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Kapitel 6


München, 27. Mai 2019, nachmittags

Christine und ich verlassen das Gebäude nicht durch das Blue Parrot, sondern durch einen Hintereingang. Direkt vor der Tür befindet sich eine überdachte und an einer Seite von einer Mauer geschützte Auffahrt, sodass man mit Leichtigkeit ungesehen hinein- oder hinausgelangen kann.

Ein Taxi fährt vor, und meine Chefin schiebt mich auf die Rückbank. Mir ist ein bisschen übel, und ich würde gerne ein paar Schritte gehen, aber ich will auch endlich wissen, was hier los ist.

»Was war denn das gerade eben …?«, fange ich an, kaum dass das Taxi Fahrt aufgenommen hat.

»Schhh!«, macht Christine, und dann zischt sie mir leise zu. »Hören Sie, Mayra, Tosh Silvers ist ein gefährlicher Mann. Trotzdem würde sich jede Kanzlei in München alle Finger danach ablecken, auch nur einen kleinen Zeh in die Tür von Alpha Salvage zu bekommen. Also tun Sie mir den Gefallen, erledigen Sie den Job und treten Sie bloß dem Mann nicht noch mal auf die Füße!«

Hä? Wenn ihr das so wichtig ist, warum betraut sie dann ausgerechnet mich mit dem Mandat? Das macht doch gar keinen Sinn. Aber was meine Chefin angeht, ist das Gespräch damit scheinbar erledigt. Sie zieht ihr Handy heraus und beginnt zu telefonieren.

Da verstehe ich ihre Taktik plötzlich. Sie rechnet gar nicht damit, dass irgendjemand Herrn Silvers’ Anforderungen genügen könnte. Aber wenn dieser Fall eintritt, hofft sie womöglich, den Mann zu besänftigen, indem sie mich vor die Tür setzt. Auf mich kann sie am ehesten verzichten, und dank dieser Geste bekäme sie dann vielleicht doch ihren kleinen Zeh in die Tür von Alpha Salvage.

Jetzt ist mir richtig schlecht. Wäre ich der Typ Frau, der leicht in Tränen ausbricht, würde ich wahrscheinlich heulen, aber der bin ich nicht, stattdessen bin ich wütend. Auf Christiane, auf Silvers, eigentlich auf alles und jeden.

Zurück im Büro muss ich feststellen, dass Annabels Akten wie von Zauberhand verschwunden sind. Da es nicht so aussieht, als würde heute noch jemand anderes mit irgendeiner kuriosen Anfrage bei mir auftauchen, gebe ich Milena Bescheid, dass ich Überstunden abbummeln werde, im Notfall aber zu Hause zu erreichen sei.

Nur falls mich weitere gefährliche Männer engagieren wollen.

Inzwischen ist der erste Eindruck, den ich von dieser »Besprechung« hatte, ein wenig verblasst. Christine übertreibt doch, oder? Gut, Silvers hat tatsächlich eine unheimliche Ausstrahlung. Aber ein Großteil davon ist sicher seinen Machtspielchen geschuldet: Er hat uns zu sich zitiert, anstatt in die Kanzlei zu kommen, hat uns dann ewig warten und später nicht ausreden lassen, dazu das Fehlen jeglicher Höflichkeitsfloskeln. Das Machogehabe hat Tosh Silvers wirklich drauf.

Trotzdem ist Christine offenbar sehr an einer Zusammenarbeit interessiert. Aber was könnte schon passieren, wenn Silvers unzufrieden mit unserer Arbeit ist? Er könnte das Mandat kündigen. Das wäre vielleicht ärgerlich, aber doch nicht gefährlich.

Ich versuche, ein Szenario zu konstruieren, in dem ich oder die Kanzlei haftbar gemacht werden könnten, komme aber auf nichts, was nicht durch die entsprechenden Versicherungen abgedeckt wäre. Es sei denn, ich würde das Mandantengeheimnis brechen, was ich wirklich nicht vorhabe.

Wie auch immer, vor dem morgigen Termin will ich unbedingt wissen, mit wem ich es zu tun habe, und die entsprechende Recherche führe ich lieber zu Hause durch.

