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Kapitel 10

Elendars Reitergruppe erreichte sieben Tage später Attenge, die nördlichste Region von Farreyn. Hier hatte sich eine Rebellengruppe formiert, die sich weiterhin energisch zur Wehr setzte.

Elendar und seine Männer gingen mit einer Brutalität zu Werke, die für die Assaren völlig untypisch war und ihnen weitere schauerliche Mythen einbrachte.

Sie fuhren über die erschrockene Rebellenschar wie eine wütende, alles verschlingende Feuersbrunst und hinterließen nichts als Asche und Rauch. Das Ganze dauerte nicht länger als zwei Wochen. Dann war von dem Aufstand nichts mehr übrig als ein kurzer Bericht in den Geschichtsbüchern.

Kaum waren die Rebellen als vernichtet erklärt, brachen die Assaren auf und ritten wie die Teufel gen Westen, zurück in ihre Heimat. Sie galoppierten durch die Wälder Farreyns, ohne die Schönheit dieser Welt zu sehen, passierten Koruns Grenze und preschten über seine endlosen Weiden. Schließlich wurde der Weg steiniger, steiler und sie erreichten das Hochland. Assanien. Ihre Heimat. Einige von ihnen hatten sie seit dreizehn langen Jahren nicht gesehen.

Nach dem Überfall auf das assarische Dorf vor vielen Jahren waren die meisten Frauen und Kinder getötet oder verschleppt worden. Einige hatten jedoch fliehen können. Sie hatten sich in den Bergen versteckt und auf jene Männer gewartet, die auf dem Schlachtfeld kämpften. Es waren so schrecklich wenige gewesen, die zurück­kehrten. So wenige.

Als die überlebenden Krieger sahen, was aus ihren Familien geworden war, weinten sie bitterlich. Anschließend ergaben sie sich – um der Frauen und Kinder willen, die in Gefangenschaft geraten waren. Jene, die hatten fliehen können, versteckten sich in den Bergen, tauchten unter, um nicht ebenfalls zu Geiseln zu werden. Alexej wusste natürlich darum. Hier aber zeigte er sich großzügig. Er erlaubte ihnen zu leben, solange sie sich nicht bemerkbar machten.

Bei den Kriegern war er weniger barmherzig. Die meisten büßten die Kapitulation mit ihrem Leben ein. Den Rest der Krieger zwang Alexej unter seine Herrschaft. Die Bedingung: unbedingter Gehorsam. Sonst starben die Geiseln.

Somit wurde Elendars kleine Reiterschar eine von vielen, die in Alexejs Auftrag Morde ausführte. Sie alle waren an jene verhasste Bedingung gebunden. Es gab kaum jemanden, der nicht einen gefangenen Verwandten hatte.

Die Assaren durften diese Verwandten jedes Jahr einmal sehen. Bei den freien Assaren in den Bergen sah die Sache leider anders aus. Einige von ihnen hatten sie seit einem Jahrzehnt nicht mehr gesehen.

Aber jetzt, jetzt war es so weit. Elendars Männer durften den Teil ihrer Freunde sehen, die frei in den Bergen lebten.

Es war ein freudiges Ereignis und ein merkwürdiges Gefühl, wieder heimzukehren. Allerdings kam Elendar nicht mit zum Wiedersehen. Er blieb am Fuße des Berges stehen, als seine Männer bereits freudestrahlend den Hang hinaufliefen.

Dort oben erwartete ihn niemand mehr. Bekannte vielleicht, möglicherweise auch gute Freunde, die sich über sein Überleben gefreut hätten. Aus seiner Familie war niemand mehr am Leben.

Efnor bemerkte sein Zurückbleiben und kehrte zu ihm um. »Komm«, sagte er und bot seinem Freund auffordernd die Hand.

Elendar drehte sich schweigend fort. »Ich habe dir noch gar nicht gesagt, was Raell mir über deine Tochter erzählt hat.«

»Was hat er denn gesagt?«

»Sie kümmert sich jetzt um die kleine Tochter von Sabrin.«

Als sich Elendar wieder umdrehte, hatte Efnor Tränen in den Augen. »Es tut mir so leid für dich, Elendar. So leid.«

Dann hastete auch Efnor den Hang hinauf, um seiner Frau das zu erzählen, was er soeben erfahren hatte.


