Читать книгу: «Anna Karenina | Krieg und Frieden», страница 58

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»Wir sind uns schon in Soden begegnet, aber ohne miteinander bekannt zu werden«, sagte sie. »Das haben Sie wohl nicht gedacht, daß ich Ihre Schwägerin werden würde?«

»Sie hätten mich wohl nicht wiedererkannt?« fragte er mit einem hellen Lächeln, das bei ihrem Kommen sein Gesicht überzogen hatte.

»O doch, doch, ich hätte Sie erkannt. Wie lieb von Ihnen, daß Sie uns benachrichtigt haben! Es ging kein Tag vorüber, ohne daß Konstantin an Sie gedacht und sich um Sie beunruhigt hätte.«

Aber die freudige Erregung hielt bei dem Kranken nicht lange an.

Sie hatte noch nicht ausgeredet, da trat auf sein Gesicht wieder der strenge, vorwurfsvolle Ausdruck des Neides, den der Sterbende gegen den Lebenden empfindet.

»Ich fürchte, Sie sind hier nicht gerade sehr gut aufgehoben«, sagte sie, indem sie sich von seinem unverwandten starren Blicke abwandte und sich im Zimmer umsah. »Wir sollten den Wirt um ein anderes Zimmer ersuchen«, sagte sie zu ihrem Mann, »auch schon, um einander näher zu sein.«

18

Konstantin konnte seinen Bruder nicht ruhig ansehen; er brachte es nicht fertig, sich in dessen Gegenwart natürlich und ruhig zu benehmen. Sobald er in das Zimmer des Kranken trat, überzog, ohne daß er es selbst recht merkte, eine Art von Nebel seine Augen und sein Wahrnehmungsvermögen, so daß er die Einzelheiten in dem Zustande seines Bruders nicht bemerkte und nicht erkannte. Er empfand den furchtbaren Geruch und sah den Schmutz und die Unordnung und Nikolais qualvolle Lage und hörte sein Stöhnen und sagte sich, daß es hier keine Hilfe mehr gebe. Es kam ihm gar nicht in den Sinn, alle Einzelheiten in dem Zustand des Kranken festzustellen, darüber nachzudenken, wie dieser Körper dort unter der Decke lag, in welcher gekrümmten Haltung diese ausgemergelten Unterschenkel und Hüften und dieser magere Rücken gelagert seien und ob es nicht irgendwie möglich sei, sie besser zu lagern, etwas zu tun, damit der Kranke, wenn es ihm dadurch auch nicht eigentlich besser ginge, es doch nicht ganz so schlimm habe. Es lief ihm kalt über den Rücken, sobald er an all diese Einzelheiten zu denken anfing. Er war, ohne mehr irgendwie zu zweifeln, davon überzeugt, daß sich weder für die Verlängerung von Nikolais Leben noch für die Linderung seiner Leiden etwas tun lasse. Aber der Kranke spürte es heraus, daß sein Bruder jede Hilfe für unmöglich erachtete, und das machte ihn gereizt. Und Konstantin fühlte, wie der Druck, der auf seinem Herzen lag, dadurch noch schwerer wurde. Es war für ihn eine Qual, in dem Zimmer des Kranken zu sein, und nicht da zu sein eine noch größere. Unter allerlei Vorwänden ging er beständig hinaus und kam dann wieder herein, da er nicht imstande war, allein zu bleiben.

