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Der Gesang des Sturms
Liane Mars

Copyright © 2020 by


Drachenmond Verlag GmbH

Auf der Weide 6

50354 Hürth

http: www.drachenmond.de

E-Mail: info@drachenmond.de

Lektorat: Nina Bellem

Korrektorat: Michaela Retetzki

Layout: Michelle N. Weber

Karte: Heiko Günther

Umschlagdesign: Alexander Kopainaki

Bildmaterial: Shutterstock

ISBN 978-3-95991-347-8

Alle Rechte vorbehalten

Für Heiko

Ohne dich wäre niemals ein Buch von mir erschienen.

Danke für dein Vertrauen.

Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44


Prolog

In einer windgepeitschten Nacht, in der die Sterne unsichtbar hinter schneeverhangenen Wolken verborgen waren und nicht einmal der Lichtstrahl des Mondes die Erde zu erreichen vermochte, wurde Sirany geboren.

Man gab nicht viel um ihr Leben. Sie war viel zu klein, wog kaum so viel wie eine Feder und verhielt sich wie ein zum Tode verurteiltes Baby.

Sie weinte nicht.

Selbst nach mehreren Klapsen auf ihr Hinterteil blieb sie stumm, betrachtete die Welt um sich herum nur aus trüben, fast traurig wirkenden Augen. Als ihre Mutter sie verzweifelt zum Trinken ermuntern wollte, verweigerte sie die Nahrung, drehte das kleine Köpfchen weg und starrte stattdessen aus dem Fenster, als suchte sie etwas.

Am dritten Tage nach ihrer Geburt rechnete ihre Mutter mit ihrem letzten Atemzug. Stunde um Stunde zog sich dahin, ohne dass Sirany die Welt, die sie bislang nur so kurz besucht hatte, wieder verließ.

Am vierten Tage trank sie endlich. Nicht gierig. Gerade so viel, um am Leben zu bleiben und die Kraft zu haben, auch am nächsten Tag ein wenig zu trinken.

Der Priester kam am fünften Tag, um sie für ihren Gott zu weihen. Er kam spät, denn der Schneesturm hatte ihn aufgehalten. Tausendmal entschuldigte er sich, bevor er endlich sein Weihwasser hervor­kramte. Vielleicht half das dem Baby ins Leben.

Siranys Mutter hatte Angst vor diesem Moment. Ihr Mann war sich sicher, dass das Kind gerade so lange hatte leben wollen, um geweiht zu werden. Dann, so der Vater, werde es dieser Welt wieder entschwinden.

Tatsächlich verweigerte das Baby am nächsten Tag die Nahrung. Am darauffolgenden Tag war es dasselbe – bis es wieder so schwächlich war wie bei seiner Geburt.

Vater und Mutter wachten von Stund an vor dem kleinen Bettchen. Der Vater hatte es eigens für ihr allererstes Kind voller Liebe und Vorfreude gezimmert. Während draußen weiterhin der Schneesturm wütete, als wollte er die Welt aus den Angeln heben, verschlechterte sich der Zustand des Kindes zusehends. Mit jeder Böe, die zornig gegen das erst vor Kurzem errichtete Heim peitschte, entrückte das Kind mehr dieser Welt; mit jeder Schneeflocke, die aus den dunklen Wolken zu Boden segelte, verloren die Eltern an Mut – bis zu dem Moment, als der Sturm urplötzlich aufhörte.

Es war nicht so, dass nach und nach keine Flocken mehr zu Boden schwebten oder der Wind abflaute, sondern von einer Sekunde auf die nächste verschwand das Unwetter, als hätte es nie existiert.

In derselben Sekunde, in der die letzte Schneeflocke auf die Veranda fiel, fing das Kind an zu schreien. Es schrie und schrie aus seiner winzigen Lunge, der man derlei Laute gar nicht zugetraut hätte. Die Kraft, die aus diesem Schrei sprach, zeugte von einem unbändigen Überlebenswillen; von einem Geist, der in dieser Welt verbleiben und sich nicht vertreiben lassen wollte.

Von diesem Moment an trank das Baby. Es wurde zunächst nicht so kräftig wie andere Kinder in diesem Alter, doch wurde es zusehends stärker, wuchs und war so gut wie nie krank. Andere Kleinkinder wurden geboren und verließen die Welt wieder. Sirany blieb.

