen Feigling zu nennen, weil ich noch immer nicht über dem Fluss baumle.

Als der Kerl in dem dunklen Anzug zwei Meter von mir entfernt seine Unterarme auf die Brüstung stützt und sagt: »Ich habe mir heute ein Tattoo stechen lassen«, erschrecke ich derart, dass ich fast herunterfalle. Instinktiv kralle ich mich an dem Geländer fest.

»Es ist mein erstes Tattoo, aber ich gehe davon aus, dass es nicht das letzte sein wird«, fährt er völlig unbekümmert fort, als wären wir zwei Opas, die sich auf einer Parkbank zu einem netten Plausch treffen. Obwohl – für einen Opa ist er viel zu jung. Und er strotzt nur so vor unterdrückter Energie. Wie eine Aura umgibt sie ihn.

Er erzählt mir, wie es aussieht, das Tattoo, und irgendeine wirre Geschichte, wieso er sich genau dieses Motiv ausgesucht hat. Ich frage mich, ob er nicht merkt, dass ich kurz davor bin, mich in den Tod zu stürzen, als er sich eine Strähne seines halblangen Haares hinter ein Ohr streicht und sagt: »Ich weiß, mein Geschwafel kommt dir ein bisschen ungelegen. Aber ich kann mit niemandem darüber reden. Und so, wie es aussieht, wirst du es ja nicht mehr weitererzählen.«

Ich bin so verblüfft, dass ich nicht antworte und ihn nur mit offenem Mund anstarren kann, aber er quatscht schon weiter, und ich schaue schnell wieder weg. Er erzählt von einer Aufnahmeprüfung, die er heute bestanden hat, irgendein gruseliges Ritual. Ich komme langsam zu dem Schluss, dass von den beiden Typen auf der Brücke es nicht der mit dem Strick um den Hals ist, der nicht mehr alle Tassen im Schrank hat. Wahrscheinlich wird er gleich behaupten, Außerirdische hätten ihn entführt, und er habe die letzten paar Tage in deren Ufo Urlaub gemacht.

Vorsichtig spähe ich zu ihm hinüber und sehe, dass er ein Tuch unordentlich um seine linke Hand gewickelt hat. Ich kann es wegen der Dunkelheit nicht genau erkennen, aber könnten da Blutflecken drauf sein? Der Kerl ist echt ein Freak! Aber wenn das so ist, schubst er mich vielleicht einfach von der Brücke, dann hätte sich das Problem erledigt.

»Und du?«, fragt er, beugt sich über die Brüstung und spuckt in die Isar.

»Was?«, krächze ich dümmlich.

»Ich schütte dir hier mein Herz aus, und du sagst gar nichts. Erzähl auch mal was!«

»Nein«, flüstere ich. Ich will nicht reden. Ich will sterben.

Er dreht sich nur um, sieht mich an. Ungeachtet der Dunkelheit meine ich zu erkennen, dass seine Augen verärgert funkeln.

Einbildung, sage ich mir. Trotzdem fühle ich mich schlecht deswegen. Aber was soll ich denn sagen? Wieso ich hier sitze, will er doch gar nicht wissen.

Schließlich halte ich sein Schweigen nicht mehr aus. »An allem sind nur die Bitcoins schuld«, platzt es aus mir heraus.

»Ah!«, sagt er erfreut und hört auf, mich zu fixieren. »Das interessiert mich. Erzähl mir von den Bitcoins.«

Ich bin froh, dass er mich nicht mehr anstarrt, also fange ich an zu reden. Über meinem Bruder Simon, dem ich die Bitcoins gezeigt habe. Über die Firma, die Simon gegründet hat, und wie er sein Geld und das seiner Kunden in die Bitcoins gesteckt hat, bis ein Fehler im Programm dafür sorgte, dass der Bitcoin-Wallet der Firma verloren und somit kein Zugriff mehr möglich war.

»Aha«, sagt der Mann neben mir, und ich fürchte, er könnte denken, ich hätte diesen Programmfehler zu verantworten, und wäre deshalb hier. Also erzähle ich, dass ich bei Simons Firma gar nicht mitmachen durfte. Und weil ich nicht will, dass der Kerl schlecht von meinem Bruder denkt, erwähne ich auch gleich, was für eine Enttäuschung ich schon bei meiner Geburt für meine erfolgreichen Eltern war. Der missgestaltete Junge mit der Hasenscharte. Der Bub ohne jedes Talent.

