Читать книгу: «Anna Karenina | Krieg und Frieden», страница 57

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15

Sie waren eben erst aus Moskau zurückgekommen und freuten sich der Stille und Einsamkeit auf dem Gute. Er saß in seinem Arbeitszimmer am Schreibtisch und schrieb. Sie ihrerseits saß in jenem dunkellila Kleid, das sie in den ersten Tagen der Ehe getragen und nun einmal wieder angezogen hatte und das ihm besonders denkwürdig und teuer war, auf dem Sofa, jenem altmodischen Ledersofa, das immer, schon zur Zeit von Ljewins Großvater und Vater, in diesem Zimmer gestanden hatte, und stickte an einer Handarbeit. Er überlegte und schrieb und blieb sich dabei unaufhörlich mit innigem Vergnügen ihrer Gegenwart bewußt. Seine Beschäftigung mit der Gutswirtschaft und mit dem Buche, in dem er die Grundlagen eines neuen Systems der Landwirtschaft vortragen wollte, hatte er nicht aufgegeben; aber wie ihm früher diese Tätigkeit und diese Ideen kleinlich und nichtig erschienen waren im Vergleich mit der Finsternis, die sich über das ganze Leben ausbreitet, ebenso unwichtig und kleinlich kamen sie ihm jetzt vor gegenüber dem hellen Glanze des Glücks, der über das ganze ihm noch bevorstehende Leben ausgegossen lag. Er setzte seine Beschäftigungen fort; aber er fühlte jetzt, daß der Schwerpunkt seiner Neigung nun an einer an deren Stelle lag und daß er infolgedessen für die Sache eine ganz andere, klarere Anschauung gewonnen hatte. Früher hatte er sich gleichsam aus dem Leben in diese Tätigkeit hineingerettet. Früher hatte er die Empfindung gehabt, ohne diese Tätigkeit würde sein Leben gar zu trübe und düster sein. Jetzt dagegen war ihm diese Tätigkeit notwendig, damit sein Leben nicht allzu gleichmäßig hell und glanzvoll sei. Als er wieder zu seinen Papieren gegriffen und das Geschriebene noch einmal durchgelesen hatte, da hatte er zu seiner Freude gefunden, daß die Sache es wert sei, daß er sich weiter mit ihr beschäftige. Viele seiner früheren Ideen erschienen ihm als überflüssig und zu weitgehend; aber anderseits bemerkte er auch, während er die ganze Sache in seinem Gedächtnis wieder auffrischte, mancherlei Lücken und wurde sich darüber klar, wie diese auszufüllen seien. Er schrieb jetzt ein neues Kapitel: über die Ursachen der ungünstigen Lage der Landwirtschaft in Rußland. Er wies nach, daß die Armut in Rußland nicht nur von der ungerechten Verteilung des Grundbesitzes und dem falschen Verwaltungssystem herrühre, sondern daß dazu in letzter Zeit auch die dem Lande in naturwidriger Weise aufgepfropfte äußerliche Zivilisation beigetragen habe, namentlich die Verkehrswege, die Eisenbahnen, die eine Zentralisation in den Städten zur Folge hätten, das Steigen des Luxus und infolgedessen zum Schaden der Landwirtschaft die Entwicklung des Fabrikwesens, des Kreditwesens und in notwendigem Zusammenhange damit des Börsenspiels. Er war der Ansicht, daß, wenn sich in einem Lande der nationale Wohlstand in normaler Weise entwickele, alle diese neuen Erscheinungen erst dann einträten, wenn auf die Landwirtschaft bereits ein erheblicher Teil von Arbeit verwandt sei und die Landwirtschaft in wohlgeordnete oder wenigstens geregelte Verhältnisse gelangt sei; daß der Reichtum eines Landes gleichmäßig anwachsen müsse und namentlich so, daß andere Erwerbszweige die Landwirtschaft nicht überflügelten; daß die Verkehrswege mit dem jeweiligen Zustand der Landwirtschaft in Übereinstimmung gehalten werden müßten und daß bei unserer nicht normalen Ausnutzung des Bodens die nicht durch ein ökonomisches, sondern durch das politische Bedürfnis hervorgerufenen Eisenbahnen verfrüht seien und statt, wie man es erwartet habe, die Landwirtschaft zu heben, sie überflügelt und durch Förderung der Entwicklung des Fabrik- und Kreditwesens zum Stillstand gebracht hätten, und daß, ebenso wie die einseitige und vorzeitige Entwicklung eines Organs bei einem lebenden Wesen der allgemeinen Entwicklung hinderlich sein würde, so auch bei der allgemeinen Entwicklung des Wohlstandes in Rußland das Kreditwesen, die Verkehrswege, die Steigerung der Fabriktätigkeit (Dinge, die in Europa, weil dort zeitgemäß, unzweifelhaft notwendig seien) bei uns nur Schaden angerichtet hätten, da dadurch die wichtigste Tagesfrage, die Reform der Landwirtschaft, in den Hintergrund gedrängt worden sei.