An ihrem fünften Geburtstag zog wieder ein Sturm herauf. Schneeflocken fielen dicht an dicht zu Boden und bedeckten jeden Fleck Erde, den sie erobern konnten. Der wilde Wind fuhr in die Äste und Zweige der Bäume, rüttelte und zerrte an ihnen, bis sie nachgaben und mit einem Knirschen zu Boden fielen.

Am gleichen Tag fielen die Shari über Siranys Welt her, unterwarfen ihr Volk und vernichteten ganze Familien – einfach nur, um ihre neue Herrschaft unter Beweis zu stellen. Das alles geschah so schnell, dass viele erst Wochen später erkannten, was für ein Grauen sie ereilt hatte.

Nur wenige stellten sich den plündernden Scharen der Shari entgegen und das hatte einen ganz bestimmten Grund. Siranys Volk, die Farreyn, bestand zum Großteil aus Bauern, die jeden Tag mit der Natur zu kämpfen hatten. Mit Schwertern einem anderen Volk entgegenzutreten war ihnen neu.

Daher war es nicht verwunderlich, dass der Feldzug der Shari nicht lange andauerte. Innerhalb von drei Wochen hatten sie das magere, unerfahrene Heer des Königs der Farreyn unterworfen, die Adeligen entmachtet und den Thron an sich gerissen. Der König selbst verschwand von der Bildfläche dieser Welt, ermordet in den finsteren Gewölben seiner eigenen Verliese. Allein und unbemerkt.

Statt ihm bestieg der Herr der Shari den Thron, der sich als alleiniger Gott und Herrscher ansah. Wild entschlossen, seine Macht sogleich unter Beweis zu stellen, erließ er Tausende von neuen Gesetzen. Schwindelerregend hohe Steuern wurden erhoben, das Vieh den Bauern entrissen und die Äcker an sharische Adelige verschenkt. Siranys Volk konnte nichts mehr ihr Eigen nennen. Die einzige Ausnahme betraf ihr nacktes Leben – und dieses wollten die wenigsten durch eine Revolte verlieren.

Siranys Eltern taten das, was die anderen ebenfalls machten. Sie zogen die Köpfe ein und hofften, der Sturm möge an ihnen vorüber­gehen. Heerscharen von fremden Soldaten zogen durch ihr kleines Dorf; brandschatzten, mordeten, plünderten. Doch das Haus der kleinen dreiköpfigen Familie blieb unbehelligt.

Mit den Soldaten kamen die Händler, die mit etwas handeln wollten, was niemand kaufen konnte. Es war eine dunkle Zeit, voller Hunger und Verzweiflung.

Sirany betrachtete diese Welt voller Staunen. Sie sah grimmige Soldaten an sich vorüberziehen, genauso hungrig wie sie und voller Hass auf ihr hartes Los. Das Klirren Tausender Waffen wurde zu einem beständigen Gesang, der sie abends in den Schlaf wiegte, während sie sich die zitternden Männer draußen in der Kälte vorstellte.

Sie bedauerte sie, obwohl sie ihr Land überfallen und niedergerungen hatten. Alles, was sie registrierte, waren die erschöpften, traurigen und kranken Männer dort draußen, die um ihr Leben kämpften.

Nach den Händlern und Soldaten kehrte endlich etwas Normalität in den Alltag der Unterworfenen zurück. Das Leben war hart, meist knapp an der Grenze zum Verhungern, doch es war erträglich.

Das fremde Volk führte indes nach und nach seine Sitten ein, verbot den Gott der Farreyn, verbrannte ihre Kirchen und führte seine eigene Religion ein. Alexej, König der Shari, durfte nur noch als einziger wahrer Gott angebetet werden. Volksversammlungen wurden schwer bestraft, Feste durften nicht gefeiert werden. Die Toten wurden begraben und nicht mehr verbrannt – und die Kinder bekamen andere Namen.

Nach und nach verlor Siranys Volk seine Identität. Überall dort, wo man sie bewahren wollte, wurde sie ihm mit einer Brutalität genommen, die weitere Versuche sofort im Keim erstickte.