Die Assaren blieben in dem einsamen Bergdorf, solange es ihnen möglich war. Sie prägten sich jede Sekunde dieser glücklichen Zeit in ihre Gedächtnisse ein, um sie in Zeiten tiefster Verzweiflung hervorzuholen. Hoffnung wuchs in ihren Herzen und gab ihnen Kraft, die erneute Trennung zu überstehen.

Das Wetter war mild. Keine Regenwolke trübte den Himmel und die Sonne schickte ungehindert ihre warmen Sonnenstrahlen auf die Erde. Nur der kühle Wind des Hochlandes brachte etwas Kälte mit sich. Efnor lief daher wieder mit seinen tausend Lagen Pelz herum.

Für Elendar war es eine Zeit, in der er sich in Ruhe über seine Gefühle klar werden konnte. Einsam ritt er durch seine alte Heimat, hinüber zum alten Dorf, das vor dreizehn Jahren in den Flammen der Shari aufgegangen war.

Die Umrisse jener Hütte, in der er und seine Familie acht Jahre gelebt hatten, waren kaum zu erkennen. Er brauchte eine Weile, um die Stelle zu finden. Sein Familienheim war jetzt fast vollständig von Unkraut überwuchert. Eine riesige Erle war in der Mitte des Hauses emporgeschossen und überspannte das eingestürzte Dach wie ein zweiter Schutzwall.

Elendar blieb lange dort, ging von Haus zu Haus und erinnerte sich an die glücklichen Tage seiner Jugend. Er schaffte es sogar, nicht an den Überfall zu denken, der sein Leben schließlich zerstört hatte. Statt­dessen konzentrierte er sich einzig und allein auf die schönen Momente.

Er sah sich als Junge, wie er Steine vom Feld sammelte und dabei über diese undankbare Aufgabe schimpfte. Jetzt hätte er alles dafür getan, um diesen Moment erneut erleben zu können. Denn das würde bedeuten, dass auch seine Familie noch am Leben wäre.

Er sah sich, wie er seiner Schwester Caina an den langen Zöpfen zog oder Cloey mit hinunter zum Bach schleppte, um sie dort zu waschen. Sie zappelte und schrie in seinen Armen, denn das Wasser war kalt. Seine Mutter rief ihn zum Abendbrot und die ganze Familie versammelte sich um den alten, von zahlreichen Mahlzeiten ganz fleckig gewordenen Essenstisch.

Sein Vater saß am Ende der Tafel. Die langen Haare reichten ihm bis weit über die Schultern und er hatte sie an den Schläfen zu zwei kleinen Zöpfen geflochten. Sein Bart wurde allmählich grau. Seine Augen glitzerten voll jugendlichem Übermut, sobald er seine Frau ansah. Elendars Mutter war kurz vor dem Überfall rundlich geworden, und Elendar hatte lange Jahre darüber nachgedacht, ob sie schwanger gewesen sein mochte. Dieses Geheimnis hatte sie allerdings mit in ihr Flammengrab genommen.

Schließlich war es Zeit, zu seinen Männern zurückzukehren. Schweren Herzens saß er auf und lenkte sein Pony fort von den alten Zeiten, hinauf in die Zukunft.

Der kleine zähe Wallach schlug einen fröhlichen Trab an und stolzierte mit wehendem Schweif über die Hochebene. Auch er musste spüren, dass er zu Hause angekommen war, obwohl er seine Heimat noch nie in seinem Leben gesehen hatte. Das Moos unter seinen Hufen federte sanft, der Wind wehte in seine Nüstern und spielte mit seiner Mähne. Er war zu Hause und glücklich.

Auch Elendar genoss diesen kurzen Weg hinauf ins neue Dorf. Doch als er es betrat, erdrückte ihn die Last seiner Aufgabe mit einem Mal.

Die neuen Häuser waren fast nach dem Ebenbild der alten, zerstörten Bauten errichtet worden. Strohdächer glänzten in der Sonne wie schimmerndes Gold und das leise Knarren der Holzwände vermischte sich mit dem Duft der Blumen in den liebevoll gepflegten Vorgärten. Fast vor jedem Haus war ein schwarzes Kreuz errichtet worden zum Andenken an getötete oder verschleppte Verwandte.

Neben jedem dieser Kreuze steckte ein Schwert bis zur Hälfte der Klinge in der Erde. Die Toten waren noch nicht gesühnt worden, die Blutschuld offen.