Während er an seinem Buche schrieb, dachte sie daran, mit welch einer gezwungenen Höflichkeit sich ihr Mann gegen den jungen Fürsten Tscharski benommen habe, der ihr am Tage vor der Abreise in recht taktloser Weise den Hof gemacht hatte. ›Er ist ja eifersüchtig!‹ dachte sie. ›Mein Gott, wie allerliebst und wie dumm er ist! Eifersüchtig um meinetwillen! Wenn er wüßte, daß mir alle diese Leute genauso gleichgültig sind wie unser Koch Peter‹, dachte sie, indem sie mit einem ihr selbst seltsam vorkommenden Eigentumsgefühl nach seinem Hinterkopf und seinem roten Halse blickte. ›Obwohl es mir leid tut, ihn von seiner Tätigkeit abzulenken (aber mit der hat es ja auch keine Eile!), so möchte ich doch gar zu gern sein Gesicht sehen. Ob er es wohl fühlt, daß ich zu ihm hinschaue? Ich will, daß er sich umdreht ... Ich will es, nun also!‹ Und sie öffnete die Augen recht weit, in dem Wunsche, dadurch die Wirkung ihres Blickes zu verstärken.

»Ja, diese Erwerbszweige ziehen alle Säfte und Kräfte an sich und verleihen dem nationalen Leben einen trügerischen Glanz«, murmelte er vor sich hin, indem er einen Augenblick aufhörte zu schreiben. Dann merkte er, daß Kitty ihn ansah und dabei lächelte; er sah sich um.

»Was gibt es?« fragte er, gleichfalls lächelnd, und stand auf.

›Er hat sich wirklich umgesehen!‹ dachte sie.

»Nichts, ich wollte nur, daß du dich umsehen möchtest«, antwortete sie. Sie blickte ihn dabei an und suchte zu erkennen, ob er darüber ärgerlich sei oder nicht, daß sie ihn gestört hatte.

»Ach, wie wohl wir uns doch fühlen, nun wir beide wieder allein sind! Das heißt, ich meine, ich fühle mich wohl«, sagte er und trat zu ihr; sein ganzes Gesicht strahlte von einem glückseligen Lächeln.

»Ich fühle mich auch so wohl! Ich fahre nirgends mehr hin, am wenigsten nach Moskau.«

»Woran hast du denn eben gedacht?«

»Ich? Ich dachte ... Nein, nein, geh nur und schreib weiter; laß dich nicht stören!« sagte sie, indem sie die Lippen streng zusammenzog. »Ich habe jetzt auch zu tun; ich muß diese Löchelchen ausschneiden, siehst du wohl?«

Sie nahm die Schere und fing an auszuschneiden.

»Nein, sag mir doch, woran du gedacht hast«, bat er, setzte sich zu ihr und verfolgte die kreisförmige Bewegung der kleinen Schere.

»Ach, woran ich gedacht habe? Ich habe an Moskau gedacht, und an deinen Nacken habe ich gedacht.«

»Wodurch habe ich es verdient, daß gerade mir ein solches Glück zugefallen ist? Es ist doch ordentlich unnatürlich. Es ist gar zu schön!« sagte er und küßte ihr die Hand.

»Ich finde im Gegenteil, je schöner es ist, um so natürlicher ist es.«

»Aber da hast du ja ein Zottelchen!« sagte er, behutsam ihren Kopf herumdrehend. »Ein Zottelchen! Sieh mal, hier! Aber nein, nein, wir wollen uns wieder an unsere Arbeit machen.«

Aber die Arbeit wurde trotzdem nicht mehr fortgesetzt, und sie fuhren wie ertappte Sünder auseinander, als Kusma hereinkam, um zu melden, daß der Tee aufgetragen sei.

»Ist der Bote schon aus der Stadt zurück?« fragte ihn Ljewin.