Sirany hieß fortan Saka. Sie wurde in das neue Geburtenregister unter diesem Namen eingetragen, ihre Eltern verzeichnet und als Staats­bürgerin der Shari anerkannt. Allerdings mit dem Vermerk L. Leibeigene.

Ihr Lehnsherr hieß Kamu. Numa Kamu. Er war ein grausamer Mann. Seine Familie hatte in seinem eigenen Land nur einen winzigen Fleck Erde, auf dem sie leben konnten. Während der Streifzüge mit seinem Herrn hatte er sich Ehre erworben und somit eine der größten Ländereien der Farreyn errungen.

Voller Stolz und Pflichtgefühl, seiner Familie weiterhin gut zu dienen, machte er sich ans Regieren. Disziplin und Züchtigungen hatte er von der Pike auf gelernt. Seine harte Erziehung übertrug er nun auf seine Untergebenen durch strenge Gesetze und noch härtere Strafen bei Verstößen.

Dieses Verhalten allein trug ihm nicht seinen Spitznamen ein, mit dem er Jahre später in den Geschichtsbüchern erscheinen sollte.

Er war Numa Kamu der Unersättliche. Sonst lasterfrei, von seiner angeborenen Grausamkeit einmal abgesehen, konnte er nicht von den Frauen lassen.

Die jungen hatten es ihm angetan. Die jungen, hübschen und unerfahrenen. Sie durften nicht viel Speck auf den Hüften haben, was ihn zu dem Wahn veranlasste, seine Untergebenen hungern zu lassen.

Wer sich verweigerte, wurde genommen.

Von nun an lebten Siranys Eltern in der ständigen Angst, der verrückte Lehnsherr könne auf ihre kleine Tochter aufmerksam werden. Kinder ließ der Mann in Ruhe, doch sobald sie ein gewisses Alter erreicht hatten und seinen Anforderungen entsprachen, waren sie nicht mehr vor ihm sicher.

Zu ihrem Leid entwickelte sich Sirany zu einer ansehnlichen jungen Frau. Der Babyspeck verschwand ebenso wie die ungelenken Bewegungen. Sie hielt sich aufrechter als so manch andere, blickte mit neugierigen, von dichten, langen schwarzen Wimpern umrahmten Augen in eine ihr fremde Welt.

Aus den Härchen eines Neugeborenen wurden schwarze, lange Haare, die ihr wie ein dunkler Fluss den Rücken hinunterrannen. Meist wurden sie zu einem dicken Zopf geflochten und streng hochgesteckt, um weniger Aufmerksamkeit zu erregen.

Ihre grünen Augen konnte man schlecht verstecken. Ebenso wenig wie ihr anziehendes Lächeln, das ihr gesamtes Gesicht erstrahlen ließ, als sei die Sonne gerade in ihr aufgegangen.

Nein, Sirany konnte man nicht übersehen.

Und gerade wegen ihrer zierlichen Gestalt und der unschuldigen Aura, die sie umgab, passte sie genau in das Beuteschema des Lehnsherrn.


Viele Jahre zogen vorüber. Die Zeiten wandelten sich, genau wie die Stimmung im Volk.

Als Sirany gerade fünfzehn Jahre alt geworden war, ging eine fast unerklärliche Unruhe durch die unterdrückten Farreyn. Sie witterten die Freiheit, die der Frühling wie jedes Jahr versprach.

Dieses Jahr jedoch waren sie bereit, für ihre Unabhängigkeit zu kämpfen.

Tage später wurde der gerade eingekehrte Friede wieder jäh von Schwerterklirren durchbrochen. Notdürftig zusammengezimmerte Klingen trafen auf die scharf gewetzten Schwerter erfahrener Soldaten. Die Bauern kämpften mit dem Mut der Verzweiflung – mit einer Tapferkeit, die sie vor fünfzehn Jahren nicht hatten aufbringen können. Genau wie es vor so vielen Jahren bereits abzusehen war, konnte der Sieg der Freiheit nicht errungen werden.