Elendar wurde still von den Dorfbewohnern begrüßt. Man reichte ihm Essen und Trinken und lud ihn zu sich ein, doch er lehnte ab und antwortete sanft: »Holt bitte meine Männer. Wir müssen wieder fort.«

Es dauerte nicht lange, da saßen die Assaren wieder auf ihren Ponys, ausgestattet mit neuen wollenen Umhängen und frischem Reiseproviant. Auch Elendar überreichte man neue Kleidung. Er nahm diese Dinge dankbar an, legte nach fast sieben Jahren seinen alten Mantel ab und ersetzte ihn durch einen neuen.

Erst danach verließen sie das Dorf, winkten zum Abschied und trieben ihre Ponys zu einem raschen Trab, um möglichst schnell ihre Lieben zurückzulassen.

So manch einer kämpfte still mit seinen Tränen, aber niemand machte Anstalten umzukehren. Die Pflicht ihren gefangenen Verwandten gegenüber ließ ihnen keine andere Wahl, als in den Dienst der Shari zurückzukehren.

Bald erreichten sie das riesige Heerlager. Es lagerte an der Grenze zwischen dem Land Korun und ihrer alten Heimat Assanien. Überall dort, wo die Soldaten der Shari ihre Zelte errichtet hatten, war die Erde zu Schlamm aufgewühlt worden. Alles war braun und trist, das Gras schon lange tot.

Genau wie sie das Gras zerstörten, zermalmten sie auch fremde Kulturen.

Der Anführer der Armee hieß Samell Mi. Mit knirschenden Zähnen begrüßte er die Neuankömmlinge und gab ihnen einen Platz am hintersten Ende des Heeres. Sollten die Assaren doch den Staub seiner Männer schlucken.

Samell Mi hasste es, Angst zu haben, und weil er vor den Assaren Angst hatte, hasste er die Assaren. Das war eine ganz einfache Gleichung für ihn, mit der er jahrelang gut gefahren war.

Elendar machte sich nicht die Mühe zu protestieren und führte seine Männer direkt an die ihnen zugewiesene Position. Dann warteten sie gemeinsam, bis sich das schwerfällige Heer in Gang setzte. Sie folgten dem zertrampelten Pfad.

Es war ein langer, kräftezehrender Marsch. Ab und zu ließ der Kommandant haltmachen, um Truppen vorauszuschicken, die die angrenzenden Dörfer überfielen. So kamen sie an das Essen für die vielen Soldaten.

Wenn die Assaren durch die brennenden Dörfer ritten, sahen sie anstatt der lebendigen Bewohner nur Leichen.

Die meisten der Männer schliefen in den Sätteln ihrer Ponys. Ein Nachtlager gab es nicht, höchstens kurze Essenspausen. So war es kaum ein Wunder, dass die riesige Schar schnell vorankam. Fuß­soldaten gab es nämlich nicht.

Elendar machte in all dieser Zeit nicht einmal die Augen zu, sondern hielt stets eine Hand auf den Griff seines Schwertes gelegt. Er misstraute der Ruhe.

»Mir gefällt die Route nicht, die wir einschlagen«, vertraute er irgendwann Efnor an, der neben ihm ritt.

Der alte Assar führte Rais störrische Stute an der Führleine, damit sie ihren schlafenden Reiter nicht unauffällig absetzte.

»Wir nehmen direkten Kurs auf Attenge. Von dort aus werden wir in das Land der Niehren vordringen. Was gefällt dir daran nicht?«

»Wenn wir so weiterreiten, kommen wir direkt an Siranys Dorf vorbei.«

Efnor rechnete nach. In Gedanken verlängerte er den vor ihnen liegenden Weg und kam zum gleichen Schluss. »Verdammt.«

Mit jeder verstreichenden Stunde wurde Elendar nervöser. Der Kommandant machte keine Anstalten, von seiner Route abzuweichen. In spätestens zwei Tagen würden sie Siranys Dorf erreicht haben. Elendar bezweifelte, dass sie diese Menschensiedlung anders behandeln würden als die anderen. Wenn dem so war, befand sich Sirany in unmittelbarer Gefahr.

Seine Sorge übertrug sich auf seinen Wallach, der nach kurzer Zeit übellaunig und schreckhaft war. Unruhig bewegte er sich unter seinem Reiter und kämpfte mit den Zügeln.