Kitty dagegen dachte, fühlte und handelte ganz anders. Beim Anblick des Kranken hatte sie ein herzliches Mitleid empfunden. Und dieses Mitleid hatte in ihrer Frauenseele durchaus nicht ein Gefühl des Entsetzens und des Ekels hervorgerufen wie bei ihrem Manne, sondern vielmehr ein Bedürfnis zu handeln, sich über alle Einzelheiten seines Zustandes zu unterrichten und ihm zu helfen. Und da sie nun an ihrer Pflicht, zu helfen, nicht den geringsten Zweifel hatte, so zweifelte sie auch nicht an der Möglichkeit der Hilfe und machte sich ungesäumt ans Werk. Dieselben Einzelheiten, die ihren Mann in Schrecken versetzten, wenn er auch nur an sie dachte, wurden sofort ein Gegenstand ihrer eifrigen Aufmerksamkeit. Sie ließ einen Arzt holen, schickte nach der Apotheke, ordnete an, daß das Mädchen, das sie vom Gute mitgebracht hatte, mit Marja Nikolajewna zusammen das Zimmer ausfegen, Staub wischen, die Wäsche waschen sollte; einzelnes wusch und spülte sie auch selbst und legte ihm eine Bettflasche unter die Bettdecke. Auf ihre Anordnung wurde ein anderes Gerät in das Krankenzimmer hereingebracht und wieder entfernt. Sie selbst ging mehrmals nach ihrem Zimmer und holte, ohne sich um die begegnenden Herren zu kümmern, Laken, Bezüge, Handtücher und Hemden.

Der Kellner, der im Speisesaal einigen Ingenieuren das Mittagessen auftrug, kam mehrere Male auf Kittys Klingeln mit ärgerlichem Gesicht herbeigelaufen, konnte aber doch nicht umhin, ihre Weisungen auszuführen, da sie sie mit einer solchen freundlichen Eindringlichkeit erteilte, daß es einfach unmöglich war, anders von ihr loszukommen. Konstantin war mit alledem nicht einverstanden; er glaubte nicht, daß der Kranke davon irgendwelchen Nutzen habe. Am meisten aber fürchtete er, der Kranke könnte ärgerlich werden. Indes war der Arme zwar anscheinend dagegen gleichgültig, ärgerlich jedoch wurde er nicht, sondern er schämte sich nur; und im Grunde hatte er doch ein gewisses Gefühl für das, was Kitty an ihm tat. Als Konstantin vom Arzt zurückkehrte, zu dem Kitty ihn geschickt hatte, und die Tür öffnete, fand er den Kranken gerade in dem Augenblick, wo ihm auf Kittys Anordnung die Wäsche gewechselt wurde. Der lange, weiße, skelettartige Rücken mit den großen, herausragenden Schulterknochen und den hervorstehenden Rippen und Wirbeln war entblößt, und Marja Nikolajewna und der Kellner hatten den Ärmel des Hemdes in falsche Lage gebracht und konnten den langen herabhängenden Arm nicht hineinbekommen. Kitty, die hinter Konstantin eilig die Tür wieder geschlossen hatte, sah nicht hin; aber der Kranke stöhnte auf, und da ging sie rasch zu ihm.

»Ihr müßt schneller machen«, sagte sie.

»Kommen Sie nicht her«, sagte der Kranke ärgerlich, »ich werde schon selbst ...«

»Was sagen Sie?« fragte ihn Marja Nikolajewna.

Aber Kitty hatte ihn verstanden und begriffen, daß er sich schäme und es ihm unangenehm sei, in ihrer Gegenwart nackt zu sein.

»Ich sehe gar nicht hin, ich sehe gar nicht hin!« sagte sie, während sie den Arm, wie es sich gehörte, in den Ärmel hineinbrachte. »Und Sie, Marja Nikolajewna, Sie können nach der anderen Seite herumgehen und es da in Ordnung bringen«, fügte sie hinzu.