Immerhin brachten die Bauern aus Siranys Volk den fremden Soldaten so viele Verluste bei, dass der König begann, sich Sorgen zu machen. Er hatte nicht mit einem Aufstand gerechnet, nicht von einem Volk voller Bauern, und schon gar nicht hatte er sich auf die grimmige Miliz vorbereitet, die sich innerhalb eines Monats formierte und nun sogar mit Taktik gegen den Feind vorrückte.

Der König war kein dummer Mann und auf der Nase ließ er sich nicht herumtanzen. Er hatte einen Trumpf im Ärmel, den er nun hervorzog.

Keine zwei Tage später hielten die Assaren Einzug in das von Krieg gebeutelte Land. Ein jeder dieser Krieger war in der Lage, gegen ein halbes Dutzend Bauern zu kämpfen und zu gewinnen.

Man sagte ihnen schnell Magie nach, denn sie kamen wie der Tod, leise, fast unbemerkt und ebenso effektiv. Wer mit der Klinge dieser Männer Bekanntschaft gemacht hatte, konnte später nicht mehr darüber erzählen.

Sie waren Schatten in Siranys Land. Schatten, die töteten, wenn sie hervortraten, und leise wieder verschwanden.

Niemand wusste etwas über dieses Volk, aber es war da und es schlug die Revolte so schnell nieder, wie sie gekommen war.


Als wieder Ruhe einkehrte, nahmen die überlebenden Bürger an, mit dem Krieg hätten auch die Assaren das Land verlassen. Die Einzige, die vom Gegenteil überzeugt war, war Sirany. Das hatte einen ganz bestimmten Grund. Sirany hatte die Assaren gesehen und als solche erkannt. Sie wusste, dass sie weiterhin da waren.

Vor einigen Wochen waren die Assaren durch ihr Dorf geritten. Keiner der Dorfbewohner hatte bemerkt, wen er dort vor sich hatte, und nur Sirany ahnte, was die wahre Identität der unauffälligen Männer war.

In ihre dicken, dreckigen Umhänge gehüllt, die Köpfe gesenkt und die Ponys struppig und mager, hatten sie nicht viel anders ausgesehen als jede andere Reitergruppe. Sirany jedoch hatte gespürt, dass dem nicht so war. Neugierig war sie den fremden Männern ein Stück des Weges gefolgt und hatte beobachtet, wie sie in den Tiefen des angrenzenden Waldes ihr Lager aufbauten und dort fortan blieben.

Sirany war fasziniert von ihnen. So düster sie nach außen hin erschienen, wirkten sie dennoch nicht wie die Mörder, von denen man ihr erzählt hatte. Sie sahen eher wie eine von Kummer und Pein erdrückte Gruppe besiegter Soldaten aus. Dieses Bild setzte sich in Siranys Kopf fest und führte dazu, dass sie die Assaren eher mit großer Neugierde denn mit Furcht betrachtete.

Ihre Faszination für dieses Volk wuchs sogar, als sie Wochen später feststellte, dass sich die Anzahl der Männer reduziert hatte. Zwei von ihnen waren gestorben, wie sie nach Auffinden zweier Grabstellen feststellte. Die geheimnisvollen Krieger waren keineswegs so unsterblich, wie das Gerücht verbreitete.

Ganz entgegen der Sitte der Shari mussten sie die Toten erst verbrannt und danach die Asche in einem kleinen Hügelgrab beigesetzt haben. Das erkannte Sirany schon allein an der Größe der Gräber. Es waren Urnengräber, die vom König der Shari verboten worden waren. Fast liebevoll waren einige wenige Blumen gepflanzt und zwei Schwerter in die Erde gesteckt worden. Vermutlich ein Zeichen für einen Brauch, den Sirany nicht kannte. Die Schrift auf den scharfen Klingen konnte Sirany nicht entziffern, geschwungene Runen wie gemalte Bilder, mystisch und geheimnisvoll.

Fast wie ein Zwang, den sie nicht unterdrücken konnte, legte auch Sirany eine kleine Handvoll Blumen auf die Gräber, ging fort und kam zwei Tage später, um die verwelkten Pflanzen voll schlechten Gewissens wieder fortzunehmen.

Hätte man sie dabei beobachtet, wie sie dem Feind die letzte Ehre erwies, so hätte ihr Volk sie des Verrats bezichtigt. Doch im Tode waren nach Siranys Ansicht alle gleich – und ein paar Blumen als Ehrerbietung würden schon niemanden in Schwierigkeiten bringen.