Vier Stunden später sitze ich immer noch in meinem Jogginganzug vor meinem Computer und reibe mir stöhnend die Schläfen. Tosh Silvers ist ein verdammtes Phantom, so sieht es aus. Seine Unternehmensberatung hat nicht einmal eine simple Webseite mit Kontaktdaten. Wenn ich dringend eine Beratung bräuchte, käme ich auf alle möglichen Firmen, aber sicher nicht auf Alpha Salvage. Wo kriegen die ihre Kunden her?

Silvers taucht auch nicht in irgendwelchen Klatschspalten auf, er spendet nicht für ein Kinderhospiz und hat keine aufregende Affäre mit einem Model. Nichts!

Das Einzige, was meine Recherche hervorgebracht hat, ist ein Handelsregisterauszug, der Tosh Silvers als Geschäftsführer der Firma ausweist, deren Gesellschafter andere Unternehmen sind, und, da Alpha Salvage bilanzierungspflichtig ist, eine ziemlich beeindruckende Aufstellung der Gewinne.

Mit Insolvenzverschleppung muss ich mich in nächster Zeit eher nicht mehr auseinandersetzen. Aber warum kann ich nicht wenigstens ein Foto von Silvers im Internet finden? Das gibt es doch gar nicht! Jeder taucht doch mit irgendeinem Foto im Netz auf, absolut jeder! Was ich mit dem Foto will, weiß ich selber nicht so genau. Und ich weigere mich auch, länger darüber nachzudenken.

Überpräsent im Internet ist allerdings Gieseke, Silvers’ möglicher Geschäftspartner. Täglich überschwemmt er die sozialen Medien mit Fotos und Videos seiner Botschaften für eine bessere, gerechtere Welt, und wird dabei nicht müde, sich selbst für sein früheres Verhalten zu geißeln.

Mir ist er ebenso wenig sympathisch wie Silvers, nur auf ganz andere Art. Dabei meint der Mann es doch nur gut. Wahrscheinlich ist es das schlechte Gewissen, weil ich ja eigentlich weiß, dass der Gieseke recht hat. In der Regel bin ich aber zu faul, um mir nach einem langen Arbeitstag etwas aus regionalen Biozutaten zu kochen, sondern nehme mir einfach eine Salamipizza mit nach Hause.

Christine hat noch einen Namen erwähnt, aber ich war so bestürzt über die drohende Kündigung, dass der mir völlig entfallen ist. Wieso hat mich meine Chefin eigentlich nicht vorgewarnt, sondern mich direkt ins offene Messer laufen lassen? War das ein Test? Dann stehe ich wahrscheinlich kurz vor dem Durchfallen. Mist!

Grummelnd fahre ich den Rechner runter. Es bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als mich mit diesem nervigen Mandanten zu arrangieren. Wenn die Verträge erst unterzeichnet sind, werde ich Silvers, seine Unternehmensberatung und das Blue Parrot hoffentlich nie wieder sehen müssen – diesmal aber für immer!

Kapitel 7


München-Giesing, 28. Mai 2019, nachmittags

Carlo ist Experte, was Manipulation angeht, und er ist ein guter Lehrmeister. Ich habe genug von ihm gelernt, um zu wissen, welch leichtes Spiel er mit dem jungen Tosh hatte, welch leichtes Spiel er immer noch mit mir hat. Was seine Methoden aber nicht weniger wirkungsvoll macht.

Nach Möglichkeit beginnt man damit, die Hierarchien zu klären. Was mir gestern wohl gelungen ist. Mayra dürfte inzwischen klar sein, wer am längeren Hebel sitzt.

Punkt zwei, finde etwas über dein Opfer heraus. Was treibt sie an, was will sie erreichen? Wen liebt sie abgöttisch? Was fürchtet sie? Was hat sie getan, von dem niemand je erfahren soll?