»Diesen Augenblick ist er gekommen; er packt gerade die Sachen aus.«

»Nun, dann komm nur recht bald«, sagte Kitty zu Ljewin, indem sie aus dem Zimmer ging. »Sonst lese ich die Briefe ohne dich. Und dann wollen wir vierhändig spielen.«

Als er allein geblieben war, legte er seine Hefte in die neue Mappe, die Kitty für ihn gekauft hatte, und wusch sich die Hände in dem neuen Waschbecken mit dem neuen eleganten Zubehör; es waren das lauter Dinge, die mit ihr zusammen hier ihren Einzug gehalten hatten. Ljewin lächelte über die vergnügliche Empfindung, die er dabei hatte, und schüttelte mißbilligend über sie den Kopf; es quälte ihn ein Gefühl, das mit Reue einige Ähnlichkeit hatte. Seine jetzige Lebensweise wies eine Art von beschämender Verweichlichung auf, so etwas Kapaunisches, wie er selbst es zu nennen pflegte. ›Das ist nicht die richtige Lebensweise‹, dachte er. ›Es sind nun schon fast drei Monate vergangen, und ich habe so gut wie nichts getan. Heute ist es beinahe das erstemal gewesen, daß ich mich ernsthaft an die Arbeit gemacht habe, und was habe ich geschafft? Kaum daß ich angefangen hatte, habe ich die Arbeit auch schon wieder liegenlassen. Selbst meine gewohnte Tätigkeit – auch die habe ich fast ganz aufgegeben. In der Wirtschaft gehe und reite ich fast gar nicht mehr umher, bald weil es mir zu schwer wird, Kitty zu verlassen, bald weil ich sehe, daß es ihr ohne mich langweilig ist. Und ich hatte mir gedacht, das Leben vor der Verheiratung, das wäre nur so ein halbes Leben, kaum zu rechnen, und nach der Verheiratung, da finge erst das wahre Leben an. Und nun bin ich fast drei Monate verheiratet und habe noch nie die Zeit so müßig und nutzlos verbracht wie jetzt. Nein, so geht das nicht; ich muß wieder anfangen. Selbstverständlich, sie ist nicht schuld daran. Ihr kann ich keinen Vorwurf machen. Ich hätte selbst fester sein müssen, hätte meine Unabhängigkeit als Mann besser wahren sollen. So aber kann es leicht dahin kommen, daß ich sowohl mich selbst wie auch sie an dieses Leben gewöhne. Selbstverständlich, sie ist nicht schuld daran‹, sagte er zu sich selbst.

Aber nur sehr schwer wird sich ein Unzufriedener enthalten, das, womit er unzufrieden ist, einem andern und namentlich dem, der ihm am nächsten steht, zum Vorwurf zu machen. Und auch bei Ljewin bildete sich die unklare Vorstellung, daß zwar nicht eigentlich Kitty selbst daran schuld sei (schuld sein konnte sie überhaupt an nichts), wohl aber ihre allzu oberflächliche, leichtfertige Erziehung. (›Dieser dumme Laffe, der Tscharski! Sie wollte ihn abweisen, das weiß ich sicher, verstand es aber nicht zu machen.‹) ›Ja, außer für den Haushalt (dieses Interesse besitzt sie wirklich) und für ihre Kleidung und für Handarbeiten hat sie keine ernsthaften Interessen. Sie hat kein Interesse für das, was jetzt doch auch ihre eigene Angelegenheit ist, für die Landwirtschaft und die Bauern, kein Interesse für die Musik, in der sie doch Tüchtiges leistet, kein Interesse für Bücher. Sie tut nichts und fühlt sich dabei vollkommen befriedigt.‹ Ljewin mißbilligte in seinem Innern dieses Verhalten und hatte noch kein Verständnis dafür, daß sie sich so auf die Zeit gewaltiger Tätigkeit vorbereitete, die für sie eintreten mußte, wenn es ihr obliegen würde, zu gleicher Zeit die Frau ihres Mannes zu sein, das Hauswesen zu leiten und Kinder zu gebären, zu säugen und zu erziehen. Er begriff nicht, daß sie das instinktiv vorher wußte und sich in der Zeit der Vorbereitung auf diese furchtbare Arbeitsleistung keinen Vorwurf wegen der wenigen Augenblicke der Sorglosigkeit und des Liebesglückes zu machen brauchte, die sie jetzt genoß, während sie sich fröhlich ihr Nest für die Zukunft baute.

16

Als Ljewin hinaufkam, saß seine Frau am Teetisch mit dem neuen silbernen Samowar und dem neuen Teegeschirr und las einen Brief von Dolly, mit der sie in beständigem regem Briefwechsel stand. Der alten Agafja Michailowna hatte sie eine Tasse Tee eingegossen und sie an einem kleinen Tischchen Platz nehmen lassen.