Nach einem weiteren Tag entschloss sich Elendar zu handeln. »In der Abenddämmerung breche ich aus der Armee aus und reite voraus.« Nervös spielte er mit den Zügeln in seinen Händen. »Ich warne die Dorfbewohner und komme so schnell wie möglich wieder zurück. Sie haben dann noch ein paar Stunden, um sich zu verstecken.«

Efnor sah ihn entsetzt an.

»Elendar, du kannst dich kaum im Sattel halten. Dein Pony ist erschöpft und einem Gewaltritt nicht gewachsen. Außerdem kommt erschwerend hinzu, dass du gesehen werden könntest. Wenn das passiert, bringen wir alle in Gefahr. Sirany, unseren Trupp und unsere Familien!«

Natürlich hatte Elendar diese Risiken bereits gegeneinander abgewogen und war zu dem Entschluss gekommen, es dennoch zu wagen. Er sah seinen Freund an und blickte ihm tief in die Augen. »Caina und ich waren die einzigen Überlebenden meiner Familie. Jetzt bin ich der letzte. Mich bindet nichts mehr an die Hände der Shari.«

Efnor glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. Solche Worte jemals aus dem Mund seines Anführers zu hören, hätte er niemals erwartet.

»Das Versprechen deinem Volk gegenüber bindet dich.«

»Und ich werde mein Bestes geben, um es einzuhalten.« Elendars Blick wurde flehend, fast verzweifelt. »Versteh mich bitte, wenn ich das Einzige, was mir noch lieb ist, schützen möchte.«

Es war das erste Mal, dass Elendar seinem Freund gegenüber zugab, etwas für Sirany zu empfinden.

»Dann musst du tun, was zu tun ist«, sagte der Assar leise. Elendar dankte ihm still und trieb sein Pony unverzüglich so unauffällig wie möglich an den Rand des Menschenheeres. Nur wenige Minuten später fand man ihn nicht mehr zwischen den Assaren. Er hatte still und heimlich seinen Platz verlassen, ohne je gesehen worden zu sein.

Erst als er sich so weit von den Augen der aufmerksamen Wachen entfernt hatte, dass sie ihn bestimmt nicht mehr erblicken konnten, gab er seinem Pony die Sporen. Das Tier legte seine Ohren widerwillig an und fiel in einen langsamen Galopp. Eine Weile duldete Elendar dieses Tempo, dann erhöhte er es.

Die Reitertruppen, die Samell Mi zur Brandschatzung der Dörfer vorausschickte, waren schnell. Sie saßen auf ausgeruhten und flinken Pferden, die für lange Distanzen gezüchtet worden waren.

Die Gebirgspferde der Assaren fanden ihre Stärken eher in ihrer Ausdauer und Wendigkeit als in ihrer Schnelligkeit. Deshalb trieb Elendar den Wallach rücksichtslos an, bis dieser voller Panik über das kurze Grasland stob.

Keine zwei Stunden später schickte Samell Mi fünfzehn seiner besten Männer los, um sich des Dorfes anzunehmen, das unweit vor ihnen lag. Er kannte es aus einer alten Schlacht und wusste genau, wo es zu finden war.

Elendar brauchte lange, bis er auch nur in Siranys Nähe kam. Der Tag zog dahin und die Sonne versank hinter dem Horizont, doch der Assar hatte keinen Blick für das wunderschöne Lichtspektakel am Himmel. Sein Wallach schnaufte mittlerweile wie ein verendendes Tier, dann ging ein Ruck durch seinen Körper und er blieb mit zitternden Flanken stehen.

Seufzend stieg der Assar ab und führte das Pony in ein nahes Wäldchen, band es dort an einen Baum und ließ es zurück. Der Assar hatte kaum Hoffnung, es später lebend vorzufinden. Wahrscheinlicher war, dass es dort verenden würde.

Jetzt konnte sich Elendar lediglich auf seine eigene Schnelligkeit verlassen. Er begann einen wilden Wettlauf mit den langen Beinen der heraneilenden Reiterschar. Diese war nur eineinhalb Stunden von ihm entfernt.

Die Nacht eilte ihm zu Hilfe, denn in der Dunkelheit verlangsamten die Krieger zur Sicherheit ihrer Pferde das Tempo. Elendar hingegen fand sich auch in der Nacht wie eine Katze zurecht.

Die Angst um Sirany trieb seine Beine zur Höchstleistung an, sein Herz schlug im Rhythmus seines Atems. Er spürte die Nähe der Gefahr und eilte ihr voraus, in der Hoffnung, rechtzeitig anzukommen.