Vier Jahre nach mir kam Simon auf die Welt. Mein perfekter Bruder. Alle liebten Simon. Ich auch. Gerade weil er so unbekümmert war. Das Leben war für ihn von Anfang an ein Spiel und er war der Gewinner. Er nahm sich immer alles, was er wollte. Mein Taschengeld zum Beispiel, um mit seinen Freunden um die Häuser zu ziehen. Während ich mehr und mehr Zeit vor dem Computer verbrachte und keine Ahnung hatte, was ich mit mir anfangen sollte. Ich war ja auch im Gegensatz zu Simon total unsportlich – eine weitere Enttäuschung für meine Eltern.

Schließlich finanzierte mir mein Vater einen winzigen Computerladen. Simon hingegen studierte.

Irgendwie hört sich die Geschichte blöd und falsch an. Ich bin halt kein guter Erzähler, auch darin war Simon so viel besser als ich.

»Jetzt sag nicht, dass Simon mich nur ausgenutzt und nie etwas für mich getan hat!«, schreie ich den Typ neben mir an.

»Das muss ich dir nicht sagen. Das weißt du ja schon«, entgegnet er ruhig.

»Aber Simon ist jetzt tot! Und ohne ihn will ich nicht weiterleben!«

»Das ist ganz allein deine Sache«, sagt er.

Ich bin enttäuscht, dass er nicht meint, dass Simon sich alles selbst zuzuschreiben hat, weil ich ihm nicht cool genug für sein schickes Start-up war. Dachte er, wie meine Eltern, es war meine Schuld? Wenn ich Simon nicht von den Bitcoins erzählt hätte … Aber, er sollte gar nicht investieren, ich war doch nur froh, endlich richtig mit ihm reden zu können, über etwas, in dem ich mich zur Abwechslung einmal auskannte und das Simon auch interessierte. Wenn jetzt sogar ein Wildfremder glaubt, ich solle mich umbringen …

»Hast du schon mal versucht, dich zu erhängen?«, fragt er.

»Sehr witzig! Dann säße ich ja nicht hier.«

»Sag das nicht. Der ist nicht besonders stabil, dein Strick. Wäre nicht der erste, der reißt. Ein Kletterseil wäre besser gewesen.«

»Hatte ich nicht«, sage ich beleidigt. Sehe ich aus wie ein verdammter Outdoorfreak? Verflucht, nicht einmal den Selbstmord bekomme ich offensichtlich richtig hin. Ich bin so ein Versager!

»Es ist auch nicht sicher, dass du gleich das Bewusstsein verlierst. Wenn es nicht sofort zu einem Genickbruch kommt, kann es mehrere Minuten dauern, bis du erstickst. Kein schöner Tod!« Er schüttelt bedauernd den Kopf.

»Bist du ein verfickter Arzt?«, frage ich grantig.

»Nein.« Er strahlt mich an. »Ein Henker.«

»Hmpf.« Der Kerl hat echt einen an der Waffel! Ein Henker! Ja, klar, sehe ich wirklich so bescheuert aus? Allerdings zieht er in dem Moment eine Pistole, die hinten in seinem Hosenbund gesteckt haben muss. Ich zucke zusammen und verliere das Gleichgewicht.

»Occhio!« Blitzschnell ist er neben mir und hält mich zurück. »Vorsicht! Warte doch erst mal mein Angebot ab!«

Er stellt den Abstand zwischen uns wieder her, und mit klammen Fingern kralle ich mich an dem Geländer fest. Der Kerl lässt die Waffe in seiner Hand kreisen. Wie in einem verdammten Western.

»Ein Schuss. Ein schneller, sauberer Tod. Was sagst du? In ein paar Sekunden ist es erledigt. Einhundertprozent Erfolgsgarantie. Ich weiß, was ich tue.«

»Spinnst du? Wenn du mich erschießt, buchten dich die Bullen wegen Mordes ein.«

»Natürlich nicht.« Nun klingt er beleidigt.

»Wieso solltest du das tun?« Er wird es sowieso nicht tun. Er ist einfach nur ein schräger Vogel. Bestimmt ist die Pistole nicht echt, sondern irgend so ein Luftdruck-Irgendwas.