Eines, das wusste sie genau, war ihr verboten. Niemals, zu keiner Zeit durfte sie den Männern helfen. Viele ihrer Landsleute hatten durch ihre Hände den Tod gefunden. Sie hatten verhindert, dass ihr Volk seine Freiheit erlangte. Ein guter Grund, um die Assaren als Feinde zu bezeichnen.

Ihren Schwur musste sie ein halbes Jahr später gründlich überdenken, nachdem sie Blutspuren im Wald gefunden hatte.

Erst dachte sie, es wäre das Blut eines Tieres. Sie folgte der Spur in der Hoffnung auf leichte Beute, denn auch ein Farreyn-Mädchen konnte durchaus jagen, musste aber bald ihren Irrtum einsehen. Anstatt auf ein verwundetes Reh zu stoßen, führte sie die Fährte geradewegs auf das Lager der fremden Männer zu.

Der Grund für das Blut auf dem Boden war nicht schwer zu ergründen. Einer von ihnen musste verletzt sein, blutete so stark, dass man der Spur ohne Probleme folgen konnte. Das war nicht ihre Angelegenheit – und somit machte Sirany rasch wieder kehrt und lief ins Dorf zurück.

Zwei Tage später erwischte sie sich dabei, wie sie einen Korb mit Verbänden, Nähzeug und fieberstillenden Mitteln auf eines der Gräber stellte, in der stillen Hoffnung, er möge gefunden werden.

Sirany hätte nicht sagen können, warum sie dies tat. Sie tat es einfach und wie sich später herausstellte, hätte sie nichts Besseres tun können.


Kapitel 1

Es zieht ein Sturm auf.« Siranys Mutter Aileen warf einen besorgten Blick gen Himmel, während sie ihre einzige Tochter nach draußen begleitete. »Glaubst du, du schaffst es bis zum Müller?«

Auch Sirany prüfte das Wetter mit einem Blick, sah die dunklen, schneeverhangenen Wolken drohend über ihrem Kopf aufragen. Obwohl der Frühling bereits Einzug in das Land gehalten hatte, rang ihm der Winter noch diese eine Woche ab.

Kälte würgte Mensch und Tier, drang in jeden Knochen und ließ die bereits vorsichtig emporgesprossenen Blumen erfrieren. Eine dicke Schneeschicht lag auf dem kalten Erdboden, als hätte es den Frühling nie gegeben.

»Der Sturm ist nicht das Problem. Der Schnee ist übel«, erwiderte Sirany.

Rasch gab sie ihrer Mutter einen letzten Kuss auf die Wange und sprang von der Veranda hinab in den Schnee. Sie versank bis weit über die Knöchel, hörte das ihr so vertraute knirschende Geräusch zusammengedrückten Schnees.

Fröstelnd zog sie den Umhang um ihre mageren Schultern und ging vorwärts. Es war nicht weit bis zur Mühle des Müllers, doch der Weg war gefährlich. Unweigerlich musste man gleich zwei Wachtposten passieren und die überprüften jeden sehr genau, stets auf der Suche nach jungen, hübschen Frauen.

Sirany war dieses Spiel bereits so gewohnt, dass sie nicht weiter darüber nachdachte. Mit geübtem Griff zog sie sich die Kapuze weit über die Augen, krümmte sich und wirkte daraufhin wie eine alte, zermürbte Frau.

Um kein unnötiges Risiko einzugehen, schlug sie den Weg entlang des Flusses ein. Der führte am äußeren Rand des kleinen Dorfes vorüber. Normalerweise waren hier keine Soldaten anzutreffen, aber so genau wusste man das nie.

Da sie nur auf ihre Füße starrte und nicht den Blick hob, um vorauszuschauen, übersah sie den jungen Mann in Uniform. Er hatte unerlaubt seine Truppe verlassen, um sich hinter einem Busch heimlich eine der verbotenen Zigaretten anzuzünden.