»Sehen Sie nur, hier hat mich die gnädige Frau hergesetzt; sie hat mir befohlen, hier bei ihr im Zimmer zu bleiben«, sagte Agafja Michailowna und blickte freundlich lächelnd nach Kitty hin.

Aus diesen Worten der Alten zog Ljewin einen Schluß auf die Lösung des dramatischen Streites, der sich in der letzten Zeit zwischen Agafja Michailowna und Kitty abgespielt hatte. Er sah daraus, daß Kitty trotz der Kränkung, die die alte Haushälterin dadurch erlitten hatte, daß ihr von der jungen Hausfrau die Zügel der Regierung aus der Hand genommen waren, doch den Sieg über Agafja Michailowna davongetragen und sich deren Liebe errungen hatte.

»Da habe ich auch einen an dich gerichteten Brief geöffnet«, sagte Kitty und reichte ihm einen fehlerhaft geschriebenen Brief hin. »Ich glaube, er ist von der Frau, die bei deinem Bruder ist ...«, sagte sie. »Ich habe ihn nicht durchgelesen. Und da ist einer von meinen Eltern und einer von Dolly. Denke dir nur, Dolly ist mit Grigori und Tanja auf einem Kinderball bei Sarmazkis gewesen; Tanja als Marquise.«

Aber Ljewin hörte nicht zu; er griff errötend nach dem Brief von Marja Nikolajewna, der früheren Geliebten seines Bruders Nikolai, und begann ihn zu lesen. Das war schon der zweite Brief, den er von Marja Nikolajewna empfing. Das erstemal hatte sie geschrieben, sein Bruder habe sie ohne ihr Verschulden weggejagt, und mit rührender Schlichtheit hinzugefügt, sie sei zwar jetzt bettelarm, bäte aber um nichts für sich und wünsche für sich nichts; es quäle sie nur der Gedanke, daß Nikolai Dmitrijewitsch bei seiner schwachen Gesundheit ohne sie zugrunde gehen müsse, und daher bäte sie Ljewin, ihn im Auge zu behalten. Jetzt aber teilte sie etwas anderes mit. Sie hatte Nikolai Dmitrijewitsch wiedergefunden, war in Moskau wieder mit ihm zusammengezogen und mit ihm nach der Gouvernementsstadt gereist, wo er eine Anstellung im Staatsdienst erhalten hatte. Aber dort, schrieb sie, hätte er mit seinem Vorgesetzten einen argen Streit gehabt und die Rückfahrt nach Moskau angetreten; unterwegs jedoch sei er so krank geworden, daß er wohl kaum wieder aufkommen werde. »Er spricht immer von Ihnen, und es ist auch kein Geld mehr da.«

»Lies doch einmal; Dolly schreibt auch etwas über dich ...«, begann Kitty lächelnd, hielt aber plötzlich inne, da sie die Veränderung in dem Gesichtsausdrucke ihres Mannes bemerkte. »Was hast du? Was gibt es?«

»Sie schreibt mir, daß mein Bruder Nikolai im Sterben liegt. Ich muß hinfahren.«

Kittys Gesicht änderte sich plötzlich. Der Gedanke an Tanja als Marquise und an Dolly, alles das war mit einem Male verschwunden.

»Wann fährst du?« fragte sie.

»Morgen.«

»Ich möchte auch mitfahren; darf ich?« bat sie.

»Kitty! Aber was soll das heißen!« erwiderte er in vorwurfsvollem Tone.

»Was das heißen soll?« versetzte sie, gekränkt darüber, daß er ihren Wunsch anscheinend mit Abneigung und Mißfallen aufnahm. »Warum sollte ich denn nicht mitfahren? Ich werde dir dabei nicht lästig sein. Ich ...«

»Ich fahre, weil mein Bruder im Sterben liegt«, antwortete Ljewin. »Was hat es für Zweck, daß du ...«

»Was es für Zweck hat? Denselben wie dein Hinfahren.«

›Auch in einem für mich so ernsten Augenblick denkt sie nur daran, daß sie sich hier allein langweilen würde‹, dachte Ljewin. Und dieser Winkelzug in einer so ernsten Angelegenheit ärgerte ihn.

»Es geht nicht«, antwortete er in scharfem Tone.