»Die Sache hat natürlich einen Haken. Alle wirklich guten Angebote haben einen winzigen Haken«, erklärt er und steckt die Waffe wieder weg. »Diese Bitcoins, von denen du erzählt hast – die eignen sich doch perfekt für anonyme Transaktionen, oder?«

»Ja …« Wie kommt er denn jetzt darauf?

»Perfetto! Du musst deinen Tod nur um ein paar Stunden verschieben. Du zeigst mir alles ganz genau und dann kümmere ich mich um dein Ableben.«

Blödsinn!

»An deiner Stelle würde ich echt einen Experten hinzuziehen«, sagt er bedeutungsvoll. »Und ich könnte einen Experten für Bitcoins brauchen.«

Das gibt den Ausschlag. Die Versuchung, einmal jemanden mit meinem Wissen zu beeindrucken, ist zu groß. Springen kann ich ja auch morgen. »Also gut.«

Ich versuche, ein Bein zurück über das Geländer zu schieben, aber irgendwie ging das in die andere Richtung leichter. Erneut drohe ich, vornüber zu kippen, als der Kerl mich wieder packt. Diesmal zerrt er mich nach hinten auf die Brücke. Ich plumpse sehr unelegant zu Boden und schnappe nach Luft. Er lässt sich neben mich fallen und atmet ebenfalls tief durch.

Jetzt, da er so dicht bei mir sitzt, sehe ich, dass er jünger ist, als ich dachte. Anfang zwanzig. Höchstens. Der schwarze Anzug hat mich getäuscht. Nie und nimmer ist das ein Mörder.

Das Nächste, was mir auffällt: Das Ende meines sorgfältig an die Balustrade geknoteten Seils liegt lose auf dem Boden. Verwirrt greife ich danach und betrachte es von allen Seiten.

»Ja, sorry, Kumpel. Ich hatte echt Schiss, dass du über der Isar baumelst, bevor du mir so ein Wallet eingerichtet hast.«

»Du hast den Strick losgemacht?!«

»Jupp«, sagt er unbekümmert und springt auf. »Als du das erste Mal fast runtergekippt bist. Okay, das hätte auch schiefgehen können, wenn du mir ins Wasser gefallen wärst. Aber ich dachte, lieber nass als tot, eh?«

Dann reicht er mir seine Hand.

»Komm! Wir haben viel zu tun.« Ich lege meine Hand in seine, und er zieht mich hoch. »Ich bin Tosh. Wo ist denn nun dein Laden?«

»Georg«, stelle ich mich krächzend vor, nehme den Strick ab und werfe ihn in die Isar. »Es ist nicht weit.«

Es ist mir echt peinlich, Tosh meinen mickrigen Laden PC-Reparatur und Zubehör zu zeigen. Außerdem zittern meine Hände so stark, dass ich den Schlüssel nicht in das Schloss bekomme. Tosh nimmt ihn mir ab und sperrt auf.

Drinnen interessiert er sich überhaupt nicht für das dreckige Schaufenster oder die staubigen Regale, sondern steuert zielstrebig das einzige hochmoderne Gerät auf dem blitzsauberen Schreibtisch an. Meinen PC.

Zwar muss ich meine Hände ein paarmal an meiner Hose abwischen, damit mir die Finger nicht von der Tastatur rutschen, aber je länger wir dasitzen, desto weniger denke ich an die Brücke, den Strick und was Tosh von mir halten muss. Meine Gedanken werden mehr und mehr vollkommen von dem jungen Mann neben mir vereinnahmt, der wissbegierig alles aufsaugt, was ich sage. Er ist wie ein Schwamm. Ein verdammt gutaussehender Schwamm. Seine Augen funkeln, während ich ihm zeige, wie er die Bitcoins verwalten, umtauschen oder handeln kann.

»Warum handelst du nicht selbst damit?«, will er wissen.

»Ist mir zu langweilig.« Ich kann einfach nicht widerstehen. Noch nie hat mir jemand so offensichtlich etwas zugetraut. »Ich hacke mich lieber irgendwo ein«, sage ich.

Wieder dieses Funkeln in den Augen.

»Ich könnte uns einen Kaffee machen und dir ein bisschen was zeigen«, sage ich. Mit dem Sterben habe ich es mit einem Mal gar nicht mehr so eilig.

»Okay.«

Ich schlurfe in die Küche und fummle an der Kaffeemaschine herum.