Ich habe Georg angewiesen, tiefer zu graben, und sollte eigentlich mittlerweile in der Lage sein, einige dieser Fragen zu beantworten. Doch bisher hat er höchst widersprüchliche Informationen geliefert. Nach außen hin kann Mayra die perfekte Vita präsentieren: Aus einfachen Verhältnissen stammend hat sie beharrlich ihr Ziel verfolgt und ist nun Anwältin in einer angesehenen Kanzlei in einem sehr lukrativen Bereich der Juristerei.

So weit, so gut. Eine wohlanständige Anwältin auf dem Weg nach oben. Aber was hat sie geritten, eine Nutte aus einer Gewahrsamszelle herauszuholen? Zumal Georg nicht die geringsten Anzeichen dafür gefunden hat, dass sie jemals zuvor den Drang verspürt hat, einem gefallenen Mädchen aus der Patsche zu helfen. Zudem konnte er auch keine persönliche Verbindung zwischen Mayra und Minnie finden. Wieso sollte sie also ausgerechnet für sie tätig werden?

Was mir allerdings sehr gefällt, ist, dass Mayra den perfekten Partner für ihr perfektes Leben noch nicht gefunden hat. So ein überkorrekter Spießer würde doch gut passen, der es ihr jeden Samstag unter der Bettdecke besorgt. Stattdessen dieser Account bei LonelyHearts. Ich freue mich schon darauf, ihre Chatverläufe zu lesen, während sie nur wenige Meter entfernt an den Verträgen arbeitet. Wovon sie allerdings gar nichts hält, wie sie mir unmissverständlich erklärt.

»Herr Silvers, das entspricht absolut nicht den üblichen Gepflogenheiten. Normalerweise werden alle Schriftsätze in unserer Kanzlei erarbeitet.«

Ach, Schätzchen, das hatten wir doch schon. Wenn ich deinen Arsch hier in diesem Büro haben will, dann bleibt er genau da. Ich lehne mich in meinem Stuhl zurück und verschränke die Hände hinter meinem Kopf. »Signorina Jennings«, sage ich sanft. »Keine Verträge von Alpha Salvage werden diese Büroräume verlassen, solange sie nicht unterschriftsreif sind.«

»Na, dann wollen wir mal hoffen, dass nicht die Polizei mit einem Durchsuchungsbeschluss vor der Tür steht, die sieht so was in der Regel nämlich anders.«

Es gefällt mir, dass sie sich bemüht, nicht klein beizugeben. Welcher Jäger schätzt es schon, wenn das Wild sich ihm freiwillig vor die Füße wirft? »Ich beschäftige eine Anwältin für Wirtschaftsstrafrecht, außerdem habe ich mir nichts zuschulden kommen lassen. Da gehe ich doch davon aus, dass Sie derartige Unannehmlichkeiten zu verhindern wissen.«

»Für meine Arbeit benötige ich außerdem diverse Nachschlagewerke, die in der Kanzlei selbstverständlich zur Verfügung stehen«, erklärt sie starrsinnig.

Gelassen schiebe ich ihr einen Block und einen Kuli hin.

»Dann notieren Sie die Bücher, die Sie benötigen, einer meiner Mitarbeiter wird sie besorgen.«

»Herr Silvers, das ist teure Fachliteratur, die es nicht in der Buchhandlung um die Ecke gibt.«

»Gut. Meine Angestellten mögen Herausforderungen, und sie sind es nicht gewohnt, mich zu enttäuschen.« Ich tippe ungeduldig auf den Block. »Was ist nun, brauchen Sie die Bücher, oder sind Sie einfach ein Trotzkopf, der mir das Leben schwer machen will?«

Sie zuckt nicht einmal mit der Wimper. Mit welchen Gesten man seinem Gegenüber mehr über seine Gefühlslage verrät, als man möchte, kann man in Seminaren lernen. Es auch tatsächlich nicht zu tun, erfordert hingegen sehr viel Übung. In Gedanken füge ich »Wann hat sie das gelernt und wieso?« zu meinem Fragenkatalog hinzu.