Dann erreichte er völlig entkräftet das Dorf, stolperte zwischen den ihm so vertrauten Häuserzeilen hindurch und erreichte zitternd vor Schwäche Siranys Heim.


Kapitel 11

Sirany wurde davon wach, dass jemand mit unglaublicher Wucht gegen die Tür schlug. Augenblicklich saß sie senkrecht im Bett, sprang auf und jagte die Treppe hinunter.

Ihr Vater hatte die Tür bereits erreicht. Er hatte einen dicken Ast in der Hand, den er nun drohend hob. Mit der anderen Hand drückte er misstrauisch die Klinke hinunter. Seine Tochter trat neugierig neben ihn, die Muskeln gespannt, jederzeit bereit, ihrem Vater zu Hilfe zu eilen.

Wen immer sie vor der Tür auch erwartet haben mochte, Elendar war es gewiss nicht gewesen. Er sah aus wie der leibhaftige Teufel, über und über mit Schlamm bespritzt. Sein mächtiger Brustkorb hob und senkte sich hektisch und sein Atem rasselte hörbar in der Lunge.

Am schlimmsten waren seine Augen, die tief in ihren Höhlen lagen und wie dunkle Schatten ihrer selbst wirkten. Sie erzählten von zu wenig Schlaf und zu viel Anspannung.

Ehe ihr Vater es überhaupt begreifen konnte, flog Sirany bereits an seiner Seite vorbei und fiel dem erleichterten Elendar um den Hals. Elendar zog sie in seine Arme und hielt sie eine Weile eng umschlungen, während er versuchte, zu Atem zu kommen.

»Mein Gott, Elendar, was machst du hier?«, fragte Sirany schließlich und löste sich von ihm.

Er zitterte vor Anstrengung am ganzen Körper und fühlte sich heiß und klamm zugleich.

»Ihr müsst fliehen, sofort«, keuchte er mühsam.

Sirany sah ihn mit großen Augen an.

»Die Shari sind im Anmarsch auf euer Dorf. In spätestens einer Stunde haben sie euch erreicht.« Schweiß rann ihm von der Stirn und er wischte ihn ärgerlich fort. »Weckt die anderen. Ihr müsst euch im Wald verstecken, sonst droht euch der Tod.«

Sirany brauchte nur Sekunden, um das Gehörte zu verstehen. Erschrocken schlug sie sich die Hand vor den Mund und blickte ihren Vater ängstlich an. Der reagierte sofort. »Weck du Mutter, ich gehe zu den Nachbarn.« Kurz wandte er sich Elendar zu. »Was können wir für Euch tun?«

»Nur etwas Wasser bitte.«

Sirany eilte ins Haus und holte ihre Mutter. Anschließend rannte sie in die Küche und brachte dem völlig erschöpften Elendar einen Becher Wasser. Der Assar hatte sich mittlerweile auf den Boden der Veranda gesetzt und versuchte seine zitternden Muskeln zu beruhigen.

Das Dorf erwachte in der Zeit zum Leben, in der Elendar das kühle Nass seine Kehle hinunterstürzte. Sirany beobachtete ihn dabei und ließ sich neben ihn auf die Knie herab. Sie sahen einander lange schweigend an.

Erschrockene Rufe durchdrangen die Nacht. Die Menschen strömten auf die Straße, nur mit wenigen Habseligkeiten beladen. Keiner zweifelte an der Neuigkeit und somit verging nur kurze Zeit, bis die ersten Menschen zum Waldrand eilten.

Elendar schloss für einen Moment die Augen und horchte in die Dunkelheit. Es dauerte nicht lange, da hatte er gefunden, wonach er suchte. Die Reiterei würde gleich das Dorf erreicht haben.

Er war zu spät gekommen, denn Sirany saß noch neben ihm. Sie hatte sich nicht in Sicherheit bringen können.

Wut stieg in ihm hoch, als er seine Augen wieder öffnete und ihre schöne Gestalt erblickte. Sie wirkte so verletzlich und zart. Er würde nicht zulassen, dass ihr etwas geschah.

Entschlossen stand er auf und zog in der gleichen Sekunde das Schwert aus der Scheide. Man mochte seine Schwester getötet haben, aber Sirany würden sie nicht bekommen.

»Was tust du?«, fragte sie mit zitternder Stimme.