Tosh folgt mir kurz darauf. »Sag mal, Georg, kann ich mir hier irgendwo … Was ist denn das?«

Ich sehe mich erschrocken um, um herauszufinden, was ihn derartig aus der Fassung gebracht hat. Er zeigt voller Verachtung auf die Filterkaffeemaschine.

»Santo dio, Georg. Du hast doch nicht etwa vor, mit dem Ding da einen Kaffee zu machen?«

»Sie ist ein bisschen verkalkt«, gebe ich verlegen zu. Und staubig. »Aber ich nehme immer einen frischen Filter!« Wenn ich Gäste habe. Ziemlich selten also.

»Das kommt nicht in Frage.« Er drängt mich beiseite, schnappt sich die Maschine, öffnet den Tretmülleimer und pfeffert sie hinein. Der Beutel mit dem Kaffee aus dem Discounter fliegt gleich hinterher.

»Georg. Du willst deinem Leben ein Ende setzen, und das ist ganz allein deine Sache. Aber vor deinem Tod wirst du wenigstens einmal einen anständigen Kaffee trinken!«

»Äh …«

»Warum richtest du meine Accounts nicht fertig ein, und ich kümmere mich darum.«

Er geht zurück in den Verkaufsraum, zieht die Pistole wieder aus dem Hosenbund, entfernt die Patronen und steckt sie in sein Jackett. Die Waffe legt er oben auf eines meiner Regale.

»Die Zeiten, als ich mit vorgehaltener Pistole einkaufen musste, sind zum Glück vorbei«, sagt er dabei grinsend. »Lass die Finger von der Knarre, sei so gut.«

»Tosh, es ist halb sechs Uhr morgens. Es hat nichts offen.«

Er zwinkert mir nur zu. »Überlass das nur mir, ich bin in einer Stunde wieder da.«

Mit einem beinahe schon übermütigen Grinsen auf dem Gesicht verlässt er den Laden, und sofort bin ich überzeugt davon, dass ich ihn nie wiedersehen werde. Dass dies alles ein makabrer Scherz ist. Oder eine neuartige Methode, um Selbstmörder von ihrem Vorhaben abzubringen. Vielleicht muss ich auch damit rechnen, dass die Bullen bei mir auftauchen. Immerhin liegt da ja eine Waffe auf meinem Regal. Und was, wenn Tosh doch ein Mörder ist? Oder habe ich mir das alles vielleicht nur eingebildet? Existiert Tosh nur in meinem Kopf? Ein verzweifelter Versuch meines Gehirns, mich von meinem Plan abzubringen?

Eine Dreiviertelstunde, nachdem die Tür hinter Tosh ins Schloss gefallen ist, fährt ein Taxi vor, Tosh steigt aus und holt mit Hilfe eines sehr beflissenen Taxifahrers einen riesigen Karton und eine kleine Tüte mit dem Logo eines Delikatessengeschäfts aus dem Kofferraum.

Ich starre das Schauspiel einen Moment mit offenem Mund an, dann springe ich zur Ladentür und reiße sie auf. »Wie hast du das gemacht?«

»Ich habe einen Gefallen eingefordert«, sagt er frech und trägt den Karton in die Küche. »Bist du schon fertig?«

»Äh, nein.«

»Dann mach hin. Ich kümmere mich um den Kaffee.«

Er beginnt in der Küche herumzuwerkeln, und ich setze mich ziemlich verdattert wieder an den Computer.

»Georg, hast du irgendwo einen sauberen Lappen?«

»Links unten!« Ich stehe auf, um nachzusehen, ob Tosh einen finden kann.

An der Küchentür halte ich inne. Es sieht aus, als wäre mitten in meiner schäbigen Küche ein Ufo in Form einer chromglänzenden Kaffeemaschine gelandet, die jedem Bistro alle Ehre machen würde. Tosh scheint mich nicht zu bemerken, wischt pfeifend irgendwelche Zubehörteile ab. Seine Jacke hat er über einen Stuhl geworfen. Ich starre seinen Rücken an und versuche mich daran zu erinnern, was er über dieses Ritual gesagt hatte. Ich dachte, er hatte mir irgendeinen Quatsch aufgetischt. Sein Hemd ist ebenso schwarz wie der Rest seines Anzuges, aber da sind doch Blutflecken darauf, oder? Ich war mir so sicher, dass kein einziges Wort von dem, was er erzählt hat, wahr war …

Leise ziehe ich mich zurück. Das ist ganz allein seine Sache.