»Bitte«, wandte sie sich an ihren Mann, »geh doch einmal nach unserm Zimmer; da steckt in meinem kleinen Reisesack ein Fläschchen, du weißt schon, in der Seitentasche; das bring doch her, bitte; unterdessen soll hier vollends aufgeräumt werden.«

Als Konstantin mit dem Fläschchen zurückkam, fand er den Kranken schon wieder gelagert und alles um ihn herum völlig verändert. An die Stelle des beklemmenden üblen Geruches war der Geruch eines mit Parfüm versetzten Essigs getreten, den Kitty, die Lippen vorstreckend und die roten Backen aufblasend, durch ein Röhrchen im Zimmer umhersprühte. Staub war nirgends mehr sichtbar; unter dem Bett lag ein Teppich. Auf einem Tische standen in guter Ordnung mehrere Fläschchen, eine Wasserkaraffe und Gläser; auch lag dort, zu einem Päckchen zusammengelegt, die nötige reine Wäsche und ferner Kittys Handarbeit. Auf einem andern Tisch am Bett des Kranken stand sein Getränk und eine Kerze, dort lagen auch seine Pulver. Der Kranke selbst, gewaschen und gekämmt, lag auf den rein überzogenen, in die Höhe gestellten Kopfkissen, in einem reinen Hemde mit einem weißen Kragen um den unnatürlich dünnen Hals, und blickte mit einem neuen Ausdruck von Lebenshoffnung zu Kitty hin.

Der Arzt, den Konstantin holen gegangen war, im Klub gefunden und zu kommen veranlaßt hatte, war nicht derselbe, der Nikolai bisher behandelt hatte und mit dem dieser so unzufrieden gewesen war. Der neue Arzt holte sein Röhrchen hervor, behorchte den Kranken, schüttelte mit dem Kopfe und verschrieb eine Arznei; dann setzte er in sehr ausführlicher Weise zuerst auseinander, wie diese einzunehmen sei, und dann, welche Diät beobachtet werden müsse. Er empfahl rohe oder nur ganz wenig gekochte Eier und Selterswasser mit frischer Milch von bestimmter Temperatur. Als der Arzt wieder weggegangen war, sagte der Kranke etwas zu seinem Bruder; aber Konstantin verstand nur die letzten Worte: »deine Katja«; jedoch aus dem Blick, mit dem Nikolai nach ihr hinsah, entnahm Konstantin, daß er sie lobte. Dann rief er auch Katja, wie er sie nannte, zu sich heran.

»Mir ist jetzt schon viel besser«, sagte er. »Ja, wenn Sie mich gepflegt hätten, wäre ich schon längst wieder gesund geworden. Wie gut, daß Sie sich meiner annehmen!« Er ergriff ihre Hand und wollte sie an seine Lippen ziehen. Aber wie wenn er fürchtete, dies könne ihr unangenehm sein, brach er diese Bewegung ab, ließ ihre Hand wieder sinken und streichelte sie nur. Kitty nahm seine Hand in ihre beiden Hände und drückte sie.

»Legt mich jetzt auf die linke Seite herum, und dann geht schlafen«, sagte er.

Niemand hatte deutlich gehört, was er gesagt hatte, nur Kitty hatte erfaßt, was er meinte. Sie hatte es verstanden, weil ihre Gedanken fortwährend darauf gerichtet waren, was er wohl gerade nötig haben möge.

»Er möchte auf die andere Seite gelegt werden«, sagte sie zu ihrem Manne. »Er schläft immer auf der andern Seite. Lege du ihn herum; es ist unangenehm, die Dienerschaft dazu zu rufen. Ich bin dazu nicht stark genug. Können Sie es?« wandte sie sich an Marja Nikolajewna.

»Ich fürchte mich«, antwortete diese.

Eine wie entsetzliche Empfindung es auch für Konstantin war, diesen furchtbaren Körper mit den Armen zu umfassen, unter der Bettdecke die entsetzlich entstellten Körperteile zu berühren, von denen er nichts wissen mochte, so machte er doch, sich der Einwirkung seiner Frau fügend, die entschlossene Miene, die sie an ihm kannte, schob die Arme darunter und faßte zu; aber trotz seiner Körperkraft war er von der Schwere dieser ausgemergelten Glieder überrascht. Während er den Kranken herumdrehte und dabei seinen Hals von dessen gewaltig großer, magerer Hand umfaßt fühlte, wendete Kitty schnell und unhörbar das Kopfkissen um, schüttelte es auf, legte den Kopf des Kranken zurecht und strich ihm die spärlichen Haare in Ordnung, die ihm wieder an der Schläfe festklebten.