Eifrig füllt sie das Blatt, und ich nutze die Gelegenheit, um sie ausgiebig zu betrachten. Wie schon gestern finde ich sie einfach zum Anbeißen. Sie trägt heute ein pastellfarbenes Kostüm, sehr dezent, die Bluse bis zum obersten Knopf geschlossen. Doch ihre Weiblichkeit wird durch diesen Verzicht auf Offenherzigkeit nur noch betont. Ihre Haare sind mal wieder zu einem ordentlichen Knoten gedreht, und in ihren Ohrläppchen stecken winzige Perlenohrringe. Alles in allem ein Bild der Wohlanständigkeit, wie sie da so auf dem Besucherstuhl vor meinem Schreibtisch sitzt, die wunderbaren Schenkel fest geschlossen. Ich beobachte, wie sich ihr Busen bei jedem Atemzug hebt und senkt, während sie vermutlich alle juristischen Werke notiert, die ihr überhaupt in den Sinn kommen.

Scheinbar ist es mir doch gelungen, ein wenig an dieser glatten Oberfläche zu kratzen, stelle ich amüsiert fest. Sonst würde sie wahrscheinlich daran denken, dass ja nicht ich mich mit dieser Liste herumärgern muss, sondern mein Personal. Diese hübsche Gelegenheit, ihr beizubringen, dass sie sich in Zukunft ihre Widerspenstigkeit lieber spart, kann ich mir unmöglich entgehen lassen.

»Sehr gut«, sage ich, als sie mir den Block endlich wieder zurückgibt. »Nachdem wir uns auf den Arbeitsplatz einigen konnten, gehe ich davon aus, dass wir nun zügig ihr Aufgabengebiet besprechen können.« Ich lasse ihr gar keine Zeit zum Antworten, sondern fahre direkt fort: »Wie ich bereits sagte, streben wir Geschäftsbeziehungen mit Bio Gieseke an, die über die übliche Beratertätigkeit weit hinausgehen …«

Sie lauscht aufmerksam, und eine kluge Rückfrage zeigt mir, dass sie durchaus geeignet für diesen Job ist, obwohl das umfangreiche Vertragswerk in Wahrheit nur dazu dienen soll, das eigentliche Geschäft mit Gieseke zu verschleiern. Ich drücke diskret den Knopf der Gegensprechanlage, und nur wenige Momente später steht meine Sekretärin neben meinem Schreibtisch.

»Heute noch, Liliane!«, flechte ich in meine Ausführungen ein und reiche ihr Mayras Liste.

Die erkennt ihren Fehler im selben Moment, während ich ungerührt weiter darüber spreche, welche Streitfälle ich in dem Vertragswerk geregelt haben möchte.

Tja, herzlich willkommen in meiner Welt, Süße! Fair Play war gestern.

Kapitel 8


München-Laim, 28. Mai 2019, abends

Sollte einer meiner Nachbarn aus dem Fenster unseres gediegenen Mehrfamilienhauses sehen, böte sich ihm das gleiche Bild wie an so vielen Abenden: Zielstrebig steuert die geschäftige Anwältin am Ende eines Arbeitstages ihre Wohnung an.

Die Maske fällt in dem Moment, als ich meine Wohnungstür hinter mir schließe. »Fuck!«

Die Handtasche fliegt quer durch den penibel aufgeräumten Flur und knallt an die Badezimmertür. Meine Hände zittern, als ich mir die Pumps von den Füßen ziehe, weit aushole und sie der Tasche hinterherwerfe. »Verfluchter Mistkerl!«

Der Blazer ist ein schlechtes Wurfgeschoss und schafft es nur die Hälfte des Flurs hinunter. Ich zerre an der Haarspange und der Schmerz, als ich mir selbst an den Haaren reiße, lässt mich innehalten. Schwer atmend stehe ich vor dem Flurspiegel und betrachte mein blasses Gesicht. »Mieses Arschloch!«

Ich hasse Tosh Silvers. Von ganzem Herzen! Was nie passieren dürfte, schließlich haben Emotionen in der Beziehung zu einem Mandanten nichts zu suchen. Das ist unangebracht und unprofessionell. Aber der Drecksack wollte mir eine Lektion erteilen, und, verdammte Scheiße, das hat er geschafft.