In der gleichen Sekunde hallten die ersten Angstschreie durch die Häuserzeilen. Die Reiter hatten das Dorf erreicht.

»Hol den Bogen, den ich dir angefertigt habe, und bring die Leute in Sicherheit. Ich kümmere mich um die Reiter.«

»Du kannst keine zwanzig Mann allein erledigen«, protestierte sie.

»Geh.«

Sirany sah ihn an, zögerte einen Moment. Letztlich trat sie entschlossen vor ihn und gab ihm einen sanften Kuss. Es war nur ein flüchtiger Kuss. Dafür war er umso süßer. Sanft, zärtlich, ein Versprechen. Elendars Lippen schmeckten nach Salz und Wind, sie sprachen von Wärme und Zärtlichkeit. Sie waren wie ein Zuhause.

Sirany riss sich jedoch rasch wieder los. Es war jetzt keine Zeit für Gefühle. Sie huschte ins Haus, holte ihren Bogen und ließ den völlig verwirrten Elendar allein zurück.

Dabei blickte sie nicht einmal zu ihm. Sie wäre sonst womöglich wieder umgekehrt.

Elendar hingegen brauchte einen Moment, fünf Atemzüge, um genau zu sein, um sich von seiner Überraschung zu erholen. Dann wirbelte er herum und sprang die Veranda hinunter.

Sein Schwert glitzerte unheilvoll im Mondlicht.

Die Reiterei fühlte sich überrumpelt. Eigentlich hätten die Menschen schlafen sollen. Stattdessen liefen sie geradewegs Richtung Wald. Was war hier los? Ihr Anführer knurrte ärgerlich und zügelte sein schweißüberströmtes Pferd. Er musste kurz darüber nachdenken, wie es weitergehen sollte.

Er kam nicht weit mit seinen Gedanken, denn just in dieser Sekunde erblickte er eine schwarz gekleidete Gestalt. Es war ein Mann in voller Kriegsmontur. Sein grimmiges Gesicht sah wie eine Maske aus purem Hass aus, und das wilde Haar wehte gespenstig im Wind.

Zehn Schritte von der erstaunten Reiterei entfernt blieb er stehen, rammte mit unbeweglicher Miene sein Schwert in den Boden und zog sich langsam das Hemd aus. Darunter schimmerte bronzene Haut im Lichtglanz des Mondes.

Lediglich mit einer schwarze Hose bekleidet, zog er das Schwert wieder aus der Erde und wog es gelassen in der Hand, während ihn die Shari ungläubig anstarrten.

»Elendar«, flüsterte jemand hinter dem Anführer.

Augenblicklich ging ein Raunen durch die Menge. Doch noch ehe irgendjemand sonst etwas sagen oder tun konnte, ging der Assar vor ihnen in den Angriff über.

Sein wilder Kampfschrei ging in dem Geräusch der gezogenen Stahlklingen unter, wurde sogleich von entsetzten Schmerzenslauten der ersten Sterbenden abgelöst. Pferde wieherten panisch auf, Hufe peitschten die Erde.

Der sonst so still daliegende Rand des Dorfes verwandelte sich in ein Schlachtfeld.


Sirany rannte hinter ihrer Mutter her in Richtung Wald. Aileen hatte ein kleines Kind auf dem Arm, das der Nachbarin. Die hatte mit ihren anderen beiden bereits genug zu schleppen.

Hinter der kleinen Frauenschar erscholl Hufgetrappel. Ein Pferd näherte sich in gestrecktem Galopp, es schnaubte, schnaufte. Sattelzeug knarrte, Eisen klirrte und all diese Geräusche kamen näher und näher. Sie würden die Flüchtenden bald eingeholt haben.

Siranys Gedanken drehten sich im Kreis. Mit einem Mal blieb sie abrupt stehen – und stellte sich der Gefahr, der sie ohnehin nicht entkommen konnte. Da half kein noch so schneller Lauf, und wenn sie nicht etwas unternahm, würden auch die anderen sterben.

Es war ein Shari, genau wie sie vermutet hatte. Er musste Elendars Schwert ausgewichen sein und stattdessen den Fliehenden nachgesetzt haben.

Grimmig zog Sirany einen Pfeil aus ihrem Köcher und legte ihn mit fliegenden Fingern auf dem Bogen an. Nicht zittern, dachte sie. Sei stark. Sei mutig. Sei der Pfeil.