Der Kranke hielt die Hand des Bruders in seiner Hand fest. Konstantin merkte, daß Nikolai etwas mit dieser Hand tun wollte und sie irgendwohin zog. Beklommenen Herzens gab er nach. Ja, er zog sie an seinen Mund und küßte sie. Konstantin brach in ein solches Schluchzen aus, daß sein ganzer Leib zuckte, und stürzte, nicht imstande, ein Wort zu sagen, aus dem Zimmer.

19

›Er hat es den Weisen verborgen und den Kindern und Unmündigen geoffenbart‹, dachte Konstantin Ljewin mit Bezug auf seine Frau, als er an diesem Abend mit ihr sprach.

Er dachte an diesen Spruch im Evangelium nicht etwa, weil er sich für einen Weisen gehalten hätte. Für einen Weisen hielt er sich zwar nicht; aber er war doch der bestimmten Überzeugung, daß er klüger sei als seine Frau und als Agafja Michailowna, und er war sich auch bewußt, daß er, sooft er über den Tod nachdachte, dies mit aller Kraft seines Geistes tat. Er wußte auch, daß viele Männer von scharfem Verstande, deren Gedanken über den Tod er gelesen hatte, viel über diesen nachgedacht und dennoch über ihn nicht den hundertsten Teil von dem gewußt hatten, was seine Frau und Agafja Michailowna über ihn wußten. So verschieden auch diese beiden Frauen voneinander waren, Agafja Michailowna und Katja, wie sein Bruder Nikolai sie zu nennen pflegte und wie auch Konstantin sie jetzt besonders gern nannte: in diesem Punkte waren sie einander völlig ähnlich. Beide wußten sie unzweifelhaft, was das Leben war und was der Tod war, und obgleich sie die Fragen, die sich ihm, Konstantin Ljewin, aufdrängten, nicht hätte beantworten können, ja überhaupt nicht verstanden hätten, so hatten sie doch beide keinen Zweifel über das Wesen dieser Erscheinung, des Todes, und hatten über ihn völlig die gleiche Anschauung, nicht nur untereinander, sondern sie teilten diese Auffassung auch mit Millionen von Menschen. Ein Beweis dafür, daß sie mit Bestimmtheit wußten, was der Tod sei, lag darin, daß sie, ohne auch nur eine Sekunde lang im unsichern zu sein, wußten, wie man Sterbende zu behandeln habe, und sich vor ihnen nicht fürchteten. Konstantin Ljewin aber und andere Leute konnten zwar vieles vom Tode sagen, kannten ihn aber offenbar nicht, da sie ihn fürchteten und schlechterdings nicht wußten, wie sie sich Sterbenden gegenüber zu verhalten hätten. Wäre Konstantin jetzt allein bei seinem Bruder Nikolai gewesen, so würde er ihn nur mit Entsetzen angesehen und mit noch größerem Entsetzen auf den Tod gewartet haben; weiter aber hätte er nichts zu tun gewußt.