Kurz darauf höre ich, wie das Gerät seine Arbeit aufnimmt, und der Duft von frisch gemahlenem Kaffee weht aus der Küche zu mir herüber. Tosh bringt zwei winzige Tassen mit einem tiefschwarzen Gebräu. Seine Jacke hat er wieder angezogen.

Misstrauisch schnuppere ich an der Tasse, bevor ich den ersten Schluck probiere. »Das ist … himmlisch!«

Tosh grinst zufrieden.

»Bist du Italiener?«, frage ich neugierig.

»Nein … aber meine Familie … kommt aus Italien.«

Er sagt das zögernd, als wäre er sich dessen nicht sicher. Geht mich ja auch nix an. Also genieße ich den Kaffee, und versuche mich daran zu erinnern, wieso ich mich aufhängen wollte. Wenn es nach mir ginge, könnte ich bis ans Ende aller Tage so mit Tosh hier sitzen bleiben.

Leider unterbricht sein Handy unser trautes Zusammensein. Es schrillt extrem laut mit einem Klingelton los, der an einen Feueralarm erinnert.

Fasziniert beobachte ich die Veränderung, die sofort in ihm vorgeht. Er zieht das Handy heraus, steht auf und strafft die Schultern, bevor er den Anruf annimmt. Tosh spricht Italienisch, sodass ich keine Ahnung habe, was vor sich geht. Aber vor allem scheint von einem Augenblick zum nächsten ein anderer Mann in meinem Laden zu stehen. Sein Gesicht ist jetzt eine ausdruckslose Maske, seine Stimme ohne jedes Gefühl, seine Haltung angespannt. Wie eine Raubkatze vor dem Sprung. Ich bekomme eine Gänsehaut. Oh ja, dieser Tosh wäre in der Lage, mich umzubringen. Eine dunkle Ahnung macht sich in meiner Brust breit.

»Si. Betrachte es als erledigt, Boss.« Den letzten Satz sagt er wieder auf Deutsch, dann legt er auf, fährt sich durch die Haare. »Sorry, Kumpel, du musst noch ein bisschen durchhalten … mein Boss ist nicht der geduldigste. Und ich will jetzt nicht so zwischen Tür und Angel …« Er nimmt die Pistole vom Regal, zuckt einmal mit den Achseln und steckt die Munition wieder hinein. »Oder?«

»Äh …«, mache ich, und er legt eine der Patronen neben meine Tasse.

»Ich komme zurück. Wir erledigen das in Ruhe, wie es sich gehört. Du hast mein Wort.« Er zeigt auf die Patrone. »Das ist deine.«

»Äh, Tosh, ich will nicht mehr sterben«, krächze ich.

Er legt den Kopf schief, mustert mich mit einem undurchdringlichen Blick aus seinen blaugrauen Augen. »Das ist ganz allein deine Sache.«

»Ich … ich wollte dir doch zeigen, wo ich mich einhacken kann. Das interessiert dich doch, oder?« Eigentlich bettle ich darum, dass er wiederkommt. Aber scheiß auf meinen Stolz, wenn ich denn je einen hatte. Tosh soll nur nicht aus meinem Leben verschwinden. »Ich … Wenn du jemanden brauchst, der diese Computersachen für dich erledigt, dann … könnte ich doch für dich arbeiten.« Ich halte die Luft an. Bin ich wahnsinnig geworden?

»Warum nicht«, sagt er jedoch unergründlich. »Wir reden darüber, wenn ich zurück bin. Kann eine Weile dauern.«

»Okay«, sage ich atemlos.

Dann ist er weg. Ich bleibe dümmlich grinsend vor meinem Computer stehend zurück. Klicke ein wenig herum, überlege, was Tosh interessieren könnte. Schaffe es, dem Ufo in meiner Küche mit Hilfe eines Handbuches, so dick wie eine Enzyklopädie, nach mehreren Fehlversuchen einen Kaffee zu entlocken. Irgendwann fordern die letzten Stunden allerdings ihren Tribut, mein Kopf sinkt auf die Tastatur und ich döse ein.