Das war ausgesprochen schwierig. Erst recht, wenn ein Tausend-Pfund-Koloss auf sie zupreschte. Fast war das Pferd heran.

Hinter ihr schrie ihre Mutter, schrien Frauen und Kinder in rasender Panik. »Sirany. Sirany, lauf«, meinte sie zu hören. Sirany verschloss ihre Ohren. Zum Laufen war es nun zu spät. Gerade als sie meinte, die ersten Schweißperlen von Pferd und Reiter abbekommen zu haben, lag der Pfeil richtig auf dem Bogen. Sirany hob ihn, zielte … und ließ das tödliche Geschoss fliegen.

Das Pferd war schon zu nahe, als dass sie den Reiter hätte treffen können. Der Pfeil verfehlte dennoch nicht das Ziel.

Mit einem dumpfen Laut schlug er in der Kehle des Pferdes ein. Fast in der gleichen Sekunde brach das riesige Tier in den Vorderläufen ein und begrub seinen Reiter mit seinem schweren Leib unter sich.

Sirany verlor keine Zeit. Keine Zeit zum Jubel, keine Zeit zum Durchatmen. Sie wirbelte herum und rannte um ihr Leben. Schon hörte sie weiteren Hufschlag hinter sich. Zeit für den nächsten Pfeil. Im Lauf legte sie ihn auf, spannte die Sehne des Bogens, blieb stehen, atmete kurz durch, einmal, zweimal, zielen, zielen, jetzt! Der Pfeil flog – und traf den Reiter. Er stürzte schwer und blieb reglos liegen.

Rückwärtsgehend lud Sirany ihre Waffe und arbeitete sich dabei Stück für Stück Richtung Wald voran. Sie wusste, dass sie verloren war, sollte sie jemals ihr Ziel nicht treffen.

Jetzt war nur noch ein einziger Reiter übrig. Er war schnell und duckte sich tief über den Hals seines Tieres. Sie konnte das Weiß in den Augen des Pferdes sehen, den Schweiß auf seiner Haut riechen.

Als der Pfeil sich von der Sehne löste, spürte Sirany bereits, dass sie zu tief gezielt hatte. Er traf den braunen Hengst und verwundete ihn leicht.

Sirany blieb stehen und legte wie in Trance ihren Bogen zu Boden, wartete auf das Herannahen des Pferdes. Sie sah das Schwert seines Reiters aufblitzen, als dieser es hoch über seinen Kopf hob. Er holte Schwung für den tödlichen Schlag, ließ die Klinge herabsausen.

In dem Moment tauchte Sirany unter dem Schlag hinweg. Elendar hatte ihr vor langer Zeit diesen Trick gezeigt und ihr dabei anvertraut, dass für den Erfolg eine große Portion Glück vonnöten war. Sirany konnte nur beten, dass sie dieses Glück hatte.

Fast geschmeidig zog sie ihr Messer, drehte sich um die eigene Achse und rammte die Klinge mit all ihrer Kraft in den Bauch des Pferdes. Das Tier wieherte schrill und bäumte sich auf. Dann brach es mit einem dumpfen Schlag in sich zusammen.

Die Erde bebte, als es aufschlug. Ärgerlicherweise hatte sich der Reiter rechtzeitig in Sicherheit gebracht. Er rollte sich geschickt ab und sprang auf die Füße. Langsam hob er sein Schwert, schwer atmend, mit wutverzerrter Miene. Sekunden später lächelte er plötzlich, als hätte er sich selbst einen Witz erzählt. Ihm stand eine junge Frau mit einem Messer gegenüber. Einem Messer. Das konnte doch nicht ihr Ernst sein.

Sirany war klar: Einen Zweikampf konnte sie nicht gewinnen. Das wusste sie und das wusste ihr Gegner. Das Messer in ihrer Hand wurde feucht von ihrem Angstschweiß. Sie wich vor dem Shari zurück, ihr Herzschlag hämmerte gemeinsam mit dem bösen Lachen des Kriegers in ihren Ohren.

Sirany hatte keineswegs vor, sich in diesen Nahkampf verwickeln zu lassen. Sie brauchte lediglich etwas Abstand, um besser zielen zu können. Dann wechselte sie blitzschnell den Griff um ihr Messer und schleuderte es mit aller Kraft auf ihren Gegner.