Ja noch mehr: er wußte nicht einmal, was er sagen, wie er den Sterbenden ansehen, wie er im Zimmer gehen sollte. Von Gegenständen, die dem andern fern lagen, zu reden, das erschien ihm verletzend, das ging unmöglich; und vom Tode und solchen düsteren Dingen zu sprechen, das ging ebensowenig. Zu schweigen war gleichfalls unmöglich. ›Sehe ich ihn an, so wird er, fürchte ich, denken, daß ich sein Aussehen studieren will; sehe ich ihn nicht an, so wird er denken, daß ich andere Gedanken im Kopfe habe; gehe ich auf den Fußspitzen, so wird ihm das nicht recht sein; und mit dem ganzen Fuße aufzutreten scheue ich mich auch.‹ Kitty dagegen dachte offenbar gar nicht an sich selbst und hatte auch keine Zeit dazu; sie dachte an den Kranken, weil sie eben etwas wußte, was Konstantin nicht wußte. Und alles ging ihr gut vonstatten: sie erzählte ihm von sich selbst und von ihrer Hochzeit und lächelte ihm zu und bedauerte ihn und streichelte ihn, sprach von Fällen der Genesung bei der gleichen Krankheit – das ging ihr alles gut vonstatten; folglich wußte sie, was der Tod war. Ein Beweis dafür, daß ihre und Agafja Michailownas Tätigkeit nicht rein triebhaft, vernunftlos war, mußte darin gesehen werden, daß außer der körperlichen Pflege, der Erleichterung der Leiden sowohl Agafja Michailowna wie auch Kitty für einen Sterbenden noch etwas anderes für nötig hielten, etwas Wichtigeres als die körperliche Pflege, etwas, was mit dem ganzen Gebiete des Leiblichen nichts gemein hatte. So hatte Agafja, als sie von jenem verstorbenen alten Knecht sprach, gesagt: »Nun, Gott sei Dank, er hatte das Abendmahl genommen und die Letzte Ölung erhalten; gebe Gott einem jeden einen solchen Tod!« Ganz ebenso hatte Kitty, neben all ihren Sorgen um die Wäsche, um die durchgelegenen Stellen und um das Getränk, gleich an diesem ersten Tage Zeit gefunden, den Kranken von der Notwendigkeit zu überzeugen, daß er das Abendmahl nehme und die Letzte Ölung empfange.

Als sie von dem Kranken für die Nacht in ihre beiden Zimmer zurückgekehrt waren, saß Konstantin mit gesenktem Kopfe da, ohne zu wissen, was er nun tun sollte. Er dachte nicht an das Abendessen, er dachte nicht daran, sich zum Schlafengehen zurechtzumachen, er überlegte nicht, was sie nun weiter tun müßten; ja er war nicht einmal imstande, mit seiner Frau zu reden; er schämte sich. Kitty hingegen war noch geschäftiger und sogar noch lebhafter als sonst gewöhnlich. Sie ließ Abendessen bringen, packte selbst die Sachen aus, half selbst die Betten zurechtmachen, und vergaß nicht, sie mit Insektenpulver zu bestreuen. Es war an ihr jene Erregung und jene Schnelligkeit des Denkens wahrnehmbar, wie sie sich bei Männern vor einer Schlacht, vor einem Kampfe, in gefährlichen, entscheidenden Augenblicken des Lebens einstellen, in jenen Augenblicken, wo der Mann in unzweifelhafter Weise zeigt, daß er etwas wert ist und daß seine ganze Vergangenheit nicht eine nutzlos verbrachte Zeit, sondern eine Vorbereitung auf diese Augenblicke gewesen ist.

Alles ging ihr rasch von der Hand, und es war noch nicht zwölf Uhr, als alle Sachen bereits ausgepackt und sauber und ordentlich zurechtgelegt waren, und zwar in so eigenartiger Weise, daß diese Hotelzimmer mit ihrer eigenen Häuslichkeit, mit den Zimmern, in denen sie sonst waltete, eine gewisse Ähnlichkeit erhalten hatten: die Betten waren bereit, die Bürsten, Kämme und Spiegel zur Hand gelegt, Tücher über die Waschtische gebreitet.

Konstantin hatte die Vorstellung, daß es unverzeihlich sei, jetzt zu essen, schlafen zu gehen, ja selbst zu reden, und fand, daß jede seiner Bewegungen unpassend herauskam. Sie dagegen legte ihre Bürstchen zurecht, machte das aber so, daß für niemand etwas Verletzendes darin liegen konnte.

Zu essen jedoch waren sie beide nicht imstande und konnten, obwohl sie das Schlafengehen noch lange hinausgeschoben hatten, auch dann lange Zeit nicht einschlafen.