»Herzlichen Glückwunsch!«

»Tosh?!« Ich fahre aus dem Schlaf hoch. Es ist schon wieder dunkel. Ich starre den Mann an, der dort im schummerigen Licht meines Ladens steht, und frage mich, wie viele Gesichter er hat. Zu sagen, er sähe erledigt aus, wäre mehr als untertrieben. Dicke Ringe zeichnen sich unter seinen Augen ab, seine Haut wirkt fahl. Er lehnt an einem meiner ollen Regale, normalerweise eine lässige Haltung, aber im Moment sieht es eher so aus, als bräuchte er eine Stütze. Was zum Teufel war das für ein Job, den er da erledigen musste? Und warum schaut er mich so finster an?

»Du hast es dir hoffentlich nicht anders überlegt.«

Was denn? Egal. »Nein«, sage ich.

»Gut. Ich gründe eine Firma. Und du …«, er zeigt auf mich, »wirst mein bester Mitarbeiter. Mein einziger.« Selbst diese Bemerkung wirkt kraftlos.

»Das ist großartig«, sage ich. Dabei würde ich viel lieber wissen, ob ich etwas für ihn tun kann.

Er reibt sich die Stirn. »Du wirst mich verfluchen. Du wirst dir wünschen, du wärst gesprungen, bevor du mich gesehen hast.«

»Werde ich nicht«, sage ich, und dann nehme ich all meinen Mut zusammen und sage: »Du siehst fix und fertig aus. Wann hast du das letzte Mal geschlafen?«

Tosh winkt ab, doch dann gibt er überraschend zu: »Keine Ahnung. Vielleicht sollte ich mich wirklich ein paar Minuten ausruhen.«

»Du kannst … hinten … mein privates Reich …«, stottere ich. Ich will nicht, dass es das falsch versteht, wenn ich sage, leg dich in mein Bett. Aber ich habe halt nur eins. Doch er steuert bereits in die angegebene Richtung. Ich wünschte, ich hätte das Bett in letzter Zeit mal frisch bezogen, aber Tosh scheint sich nicht daran zu stören. Er zieht die Jacke aus, knüllt sie zusammen und legt sie an das Kopfende. Ich sehe, dass er die Pistole nicht mehr dabeihat. Tosh schlüpft aus den Schuhen und lässt sich auf mein Bett fallen. Schon bevor sein Kopf das provisorische Kissen berührt, scheint er eingeschlafen zu sein.

Ich kann den Blick einfach nicht von Tosh abwenden, wie er da liegt, mit geschlossenen Augen, die Gesichtszüge entspannt. Er sieht fast unschuldig aus. Ich setze mich auf den fadenscheinigen Flickenteppich vor meinem Bett.

Ich bin verloren.

Eine verirrte Strähne seines Haares hängt ihm ins Gesicht, und nur mit Mühe kann ich mich davon abhalten, sie hinter sein Ohr zu streichen. Aber er würde womöglich aufwachen, und dann würde er gehen. Ich will nicht, dass er geht. Und ich will ihn auch nicht verschrecken mit meinen komischen Anwandlungen. Wahrscheinlich wird er mir nie mehr gestatten, ihn so zu sehen, verletzlich und wehrlos. Vielleicht werde ich überhaupt nie wieder die Gelegenheit bekommen, ihn einfach nur anzusehen. Also werde ich keine einzige Sekunde davon verschwenden.

Ich betrachte sein Gesicht, die markante Nase und das kantige Kinn, den leichten Bartschatten auf der Wange. Ich versuche mein Möglichstes, um mir jedes Detail einzuprägen, sein Bild in meine Netzhaut einzubrennen. Mein Blick wandert zu seinen Händen. Irgendwann im Laufe des Tages hat ihm jemand die Hand ordentlich verbunden. Am Ringfinger der anderen Hand steckt ein breiter Silberring mit einem eingravierten Wappen. Ich denke an die Pistole, die er in diesen Händen gehalten hat, und daran, wozu diese Hände ohne Zweifel in der Lage sind. Es ist mir egal. Stattdessen fahre ich fort, mir jede noch so kleine Einzelheit, jedes Muttermal, jede Narbe, einfach alles einzuprägen.

Es dämmert schon, als mir die Augen immer wieder zufallen. Irgendwann schlafe ich doch ein.