Agafja Michailowna, die sah, daß es zu einem Streit kommen werde, stellte ihre Tasse leise hin und ging hinaus. Kitty bemerkte das gar nicht. Der Ton, in dem ihr Mann die letzten Worte gesprochen hatte, verletzte sie besonders deswegen, weil aus ihm deutlich hervorging, daß Ljewin ihr das, was sie gesagt hatte, nicht glaubte.

»Und ich sage dir, wenn du fährst, fahre ich mit; unter allen Umständen fahre ich mit«, versetzte sie hastig und zornig. »Warum soll es nicht gehen? Warum sagst du: es geht nicht?«

»Weil ich Gott weiß wohin fahren muß, vielleicht auf sehr schlechten Wegen, und dann die Gasthäuser ... Du würdest mir hinderlich sein«, antwortete Ljewin, der sich bemühte, ruhig zu bleiben.

»Nicht im geringsten. Ich mache keine Ansprüche. Wo du sein kannst, da kann ich auch sein ...«

»Nun, es geht schon deswegen nicht, weil da diese Frauensperson ist, mit der du nicht in Berührung kommen kannst.«

»Ich weiß von nichts und will gar nicht wissen, wer und was da ist. Ich weiß nur, daß der Bruder meines Mannes im Sterben liegt und mein Mann zu ihm hinfährt, und da fahre ich mit meinem Manne, um ...«

»Kitty, ereifere dich nicht! Aber bedenke nur, die Sache ist so ernst, daß es mir schmerzlich sein muß zu denken, daß du dabei eine solche Schwäche von dir mit ins Spiel bringst, wie es die Abneigung gegen das Alleinbleiben ist. Nun, wenn es dir hier allein zu langweilig ist, so fahre doch nach Moskau.«

»Ja, siehst du, so schiebst du mir immer schlechte, gemeine Gedanken unter; immer machst du es so!« rief sie, indem ihr im Gefühl der erlittenen Kränkung und vor Zorn die Tränen in die Augen traten. »Ich habe keinen andern Grund, ich habe keine solche Schwäche, gar nichts habe ich ... Ich fühle einfach, daß es meine Pflicht ist, mit meinem Manne zusammenzubleiben, wenn er Kummer hat; aber du willst mir absichtlich wehe tun, du willst absichtlich nicht verstehen, daß ...«

»Nein, das ist unerträglich! Da ist man ja geradezu ein Sklave!« rief Ljewin, nicht mehr imstande, seinen Ärger zurückzuhalten, und stand auf. Aber im selben Augenblick fühlte er auch schon, daß er sich selbst schlug.

»Warum hast du denn dann geheiratet? Du hättest ja ein freier Mann bleiben können. Warum hast du geheiratet, wenn du es jetzt bereust?« rief sie, sprang auf und lief in das Wohnzimmer.

Als er ihr dorthin folgte, schluchzte sie herzzerbrechend.

Er begann zu ihr zu reden und bemühte sich, die richtigen Worte zu finden, nicht um sie zu überreden, nur um sie zu beruhigen. Aber sie hörte nicht auf ihn und wollte von nichts wissen. Er beugte sich zu ihr herab und ergriff ihre widerstrebende Hand. Er küßte ihre Hand, küßte ihr Haar und dann wieder ihre Hand – sie schwieg immer noch. Aber als er sie mit beiden Händen um das Gesicht faßte und sagte: »Kitty!«, da kam sie auf einmal zur Besinnung, weinte noch ein Weilchen und versöhnte sich dann wieder mit ihm.

Es wurde beschlossen, daß sie am folgenden Tage beide zusammen fahren sollten. Ljewin hatte zu seiner Frau gesagt, er sei überzeugt, daß sie nur deshalb mitzufahren wünsche, um sich nützlich zu erweisen; er hatte zugegeben, daß die Anwesenheit Marja Nikolajewnas bei seinem Bruder nicht als unanständig zu betrachten sei; aber im Grunde des Herzens war er bei dieser Reise mit Kitty und mit sich selbst unzufrieden. Mit ihr war er deshalb unzufrieden, weil sie sich nicht hatte entschließen können, ihn allein wegzulassen, wo es doch nötig war (und wie sonderbar war es ihm zu denken, daß er vor noch ganz kurzer Zeit nicht gewagt hatte, an das Glück zu glauben, daß sie ihn lieben könne, und sich jetzt unglücklich fühlte, weil sie ihn zu sehr liebte!). Und mit sich selbst war er unzufrieden, weil er keine Charakterfestigkeit bewiesen hatte. Noch weniger war er im Grunde seines Herzens mit seiner Frau darin einverstanden, daß die Anwesenheit jener Frauensperson, die bei seinem Bruder war, sie ja gar nichts angehe, und er dachte mit Schrecken an alle die Zwischenfälle, die dadurch veranlaßt werden konnten. Schon allein der Gedanke, daß seine Frau, seine Kitty, in ein und demselben Zimmer mit einer ehemaligen Dirne sein solle, ließ ihn vor Widerwillen und Entsetzen zusammenzucken.