»Ich freue mich sehr, daß ich ihn überredet habe, morgen die Letzte Ölung zu empfangen«, sagte sie, während sie in der Nachtjacke vor ihrem zusammenlegbaren Spiegel saß und mit einem dichten Kamm ihr weiches, duftiges Haar auskämmte. »Ich habe das noch nie mit angesehen; aber ich weiß, daß dabei Gebete für die Genesung gesprochen werden; Mama hat es mir gesagt.«

»Meinst du denn wirklich, daß er wieder gesund werden kann?« fragte Konstantin und blickte auf den schmalen Scheitel hinten an ihrem rundlichen Köpfchen, der beständig verschwand, sobald sie den Kamm nach vorn führte.

»Ich habe den Arzt gefragt. Er sagte, er könne höchstens noch drei Tage leben. Aber können denn die Ärzte so etwas wissen? Jedenfalls freue ich mich sehr, daß ich ihn dazu überredet habe«, sagte sie, indem sie unter ihrem Haar hervor mit einem schrägen Blick nach ihrem Manne hinsah. »Möglich ist alles«, fügte sie mit jenem besonderen, ein wenig listigen Ausdruck hinzu, der immer auf ihrem Gesicht erschien, sobald sie von religiösen Dingen sprach.

Nach ihrem Gespräch über Religion, damals als sie noch Braut und Bräutigam waren, hatten weder er noch sie jemals wieder ein Gespräch über diesen Gegenstand herbeigeführt; aber sie erfüllte ihre religiöse Pflicht des Kirchenbesuches und des Betens immer mit dem gleichen ruhigen Bewußtsein, daß dies so sein müsse. Trotz seiner Versicherung des Gegenteils war sie fest davon überzeugt, daß er ein ebenso guter und sogar noch besserer Christ sei als sie selbst und daß alles, was er darüber sage, nur zu den komischen Späßen gehöre, die er und andere Männer so gern machten, gerade wie wenn er zu ihrer Handarbeit bemerkte, vernünftige Leute stopften die Löcher und sie schnitte absichtlich welche hinein, und so weiter.

»Ja, diese Frauensperson, diese Marja Nikolajewna, hat es nicht verstanden, alles ordentlich einzurichten«, sagte Konstantin. »Und ... ich muß gestehen, ich freue mich sehr, sehr freue ich mich, daß du mitgekommen bist. Du bist ein solcher Inbegriff von Reinheit, daß ...« Er ergriff ihre Hand, küßte sie aber nicht (ihre Hand zu küssen bei solcher Nähe des Todes schien ihm unschicklich), sondern drückte sie ihr nur, wobei er ihr mit schuldbewußter Miene in die aufleuchtenden Augen blickte.

»Du hättest gar zuviel Qual ausgestanden, wenn du allein hier gewesen wärest«, sagte sie, hob die Arme, die ihre vor Freude errötenden Wangen verdeckten, wickelte am Hinterkopfe ihre Zöpfe zusammen und steckte sie mit Haarnadeln fest. »Nein«, fuhr sie fort, »das hat sie nicht verstanden ... Ich habe zum Glück viel davon in Soden gelernt.«

»Waren denn da so schwer Kranke?«

»Noch schlimmere.«

»Für mich ist es eine schreckliche Empfindung, daß er mir immer so vor Augen steht, wie er in seiner Jugend war. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was für ein prächtiger junger Mensch er war; aber ich hatte damals für ihn kein Verständnis.«

»Doch, ich kann es mir vorstellen, gewiß kann ich es mir vorstellen. Ich bin überzeugt, er und ich, wir wären gute Freunde geworden«, antwortete sie und blickte, erschrocken über das, was sie gesagt hatte, ihren Mann an, und die Tränen traten ihr in die Augen.

»Ja, es ist anders gekommen«, erwiderte er traurig. »Er ist eben einer von den Menschen, von denen man sagt: sie taugen nicht für diese Welt.«

»Aber es stehen uns noch viele schwere Tage bevor; wir müssen uns schlafen legen«, sagte Kitty nach einem Blick auf ihre winzige Uhr.