Seine Sekretärin hat er nur angesehen, als wäre sie die größte Enttäuschung seines Lebens, weil ein Buch fehlte. Ein Buch bei dieser ellenlangen Liste von Fachbüchern! Die Arme wäre beinahe in Tränen ausgebrochen. Und der Italiener mit der Bodybuilderfigur, der die zwei monströsen Kartons ins Büro getragen hat, kam auch nicht ungeschoren davon.

»Marco, soll Signorina Jennings wie ein kleines Kind in den Kisten kramen, wenn sie etwas benötigt?«, äffe ich meinen Mandanten nach. »Nein? Wo ist dann das passende Regal?«

Marco wusste offenbar gar nicht, wie ihm geschah. Auf die Idee, seinen Chef darauf hinzuweisen, dass von einem Regal nie die Rede gewesen war, kam er jedenfalls nicht. Stattdessen ließ er die Zurechtweisung seines Arbeitgebers stoisch über sich ergehen und entschuldigte sich anschließend für sein Versäumnis. »Mieser Tyrann!«

Dann dieser abgrundtiefe Seufzer, während sich Silvers mit zwei Fingern die Nasenwurzel massierte, als könnte er nicht glauben, von welch schlimmen Dilettanten er umgeben ist, bevor ich mit einem »Schluss für heute, Signorina Jennings, wir sehen uns Morgen um acht« entlassen wurde.

»Sehen Sie nur, was Sie mit Ihrer Aufsässigkeit angerichtet haben!«, brauchte er nicht hinzuzufügen, das hatte ich auch so verstanden.

Vielen Dank auch, Scheißkerl!

Nachdem ich einen letzten frustrierten Schrei von mir gegeben habe, lasse ich mich erschöpft auf den Boden plumpsen. Vielleicht hatte Christine doch recht. Silvers ist gefährlich, aber ganz anders, als ich mir das vorgestellt habe. Wenn das so weitergeht, bin ich ein Wrack, bevor die Verträge auch nur ansatzweise fertig sind – oder ich lande im Gefängnis, weil ich ihn mit juristischer Fachliteratur erschlage.

Ich presse meine Wange gegen das kalte Glas des Spiegels. Keine Ahnung, weshalb Silvers ausgerechnet mich drangsalieren muss, aber die Botschaft ist angekommen. Ich soll das gehorsame Weibchen spielen? Warum nicht? Denkt er, ich bekomme das nicht hin? Oder dass mein Stolz darunter leiden würde? Pah! In Wahrheit habe ich meinen Stolz schon vor Jahren abgegeben – an der Garderobe des Blue Parrot, wenn ich mich recht erinnere.

Ich schlafe schlecht und mache mich mit einem deutlichen Ziehen in der Magengegend am nächsten Morgen auf den Weg zu meinem neuen Arbeitsplatz. Wo Tosh Silvers mich damit überrascht, dass er geradezu höflich ist. Für seine Verhältnisse. Nicht dass »bitte« oder »danke« plötzlich Teil seines aktiven Wortschatzes wären. Doch er erklärt mir ganz zivilisiert, womit ich beginnen soll, wobei mir, wie schon am Tag zuvor, auffällt, wie präzise mein Mandant seine Vorstellungen formuliert.

An der Wand neben dem Besprechungstisch steht ein schickes Regal, darin meine Bücher, hübsch nach Farben sortiert. Ein nagelneuer Laptop wartet ebenso auf mich wie eine Flasche italienisches Mineralwasser.

Heute keine Spielchen?, denke ich irritiert, während ich Herrn Silvers versichere, dass alles wunderbar und zu meiner vollsten Zufriedenheit ist. »Ja, ich komme zurecht, vielen Dank«, sage ich, nehme Platz, und dann merke ich, wo der Haken ist: Mein Mandant sitzt mir im Nacken. Und zwar wortwörtlich. Silvers’ Schreibtisch steht genau in meinem Rücken. Er kann mich ungeniert beobachten. Sich jederzeit von hinten anschleichen. Mich zu Tode erschrecken, wenn ich völlig in meine Arbeit vertieft bin. Das würde zu ihm passen.