Als er das junge Mädchen näher kommen sah, warf er hastig seinen Verrat in den Schnee, straffte sich und blickte der Gestalt entgegen. Er war jung, unerfahren und wollte sich dringend beweisen. Zudem genoss er das Gefühl der Macht, das mit seiner Uniform einherging. Die Chance, seine Überlegenheit einmal völlig allein auszukosten, ließ er sich daher nicht entgehen.

»Anhalten«, brüllte er so autoritär wie er es vermochte und damit erheblich lauter als nötig.

Augenblicklich erstarrte Sirany in ihrem Schritt. Vorsichtig hob sie den Kopf, um einen Blick auf ihr Gegenüber zu erhaschen. Als sie die Soldatenuniform erkannte, übersprang ihr Herz glatt einen Schlag. Dann wummerte es in ihrer Brust wie eine durchgehende Pferdeherde.

»Was machst du hier?«, bellte der Mann in einem Ton, der sie bis in die Knochen erzittern ließ. »Warum gehst du hier entlang? Das ist verboten.«

Natürlich war das verboten. Aber bisher hatte sie niemand erwischt.

Sirany machte einen unschlüssigen Schritt zurück und überlegte, ob sie die Zeit hatte, sich umzudrehen und die Flucht in das Dorf zu wagen. Möglicherweise konnte sie sich dort verstecken.

Der Soldat stand jedoch zu nahe, hatte sie sogar bereits am Umhang gepackt. Sekunden später riss er ihr die Kapuze vom Kopf und starrte sie verdutzt an.

Über die Jahre hinweg hatten sie und ihre Eltern es zu vermeiden gewusst, Sirany in der Öffentlichkeit zu zeigen. Stets war sie den unauffälligsten Weg gegangen, stets den Soldaten ausgewichen. Nun war das eingetreten, vor dem sie sich am meisten gefürchtet hatte.

Auch dem Soldaten dämmerte, was er da vor sich hatte. Eine Trophäe, eine Seltenheit in diesem Bezirk. Sein Lehnsherr würde sich als sehr dankbar erweisen, wenn er ihm dieses Juwel zuführte.

Sirany las in seinen Augen, was er dachte; er versäumte es, in den ihren zu lesen. Mit der Kraft der Verzweiflung schlug sie ihm die Faust ins Gesicht, riss sich los und sprang an ihm vorbei.

Ein trainierter Soldat war bestimmt auf offenem Feld schneller als sie, daher rannte sie nicht zurück ins Dorf, sondern auf den Fluss zu. Dahinter erstreckte sich unbeweglich der schneeverhangene Wald, sprach von Sicherheit und Geborgenheit – wenn sie ihn denn erreichen konnte.

Der Schlag ins Gesicht hatte den Soldaten nur überrascht und nicht verletzt. Nun wirbelte er mit einem wütenden Schrei herum und sprang ihr hinterher, bekam einen Zipfel ihres Umhangs zu packen und wollte sie zurückreißen.

Sirany befreite sich im letzten Moment von dem störenden Kleidungsstück, stolperte vorwärts und hielt nun direkt auf eine winzige Holzbrücke zu. Im Wald kannte sie sich aus, dort konnte sie auch ihre Wendigkeit zu ihrem Vorteil nutzen. Aber erst einmal musste sie die Baumgrenze erreichen.

Ihr wurde klar, dass sie es nicht schaffen würde, als sie den ersten Fuß auf die alte Holzbrücke setzte. Der junge Mann, mit längeren Beinen und größerer Schnelligkeit ausgestattet als sie, hatte sie erreicht, noch bevor sie über die Hälfte der Planken gehuscht war.

Mit einem Triumphgeheul warf er sich auf sie, packte sie an der Taille und zerrte sie zurück auf das gegenüberliegende Ufer. Sirany schlug wild nach ihm, versuchte ihn zu treten und zu beißen. Er fing spielend leicht ihre Fäuste ab. Gleich darauf versetzte er ihr einen Hieb ins Gesicht, der sie rücklings zu Boden schleuderte.

Er setzte ihr nach, drückte sie mit seinem ganzen Gewicht hinunter und hockte sich rittlings auf sie. Mit einer Hand hielt er ihre beiden Hände fest, presste sie weit über ihrem Kopf in den Schnee, während er mit der anderen ihren Hals umklammerte und anfing, sie zu würgen.