20

Am andern Tage nahm der Kranke das Abendmahl und empfing die Letzte Ölung. Während der heiligen Handlung betete Nikolai Ljewin heiß und inbrünstig. Er richtete seine großen Augen unverwandt auf das Heiligenbild, das auf einem mit einem geblümten Tuch bedeckten Spieltische stand, und es lag in ihnen ein so leidenschaftlicher Ausdruck des Flehens und der Hoffnung, daß es für Konstantin schrecklich war, hinzusehen. Er fühlte, daß dieses leidenschaftliche Flehen und Hoffen seinem Bruder den Abschied von diesem Leben, das er so sehr liebte, nur noch schwerer machte. Konstantin kannte seinen Bruder und dessen geistigen Entwicklungsgang; er wußte, daß Nikolais Unglaube nicht daher rührte, daß er es leichter gefunden hätte, ohne Glauben zu leben, sondern daher, daß sein Glaube Schritt für Schritt von den Erklärungen, die die moderne Wissenschaft von den irdischen Erscheinungen gibt, zurückgedrängt worden war, und daher wußte er, daß seine jetzige Rückkehr zum Glauben keine normale war, sich nicht auf dem Wege derselben Denkarbeit vollzog, sondern daß sie nur der Not des Augenblicks, dem Selbsterhaltungstrieb und einer sinnlosen Hoffnung auf Genesung entsprang. Auch wußte Konstantin, daß Kitty durch ihre Erzählungen von Fällen überraschender Genesung, von denen sie gehört habe, diese Hoffnung noch gesteigert hatte. Alles das wußte Konstantin, und es war ihm eine entsetzliche Pein, diesen flehenden, hoffnungsvollen Blick und diese abgemagerte Hand zu sehen, die sich nur mit Anstrengung hob, um auf dieser straff umspannten Stirn, auf diesen vorstehenden Schultern und der hohlen, röchelnden Brust das Zeichen des Kreuzes zu machen, während doch der arme Leib das Leben, um das der Kranke bat, nicht mehr in sich beherbergen konnte. Während der heiligen Handlung tat Konstantin das, was er, der Ungläubige, schon tausendmal getan hatte. Er wandte sich zu Gott und sprach: »Wenn Du lebst und bist, so mache, daß dieser Mensch wieder gesund werde« (diese letzteren Gebetsworte wiederholten sich ja im Laufe der heiligen Handlung oftmals), »und Du wirst ihn und mich retten.«

Nach der Ölung wurde dem Kranken auf einmal viel besser. Er hustete im Laufe einer Stunde kein einziges Mal, lächelte, küßte Kitty die Hand, dankte ihr unter Tränen und sagte, er fühle sich wohl, habe nirgends Schmerzen und verspüre wieder Appetit und neue Kraft. Er richtete sich sogar ohne Beihilfe auf, als ihm seine Suppe gebracht wurde, und bat noch um ein Kotelett. Obgleich sein Zustand völlig hoffnungslos war und man, wenn man den Kranken ansah, nicht zweifeln konnte, daß eine Genesung ausgeschlossen sei, so befanden sich Konstantin und Kitty doch diese Stunde hindurch in einer glücklichen Erregung und zugleich in einer ängstlichen Besorgnis, ob sie sich auch nicht täuschten.

»Geht es ihm besser?« – »Ja, bedeutend besser.« – »Wunderbar!« – »Dabei ist nichts Wunderbares.« – »Nun, jedenfalls geht es ihm besser«, sprachen sie flüsternd untereinander und lächelten einer dem andern zu.

Diese Selbsttäuschung war jedoch nicht von langer Dauer. Der Kranke war ruhig eingeschlafen; aber nach einer halben Stunde weckte ihn ein Hustenanfall auf. Und auf einmal waren alle Hoffnungen wieder verschwunden, sowohl bei seiner Umgebung wie auch bei ihm selbst. Die Schwere des tatsächlichen Leidens vernichtete bei Konstantin und bei Kitty und bei dem Kranken selbst alle bisherigen Hoffnungen, ohne daß auch nur eine Erinnerung daran oder irgendwelcher Zweifel übriggeblieben wäre.