Als ich aufwache, liege ich auf dem Flickenteppich. Jemand hat meine Bettdecke über mich gebreitet. Tosh ist fort … Ob ich ihn wohl je wiedersehe? Er hat es zwar versprochen, oder viel eher angedroht, aber dennoch kann ich die Angst nicht abschütteln …

München-Giesing, 30. Mai 2019, nachmittags

Ich bin Tosh heute noch genauso verfallen wie an jenem Tag. Dabei mache ich mir gar keine Illusionen über ihn: Natürlich ist er ein Mörder, er ist skrupellos und brutal, und wenn es sich jemand mit ihm verscherzt, ist seine Rache grausam, da muss man sich nur Minnie oder Hugo ansehen. Aber da ist auch seine unerschütterliche Loyalität. Gegenüber Carlo, obwohl der ein verdammter Sadist ist, gegenüber der Münchner Famiglia, gegenüber seinen Leuten. Dann ist da noch jener Tosh, der voller Energie in meinen Serverraum hereinplatzt und ruft: »Georg, ich habe eine Idee, das musst du dir anhören!« Der Tosh, dessen Augen vor Begeisterung funkeln, während er mal wieder mit Zahlenkolonnen jongliert wie ein Artist im Zirkus mit seinen Bällen. Und irgendwo muss es auch noch den erschöpften jungen Mann geben, obwohl ich den nach jener Nacht, in der ich über seinen Schlaf wachte, nie wieder gesehen habe. Aber ich liebe jede dieser Facetten, weil das eben Tosh ist. Sie machen ihn aus. Würde man eine entfernen, wäre er nicht mehr der, der er ist. Ich würde ihn nicht ändern wollen, für kein Geld der Welt.

Inzwischen habe ich jede Steckverbindung geprüft, die überhaupt zu finden war, während Tosh immer noch zwischen meinen Serverschränken herumtigert und über die Anwältin schwadroniert.

»Du musst dir was einfallen lassen, wie ich sie noch ein bisschen beschäftigen kann.«

»Mach ich.«

Hoffentlich habe ich durch die Träumerei keinen wichtigen Teil der Unterhaltung verpasst. Ich krabble nach vorn.

»Ich bin mir nicht einmal sicher, ob sie ihre Gefühle sehr gut verbergen kann oder ob sie einfach zu dickköpfig ist, um überhaupt welche zuzulassen«, beschwert sich Tosh. »Womöglich hat die Frau anstelle eines Lustzentrums einen Eisklotz zwischen den Beinen.«

Ich spare mir den Hinweis, dass es tatsächlich Frauen geben soll, die trotz der Aura aus Macht, Geld und Gefahr, die Tosh zweifelsohne umgibt, nicht gleich dahinschmelzen und die Beine spreizen. Das merkt er ja gerade selber. Außerdem sollte ich darüber nicht lästern, bin ich doch keinen Deut besser.

Ich spüre einen winzigen Stich im Herzen, einen Splitter, der dort seit Jahren sitzt. Aber die Frauen kommen und gehen in Toshs Leben, und ich bin immer noch da. Und selbst wenn sie die eine ist, die alles für ihn ändert – wie könnte ich wollen, dass er dieses Gefühl nie kennenlernt? Nichts wünsche ich mir mehr, als Tosh glücklich zu sehen. Trotzdem muss ich es nicht mögen, dass er jede seiner Eroberungen mit mir durchquatscht, oder? »Warum vögelst du nicht inzwischen eine andere, wenn du es so nötig hast?«, brumme ich missmutig.

Er fährt auf dem Absatz herum, starrt mich an, und eine schreckliche Sekunde lang glaube ich, dass ich zu weit gegangen bin. Doch dann grinst er über das ganze Gesicht. »Georg, du bist ein verfluchtes Genie!«

Scheiße, wahrscheinlich werde ich mal wieder rot. »Dann sollten wir über mein Gehalt reden«, versuche ich meine Verlegenheit zu überspielen.

»Nicht, solange du die Temperatur hier drin immer noch weiter runterregelst«, sagt er. »Ich brauche jeden Cent für die Stromrechnung.«

Wie konnte ich annehmen, dass er es nicht merkt?

»Ist mir ein Rätsel, wieso dir nicht längst die Eier abgefroren sind. Vermutlich ist der Stromverbrauch in diesem Serverraum ganz allein für diese Klimakrise verantwortlich, von der immer alle reden.« Er zwinkert mir zu. »Basta così. Ich habe eine Idee, die musst du dir anhören!«

Seine Augen funkeln. Ich bin glücklich.

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