Augenblicklich erlahmte Siranys Gegenwehr. Sie hatte dieses tödliche Glitzern schon oft in den Augen junger Soldaten bemerkt, die in ihren kurzen Leben zu viele schlimme Dinge hatten sehen müssen.

Erst als sie sich kaum noch rührte, gab der Mann ihren Hals frei, um sich nun über sie zu beugen und sie breit anzugrinsen.

»Na, mein Täubchen? Was mache ich nun mit dir?«

In seinem Blick sah Sirany, dass es eine rein rhetorische Frage war. Er wusste sehr genau, was er mit ihr machen wollte. Er verlagerte leicht sein Gewicht, drückte nun mit dem Gesäß ihren Bauch in den Schnee, presste sie an den Boden.

Sie hatte ihm nichts entgegenzusetzen. Kalte Angst ergriff sie, während der eisige Schnee jede Ritze ihrer Kleidung eroberte und sich durch ihre Knochen fraß. Gleichzeitig hämmerte ihr Herz, als wollte es zerspringen, steigerte sich sogar, als der Mann mit der freien Hand über ihren Busen glitt.

Sie schrie auf, wand sich unter ihm. Er hielt sie eisern am Boden und erfreute sich an ihrer Panik.

Sie hörte den Fluss plätschern. Keine zwei Fuß neben ihrem Kopf befand sich die kleine Böschung, die hinunter zum kalten Wasser führte. Konnte sie ihn dort hineinstoßen? Über den Rand hinweg?

Sie verwarf diesen Gedanken wieder, als er mit seiner eiskalten Hand über ihre Kleidung huschte, sich einen Weg zu ihren Beinen suchte. In den glitzernden Augen des Soldaten sah sie plötzlich aufkommende Erregung, vermischt mit dem berauschenden Gefühl, jemand anderen in der Gewalt zu haben.

Mit dem Mut der Verzweiflung unternahm Sirany eine letzte Kraftanstrengung, zog die Beine an und trat mit den angewinkelten Knien nach ihm.

Sie traf seinen Rücken. Durch den unverhofften Stoß fiel er nach vorn und lockerte seinen Griff um ihr Handgelenk gerade genug, dass sie sich befreien konnte. Wild schlug sie ihm beide Hände ins Gesicht, drückte ihn von sich fort und versuchte von ihm wegzu­krabbeln, doch er packte sie an den Haaren und riss sie zu ihm zurück.

Auf den Knien hockend kämpften sie weiter verbissen miteinander. Er hatte die Hände in ihren Haaren verkrallt, während sie seine Handgelenke umklammert hielt.

Siranys Kräfte erlahmten und allmählich ahnte sie, dass es für sie keine Fluchtmöglichkeit mehr gab. Sie war ihm hilflos ausgeliefert. Das Einzige, was ihr übrig blieb, war, auf seine Gnade zu hoffen. Auf eine Gnade, die der Mann in seiner Erregung nicht kennen würde.

Doch dann bemerkte sie am Waldrand eine Bewegung. Es war nur ein kurzes Rascheln der Zweige, eine winzige Veränderung unter einem Baum. Sie sah niemanden, spürte aber, dass dort etwas war.

Etwas, was sie beobachtete.

Gerade wollte sie der Soldat wieder in den Würgegriff nehmen, als der Schatten am Waldrand plötzlich Gestalt annahm. Ein Mann trat zwischen den Bäumen hervor, einen Bogen im Anschlag, den Pfeil bereits auf der Sehne. Er zögerte nicht eine Sekunde, zielte kurz und schoss.

Sirany hörte den dumpfen Aufschlag des Pfeils direkt neben ihrem Ohr. Genau dort, wo sich der Hals des Soldaten befinden musste. Es folgte ein wilder Schmerzenslaut, danach ein seltsames Gurgeln.

Anstatt sie endlich freizugeben, krallte sich der Mann an ihr fest, wollte sie selbst in seinem Todeskampf nicht freilassen.

In Panik schlug Sirany erneut nach ihm und sprang aus der Hocke nach vorn, in der Hoffnung, ihm so entkommen zu können. Zu spät fiel ihr ein, dass sich dort die Uferböschung befand – und die führte direkt hinab in den eiskalten Fluss.