17

Das Gasthaus der Gouvernementsstadt, in dem Nikolai Ljewin krank lag, war eines jener Provinzhotels, die ursprünglich nach dem modernen, vervollkommneten Zuschnitt mit den besten Absichten in bezug auf Reinlichkeit, Bequemlichkeit und sogar Vornehmheit eingerichtet worden sind, sich aber dann durch das Publikum, das sie besucht, außerordentlich schnell in schmutzige Herbergen, immer noch mit dem trügerischen Firnis moderner Vervollkommnungen, verwandeln und eben durch diesen trügerischen Firnis sich noch übler ausnehmen als die altmodischen Gasthäuser, die einfach schmutzig sind. Dieses Gasthaus war bereits bei diesem Entwicklungszustande angelangt; der alte, verabschiedete Soldat in seiner schmutzigen Uniform, der an der Haustür eine Zigarette rauchte und einen Pförtner vorstellen sollte, und die gußeiserne, durchbrochene, düstere, unerfreuliche Treppe, und der Kellner in schmutzigem Frack mit seinem ungehobelten Wesen, und der Speisesaal mit dem verstaubten Strauß aus Wachsblumen als Tischschmuck, und der Schmutz, der Staub und die überall sichtbare Nachlässigkeit, und dazu noch eine gewisse neumodische, eisenbahnmäßige, selbstzufriedene Geschäftigkeit in diesem Gasthause; all das wirkte auf Ljewin und seine Frau nach dieser ersten Zeit ihres Ehelebens überaus abstoßend, namentlich auch, weil der trügerische Eindruck, den das Gasthaus zunächst machte, ganz und gar nicht zu der Wirklichkeit stimmte, die sie dann vorfanden.

Wie immer, stellte sich nach der Frage, zu welchem Preise sie ein Zimmer wünschten, heraus, daß überhaupt kein einziges ordentliches Zimmer frei war: ein gutes Zimmer hatte ein Eisenbahnrevisor inne, ein anderes ein Rechtsanwalt aus Moskau, ein drittes die Fürstin Astafjewa, die von ihrem Landgut in die Stadt gekommen war. Verfügbar war augenblicklich nur ein einziges, schmutziges Zimmer; man stellte in Aussicht, daß das daneben gelegene zum Abend frei werden würde. Ljewin war recht ärgerlich auf seine Frau, weil eingetroffen war, was er erwartet hatte, nämlich daß er im Augenblick der Ankunft, wo er in höchster Angst und Aufregung um das Befinden seines Bruders war, für Kittys Unterkunft sorgen mußte, statt unverzüglich zu Nikolai hinzueilen; in solcher Stimmung führte er sie in das ihnen angewiesene Zimmer.

»Geh nur, geh nur!« sagte sie und sah ihn mit einem schüchternen, schuldbewußten Blick an.

Er ging schweigend aus der Tür und stieß draußen sofort auf Marja Nikolajewna, die von seiner Ankunft gehört, aber nicht gewagt hatte, zu ihm ins Zimmer hineinzugehen. Sie sah noch ganz ebenso aus, wie er sie in Moskau gesehen hatte: dasselbe wollene Kleid und die nackten Arme und der nackte Hals und dasselbe gutmütig stumpfe, etwas voller gewordene, pockennarbige Gesicht.

»Nun, wie steht es? Wie geht es ihm?«

»Sehr schlecht. Er wird nicht durchkommen. Er hat immer auf Sie gewartet Er ... Sie sind mit Ihrer Frau Gemahlin hier?«

Ljewin begriff im ersten Augenblicke nicht, was sie in solche Verlegenheit versetzte; aber sie klärte ihn sofort darüber auf.

»Ich will fortgehen, ich gehe in die Küche«, sagte sie. »Er wird sich sehr freuen. Er hat viel von ihr gehört und kennt sie und erinnert sich ihrer vom Auslande her.«

Ljewin verstand nun, daß sie sich über seine Frau beunruhigte, und wußte nicht, was er ihr antworten sollte.

»Kommen Sie, wir wollen zu ihm gehen!« sagte er.