Aber er tut es nicht. Alles, was ich von Herrn Silvers in der nächsten Stunde höre, ist das Klappern seiner Tastatur. Ich fange gerade an, mich ein wenig zu entspannen, als das erste Mal das Telefon klingelt. An und für sich nichts Ungewöhnliches. Nur, dass Tosh Silvers bei diesem, wie auch bei den folgenden Telefonaten, ausschließlich auf Italienisch kommuniziert.

Ich verstehe kein Wort. Doch sein Tonfall lässt darauf schließen, dass ich nicht die Einzige bin, die er recht ungnädig abfertigt. Allerdings hört sich das in der fremden Sprache um einiges aufregender an, denn zu dem strengen Unterton gesellt sich ein melodischer Akzent, und dieser Mix jagt mir regelmäßig einen Schauer über den Rücken. So viel zum Thema konzentriertes Arbeiten.

Ich zucke zusammen, als er mich überraschend anspricht: »Mittagspause, Signorina Jennings.«

Zu meiner Erleichterung geht er daraufhin hinaus. Ich stehe auf und strecke meine schmerzenden Glieder. Offenbar ist es mir gestattet, meinen Arbeitsplatz zu verlassen. Allerdings fürchte ich, dass ich nie wieder zurückfinde, wenn ich mich in das Labyrinth hinter dem Blue Parrot wage. Unsicher betrachte ich die Bürotür, die mein Mandant sperrangelweit offengelassen hat.

»Setzen Sie sich doch zu mir!«, ruft die Sekretärin.

Oje. Dass Herrn Silvers’ Angestellte wahrscheinlich nicht gut auf mich zu sprechen sind, weil sie gestern Stress mit ihrem Chef bekommen haben, hatte ich ganz verdrängt. Dennoch wage ich mich in das Vorzimmer, wo mich die Sekretärin unerwartet freundlich anlächelt.

»Möchten Sie etwas aus der Küche des Blue Parrot? Sie schicken uns was hoch, ich muss nur Bescheid geben.«

Ich schüttle den Kopf. Allein bei der Vorstellung, dass Tosh Silvers mich dabei überrascht, wie ich in seinem Vorzimmer Spaghetti auf eine Gabel drehe, lässt meinen Magen rumoren.

»Ach, ihr jungen Dinger, immer auf Diät. Aber einen Cappuccino trinken Sie doch mit, oder?«

»Ja, gerne«, sage ich, und nachdem sie die Bestellung telefonisch durchgegeben hat, spreche ich an, was mir auf der Seele liegt: »Hören Sie, es tut mir leid, dass ich gestern so eine Unruhe …«

»Ach, Kindchen, machen Sie sich deswegen bloß keinen Kopf. Herr Silvers arbeitet so hart, da vergisst er manchmal, dass wir anderen nur Menschen sind, die hin und wieder einen Fehler machen.«

Oje. Die Sekretärin ist ja total vernarrt in ihren Chef. Jetzt tut es mir doppelt leid, dass sie meinetwegen Ärger hatte.

»Sehen Sie nur!« Sie nimmt einen hochwertigen Fotokalender von ihrem Schreibtisch. »Den hat mir Herr Silvers zum Geburtstag geschenkt. Dass er daran gedacht hat. Aber vor allem, dass er wusste, dass Cockerspaniel meine Lieblingshunde sind. Dabei würde ich ihn nie mit meinem Privatleben belästigen. Ist das nicht wunderbar?«

Na ja, ich finde das eher gruselig. Woher wusste ihr Chef das denn mit den Hunden? Aber ich glaube nicht, dass diese Frage ihre Heldenverehrung erschüttern würde, und zum Glück bringt in diesem Moment der Italiener mit der schiefen Nase den Cappuccino. Einträchtig rühren wir in den Tassen.

»Blue Parrot ist eigentlich ein ungewöhnlicher Name für ein italienisches Restaurant«, sage ich und hoffe, das Gespräch so von Silvers abzulenken. Erfolgreich.