Es traf ihn mit der Klinge voran direkt in der Brust. Ein ungläubiges Keuchen entrang sich seiner Kehle, als der Getroffene begriff, was geschehen war. Augenblicklich verdrehte er die Augen, brach in die Knie und blieb reglos in dem sich rot färbenden Gras liegen.

Sirany blieb wie betäubt im kalten Wind der Nacht stehen. Ihre Glieder zitterten vor Angst. Die Panik kam erst jetzt in ihr hoch und krallte sich in ihre Kehle.

Als sie Schritte hinter sich hörte, drehte sie sich nur langsam in diese Richtung. Im Falle eines Sharis hätte sie ohnehin keinerlei Waffen mehr gehabt, um sich zu wehren.

Stattdessen sah sie Elendar, der müde zu ihr den Hang hinaufkam. Blut klebte auf seiner Haut, in seinen Haaren. Die Klinge seines Schwertes glänzte nicht silbern, sondern rot.

»Mir scheint, du hattest einen guten Lehrer«, sagte er müde.

Sirany löste sich endlich aus ihrer Starre und rannte zu ihm. Er fing sie erleichtert auf und brach zusammen mit ihr auf dem kleinen Hügel in die Knie.

Voller Erleichterung, dass sie noch lebte, legte er den Kopf in den Nacken und blickte zu den schimmernden Sternen hinauf. Inbrünstig dankte er demjenigen, der sie in diesen Sekunden vor dem Tod bewahrt hatte.

Elendar vergrub seine Hand in Siranys dichten Haaren und streichelte ihren Rücken mit der anderen. Sanft küsste er ihre Stirn. Sie zitterte wie Espenlaub und hielt ihn umklammert, als wollte sie ihn nie wieder loslassen. Tränen rannen ihr die Wangen hinunter, tropften auf seine nackte Haut und versickerten dort.

Schließlich drückte Elendar sie von sich fort. Er umfasste ihr schmales Gesicht mit seinen Händen und wischte mit den Daumen die Tränen weg. Dann blickte er ihr tief in die Augen.

»Hör mir jetzt gut zu. Die Gefahr ist nicht vorüber. Bleibt im Wald, versteckt euch so tief in den Wäldern, wie ihr nur könnt. Wenn das Heer hier durchmarschiert und die Toten entdeckt, wird man euch dafür zur Verantwortung ziehen. Um die Leichen zu verstecken, bleibt uns keine Zeit, deshalb können wir nur darauf vertrauen, dass der Heerführer sich nicht weiter mit der Sache beschäftigt.«

Elendars Herz war schwer, als er aufstand und Sirany mit sich zog.

»Pass auf dich auf.«

»Wohin gehst du?«

»Ich muss zurück zum Heer. Wenn ich nicht bald wieder auftauche, wird mein Verschwinden auffallen. Man darf mich nicht mit eurer Warnung in Verbindung bringen, hörst du? Sonst ist mein Volk verloren. Sag das auch deinen Leuten.«

Er blickte Sirany mahnend an, bis sie nickte. Elendar hätte die junge Frau gern geküsst und ermahnte sich selbst. Er war sich nicht sicher, ob er sie sonst jemals wieder loslassen konnte.

Deshalb machte er sich rasch von ihr frei und wollte den Hügel hinabeilen, doch sie hielt ihn mit einer Hand auf.

»Warte.«

Sie strich ihm einige Haarsträhnen zur Seite und betrachtete sein blutiges, zerschundenes Gesicht. Sanft fuhr sie mit dem Zeigefinger über seine Wange und berührte seine Lippen. Er umfasste ihre Hand, beugte sich zu ihr hinunter und küsste sie leidenschaftlich.

Es war nicht so, dass zwei Menschen einander einfach küssten.

Dieser Kuss bedeutete viel mehr, war es ein Kuss zwischen einem Assaren und einer Farreyn. Ein Kuss, der zum ersten Mal diese beiden Völker miteinander verband und zu einer Einheit zusammenschloss.

Es war ein inniger Kuss von Menschen unterschiedlicher Herkunft, die bisher einander mit Missachtung gegenübergestanden hatten und sich plötzlich auf einer gemeinsamen Seite wiederfanden.

Es war ein leidenschaftlicher Kuss voller Hoffnung und Liebe.


Als Sirany den Wald betrat, herrschte um sie herum Stille. Selbst die Bäume schienen den Atem angehalten zu haben und die Nachttiere waren längst vom Lärm der Menschen vertrieben worden.

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9783959913478
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