Aber kaum hatte er sich in Bewegung gesetzt, als sich die Tür seines Zimmers öffnete und Kitty herausblickte. Ljewin errötete vor Scham und vor Ärger über seine Frau, die sich und ihn in eine so peinliche Lage brachte; aber Marja Nikolajewna errötete noch mehr, so sehr, daß ihr beinahe die Tränen kamen. Sie krümmte sich ganz zusammen, faßte mit beiden Händen die Zipfel ihres Tuches und wickelte sie mit ihren roten Fingern hin und her; sie wußte nicht, was sie sagen und was sie tun sollte.

Im ersten Augenblick sah Ljewin den Ausdruck lebhafter Neugier in dem Blick, mit dem Kitty diese ihr unbegreifliche, furchtbare Frauensperson betrachtete; aber das dauerte nur einen Augenblick.

»Nun, wie steht es? Wie befindet er sich?« wandte sie sich an ihren Mann und dann auch an Marja Nikolajewna.

»Hier auf dem Flur können wir doch nicht darüber reden!« sagte Ljewin und blickte ärgerlich zu einem Herrn hin, der gerade im Schlenderschritt, anscheinend nur mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, den Flur entlangging.

»Nun, dann kommen Sie herein«, sagte Kitty, zu Marja Nikolajewna gewendet, die ihre Fassung wiedergewonnen hatte; aber als sie das betroffene Gesicht ihres Mannes bemerkte, fügte sie hinzu: »Oder geht nur hin und laßt mich dann rufen.« Damit kehrte sie in das Zimmer zurück; Ljewin aber ging zu seinem Bruder.

Was er dort sah und auch was er dort empfand, entsprach in keiner Weise seiner Erwartung. Er hatte erwartet, wieder denselben Zustand der Selbsttäuschung vorzufinden, der, wie er gehört hatte, bei Schwindsüchtigen so oft vorkommt und der sich im Herbste, als sein Bruder ihn besuchte, in so auffälligem Grade gezeigt hatte. Er hatte erwartet, die körperlichen Anzeichen des nahenden Todes zwar noch schärfer ausgeprägt zu finden als damals, eine noch größere Schwäche, eine noch größere Magerkeit, aber doch im ganzen denselben Zustand. Er hatte erwartet, daß er selbst dasselbe Gefühl des Schmerzes über den bevorstehenden Verlust des geliebten Bruders und dasselbe Gefühl des Schreckens vor dem Tode empfinden werde, das er damals empfunden hatte, nur in noch höherem Grade. Darauf hatte er sich gefaßt gemacht; aber er fand etwas ganz anderes.

In einem kleinen, schmutzigen Zimmer, dessen angestrichenes Wandgetäfel arg vollgespuckt war und durch dessen dünne Wand man ein nebenan geführtes Gespräch hören konnte, in einer von dem erstickenden Geruch unsauberer Dinge erfüllten Luft, lag auf einem von der Wand abgerückten Bett ein in eine Decke eingehüllter Körper. Der eine Arm dieses Körpers befand sich oberhalb der Decke, und die gewaltig große, einer Harke ähnliche Hand war in unbegreiflicher Weise an einen dünnen, vom Anfang bis zur Mitte gleich starken, langen Stock befestigt. Der Kopf lag mit der Seite auf dem Kissen. Dem eintretenden Konstantin Ljewin waren die von Schweiß durchtränkten spärlichen Haare an der Schläfe und die von beinah durchsichtiger Haut straff überzogene Stirn sichtbar.

›Es ist unmöglich, daß dieser entsetzliche Körper mein Bruder Nikolai sein soll‹, dachte er. Aber er trat näher heran und erblickte das Gesicht, und nun war kein Zweifel mehr möglich. Trotz der furchtbaren Veränderung, die mit diesem Gesicht vorgegangen war, brauchte Konstantin nur diese lebhaften, zu dem Eintretenden aufschauenden Augen zu sehen und die schwache Bewegung des Mundes unter dem zusammenklebenden Schnurrbart wahrzunehmen, um sich von der entsetzlichen Tatsache zu überzeugen, daß dieser Leichnam sein noch lebender Bruder war.

Die glänzenden Augen blickten den eintretenden Bruder ernst und vorwurfsvoll an. Und durch diesen Blick wurde sofort festgestellt, was jeder der beiden dem andern gegenüber empfand. Konstantin las sofort den Vorwurf in diesem starr auf ihn gerichteten Blick und fühlte eine Art von Beschämung über sein eigenes Glück.