Ehe sie es sich versah, rutschte sie haltlos das kurze, steile Stück hinunter. Sekunden später umhüllte sie der eisige Fluss mit seinem kalten Nass, riss sie mit seiner ganzen Kraft vom Ufer fort in seine Mitte, genau dahin, wo der Strom am stärksten war. Normalerweise schlummerte der Dorffluss friedlich vor sich hin, nur nicht zu dieser Jahreszeit. Dann schwoll er zu einer bedrohlichen Sintflut an, riss alles mit sich, was sich in seine Fänge begab.

Genauso verfuhr er nun auch mit Sirany, lähmte sie zuerst mit seiner Kälte und versuchte anschließend, sie in den dunklen Tiefen zu ertränken.


Elendar Assaim hatte es nur gut gemeint. Er wollte das Mädchen retten und nicht umbringen. Wirklich.

Stattdessen musste er nun mit ansehen, wie das Mädchen die Böschung hinunterrutschte und vom wild donnernden Fluss verschluckt wurde. Es tauchte einmal komplett unter, kam prustend wieder zum Vorschein und kämpfte verzweifelt um sein Leben, versuchte panisch das rettende Ufer zu erreichen.

Elendar reagierte sofort. Hastig ließ er Pfeil und Bogen zu Boden fallen und rannte am Ufer entlang, dem von den Fluten davon­getragenen Mädchen hinterher.

Er war von Kind auf stets der Schnellste und Wendigste gewesen, doch dies war eine neue Herausforderung. Der Fluss war reißend, spielte mit der gefangenen jungen Frau, als sei sie nur ein albernes Spielzeug, riss sie mehr und mehr von ihm fort.

Gerade als Elendar aufgeben wollte, sah er ihren Schopf wieder aufblitzen. Sie musste all ihre Kraft zusammengenommen haben, um sich an den Rand des Flusses zu retten. Dort floss das Wasser etwas langsamer – und genau das verschaffte Elendar die Möglichkeit, wieder aufzuschließen.

Sirany indes verkrallte sich mit ihren Händen in einem Stein, drei Schritt vom Uferbereich entfernt. Das Moos war glitschig zwischen ihren Fingern, ihr Halt war mehr als bedenklich. Wütend zerrte der Fluss an ihr und ihren Kleidern, versuchte sie in die tieferen Bereiche seines Reiches zu ziehen. Doch noch gab Sirany nicht auf.

Sie wusste, dass sie sterben würde, wenn sie es nicht bis ans Ufer schaffte. Mit der gleichen Gewissheit wusste sie auch, dass sie nicht sterben wollte. Also kämpfte sie wie nie zuvor in ihrem Leben. Gegen die Kälte, gegen den Sog. Doch langsam, ganz langsam kroch der Tod in ihre Glieder. Die Kälte machte sie taub und gefühllos, ihre Finger gehorchten ihr immer weniger. Sie zwang sich dennoch, nicht loszulassen.

Elendar erblickte sie in der Sekunde, als ihre Kraft sie gerade verließ. Ihre Hand löste sich unaufhaltsam von dem rettenden Stein, Finger für Finger. Dann war da … nichts mehr, nur der unendliche Sog. Der Fluss packte wieder zu und zerrte sie mit sich. Sie ging unter.

Daher sah sie den spektakulären Hechtsprung nicht, den Elendar in dieser Sekunde vollführte.

Der junge Mann warf sich hinein in die Fluten, lang gestreckt, jeder Muskel angespannt. Er wusste: Er hatte nur eine Chance, sie zu packen. Er erwischte einen ihrer Arme, fasste zu und hielt ihren davontreibenden Körper auf.

Mit aller Kraft stemmte er die Beine in den Uferschlamm und lehnte sich gegen die Kraft des Flusses. Das Rauschen des Wassers dröhnte in seinen Ohren. Er schaffte es, sich aufrecht zu halten und die junge Frau zu sich heranzuziehen. Schritt für Schritt schleppte er sich Richtung Ufer, die Fremde mit sich ziehend. Dann endlich erreichte er trockene Erde. Der Sog ließ nach und er konnte sie in seine Arme und aus dem Wasser ziehen.

399
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9783959913478
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