»Ah, der Name stammt noch aus der Zeit, als die Amerikaner in München stationiert wurden. Da war immer was los. Im hinteren Teil, in dem heute diese vielen Zimmer sind, gab es einen richtigen Tanzsaal. Bands spielten auf, und so mancher GI verlor sein Herz an ein deutsches Fräulein …«

Die Sekretärin ist eine gute Geschichtenerzählerin, und schnell entsteht das Bild einer aufregenden Nachkriegs- und beginnenden Wirtschaftswunderzeit vor meinen Augen.

»Aber das war längst nicht alles. Im Keller …«, sie senkt verschwörerisch die Stimme, und ich stelle mir automatisch vor, dass dort Sodom und Gomorra herrschte, »… wurde gepokert.«

Wir kichern.

»Non è possibile, Liliane!«, sagt jemand kühl.

Ich zucke zusammen. Verdammt, Silvers sollte eine Glocke um den Hals tragen! Wenn ich wenigstens verstehen würde, wer jetzt schon wieder etwas falsch gemacht hat. Aber die Sekretärin antwortet fröhlich auf Italienisch und zwinkert mir verstohlen zu.

Okay. Kühl ist das neue Freundlich. Muss einem ja nur gesagt werden.

»Lassen Sie sich von Liliane nicht zu so einem Blödsinn verführen«, knurrt Silvers mich an, als wir in sein Büro zurückkehren.

Aha?

»Nur Deutsche trinken Cappuccino nach dem Mittagessen. Kein Italiener nimmt Sie mehr ernst, wenn er das sieht.«

Ich könnte einwenden, dass das mein Mittagessen war, aber ich bin so überrascht, weil Tosh Silvers eine geradezu flapsige Bemerkung macht, dass es mir glatt die Sprache verschlägt. Verwirrt nehme ich wieder vor meinem Computer Platz und hoffe, dass ich nun ein bisschen schneller vorankomme als am Vormittag.

Doch daraus wird nichts, denn es herrscht um einiges mehr Unruhe als in den Stunden vor der Mittagspause. Einige von Herrn Silvers’ Mitarbeitern erscheinen zum Rapport, anders kann man es kaum nennen. Auch diese Unterredungen finden nicht auf Deutsch statt, doch deutlich kann ich aus den Augenwinkeln die Anspannung von Silvers’ Besuchern wahrnehmen. Niemand würdigt mich eines Blickes, keiner setzt sich unaufgefordert, und zu lässigem Small Talk scheint es erst recht nicht zu kommen.

Bevor ich bei Christine anfing, habe ich mich kurz gefragt, ob ich wohl mit der herablassenden Art meiner zukünftigen Chefin umgehen kann. Aber wenn ich mir so ansehe, wie Silvers hier mehr wie ein Lehnsherr, denn wie der Chef einer modernen Unternehmensberatung auftritt, kommt mir Christine plötzlich wie der Gipfel der Kollegialität vor.

Noch ärgerlicher ist, dass mein Herz wie wild zu schlagen beginnt, wenn mein Mandant seine Stimme eine Oktave senkt, und gefährlich ruhig weiterredet. Ein untrügliches Anzeichen seiner Unzufriedenheit, wie es mir scheint. Aber nicht ich bin es ja, die sich seinen Unmut zugezogen hat. Es besteht also eigentlich kein Grund, nervös zu werden. Wahrscheinlich fürchte ich mich einfach vor dem Moment, an dem er merkt, wie langsam ich meine Arbeit erledige, und genauso mit mir reden wird.

Ich straffe die Schultern und beschließe, mich zusammenzureißen. Was mir mehr schlecht als recht gelingt, bis ich letztendlich mit einem »Schluss für heute, Signorina Jennings« entlassen werde.

Na gut. Wenn man mal davon absieht, dass mich Tosh Silvers fast mehr beunruhigt, wenn er mich kaum beachtet, als gestern, als er mich direkt ins Visier genommen hat, finde ich, der erste Arbeitstag lief gar nicht so schlecht.

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