Als Konstantin seine Hand ergriff, lächelte Nikolai. Es war nur ein ganz leises, kaum wahrnehmbares Lächeln, und trotz des Lächelns trat in dem strengen Ausdruck der Augen keine Veränderung ein.

»Du hast wohl nicht erwartet, mich so zu finden«, brachte er mit Anstrengung hervor.

»Ja ... nein«, antwortete Konstantin, der sich in den Worten verwirrte. »Warum hast du mir nur nicht früher Nachricht zukommen lassen, ich meine um die Zeit, wo ich mich verheiratete? Ich habe überall Nachforschungen nach dir angestellt.«

Er mußte reden, nur um nicht zu schweigen; aber er wußte nicht, was er sagen sollte, um so weniger, da sein Bruder nicht antwortete, sondern ihn immer nur mit unverwandten Augen anblickte und offenbar den wahren Sinn eines jeden Wortes zu ergründen suchte. Konstantin teilte ihm mit, daß seine Frau mitgekommen sei. Nikolai drückte seine Freude darüber aus, fügte aber hinzu, er fürchte, sie durch seinen Zustand zu erschrecken. Es trat ein Stillschweigen ein. Auf einmal geriet Nikolai in Bewegung und begann zu sprechen. Nach dem Ausdruck seines Gesichtes hatte Konstantin etwas besonders Bedeutsames, Wichtiges erwartet; aber Nikolai redete nur von seiner Gesundheit. Er schalt auf den Arzt, bedauerte, daß eine gewisse Moskauer Berühmtheit nicht da sei, und Konstantin merkte, daß er immer noch hoffte, wieder gesund zu werden.

Den ersten Augenblick, da Nikolai wieder schwieg, benutzte Konstantin, um aufzustehen; er wollte wenigstens für einen Augenblick diese qualvollen Empfindungen loswerden. Er sagte, er wolle gehen und seine Frau holen.

»Nun schön, und ich will hier erst noch rein machen lassen. Es ist hier schmutzig und schlechte Luft, glaube ich. Marja, räume hier auf«, sagte der Kranke mit Anstrengung. »Und wenn du aufgeräumt hast, dann geh hinaus«, fügte er mit einem fragenden Blick nach seinem Bruder hinzu.

Konstantin antwortete nicht. Als er auf den Flur hinausgetreten war, blieb er stehen. Er hatte gesagt, er wolle seine Frau holen; aber jetzt, wo er sich Rechenschaft gab über die Empfindung, die ihn erfüllte, entschied er sich dafür, ihr im Gegenteil zuzureden, daß sie von einem Besuch bei dem Kranken Abstand nehmen möchte. ›Wozu soll sie dieselbe Qual ausstehen wie ich?‹ dachte er.

»Nun, wie steht es? Wie ist es mit ihm?« fragte Kitty mit ängstlichem Gesichte.

»Ach, es ist furchtbar, ganz furchtbar! Warum bist du nur mit hergekommen?« antwortete Konstantin.

Kitty schwieg einige Sekunden und blickte ihren Mann schüchtern und mitleidig an; dann trat sie zu ihm und faßte mit beiden Händen seinen Ellbogen.

»Konstantin, führe mich zu ihm; zu zweien werden wir es leichter tragen. Führe du mich nur zu ihm hin; bitte, führe mich zu ihm hin, und dann kannst du ja selbst hinausgehen«, bat sie. »Du mußt doch einsehen, daß ich weit schwerer leide, wenn ich nur dich sehe und nicht ihn. Dort werde ich vielleicht dir und ihm nützlich sein können. Bitte, bitte, erlaube es!« flehte sie ihren Mann an, als ob das Glück ihres Lebens davon abhinge.

Konstantin mußte ihr nachgeben; sobald er seine Fassung wiedergewonnen hatte, ging er mit Kitty zu seinem Bruder; Marja Nikolajewna hatte er nun vollständig vergessen.

Leicht auftretend, ihren Mann beständig anblickend und ihm ein tapferes, teilnahmsvolles Gesicht zeigend, ging Kitty in das Zimmer des Kranken und schloß, indem sie sich ohne Hast umwandte, geräuschlos die Tür. Mit unhörbaren Schritten trat sie schnell an das Lager des Kranken heran, und nachdem sie so herumgegangen war, daß er den Kopf nicht zu wenden brauchte, nahm sie sofort seine große, skelettartige Hand in ihre frische, jugendliche, drückte sie und begann mit jener nur den Frauen eigenen teilnahmsvollen, stillen Lebhaftigkeit, die nichts Verletzendes hat, mit ihm zu sprechen.

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9783754188644
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