Ohne von der religiösen Tröstung, an die er noch vor einer halben Stunde geglaubt hatte, ein Wort zu sagen, wie wenn er sich schämte, auch nur daran zu denken, verlangte er, es solle ihm Jod zum Einatmen in einem Fläschchen gegeben werden, das mit einem durchlöcherten Papier bedeckt war. Konstantin reichte ihm das Gefäß, und derselbe Blick leidenschaftlicher Hoffnung, mit dem der Kranke die Letzte Ölung empfangen hatte, richtete sich jetzt auf den Bruder und verlangte von ihm eine Wiederholung der Äußerung des Arztes, daß das Einatmen von Jod manchmal geradezu Wunder wirke.

»Ist Kitty nicht hier?« sagte er heiser, nachdem ihm Konstantin mit Widerstreben die Worte des Arztes wiederholt hatte, und sah sich um. »Nein, nun, dann kann ich es ja sagen ... Ich habe die ganze Komödie nur um ihretwillen durchgeführt. Sie ist so lieb und gut; aber du und ich, wir dürfen einander nichts vormachen. Hier, an das hier glaube ich«, sagte er und begann, seine knochige Hand fest um das Fläschchen pressend, aus ihm zu atmen.

Zwischen sieben und acht Uhr abends tranken Konstantin und seine Frau in ihrem Zimmer Tee, als Marja Nikolajewna atemlos zu ihnen hereingestürzt kam. Sie war blaß, und ihre Lippen zitterten. »Er liegt im Sterben!« flüsterte sie. »Ich fürchte, er wird gleich sterben.«

Beide eilten zu ihm. Er hatte sich im Bette etwas aufgerichtet und saß, auf einen Ellbogen gestützt, da; der lange Rücken war zusammengekrümmt, der Kopf hing tief herab.

»Wie fühlst du dich?« fragte Konstantin flüsternd nach kurzem Schweigen.

»Ich fühle, daß ich davon muß«, sagte Nikolai mit Anstrengung, aber ungewöhnlich deutlich, indem er die Worte langsam herauspreßte. Er hob den Kopf nicht in die Höhe, sondern richtete nur die Augen nach oben, ohne aber mit ihnen das Gesicht des Bruders zu erreichen. »Katja, geh hinaus!« fügte er dann noch hinzu.

Konstantin sprang auf und veranlaßte sie, indem er ihr in gebieterischem Ton etwas zuflüsterte, hinauszugehen.

»Ich muß davon«, wiederholte Nikolai.

»Warum meinst du das?« fragte Konstantin, um überhaupt etwas zu sagen.

»Weil ich davon muß«, sagte er noch einmal, wie wenn ihm dieser Ausdruck besonders gefiele. »Es ist zu Ende.«

Marja Nikolajewna trat zu ihm heran.

»Sie sollten sich hinlegen; es ist Ihnen dann leichter«, sagte sie.

»Bald werde ich liegen«, antwortete er leise; »als Leiche«, fügte er spöttisch und ingrimmig hinzu. »Na, dann legt mich hin, wenn ihr das wollt.«

Konstantin legte den Bruder auf den Rücken, setzte sich neben ihn und blickte ihm, kaum zu atmen wagend, ins Gesicht. Der Sterbende lag mit geschlossenen Augen da; aber auf seiner Stirn bewegten sich ab und zu die Muskeln, wie bei jemand, der tief und angestrengt nachdenkt. Unwillkürlich überlegte Konstantin, was wohl jetzt in der Seele des Sterbenden vorgehen möge; aber wie sehr er auch seine Denkkraft anstrengte, um dem Gedankengang seines Bruders zu folgen, so sah er doch am Ausdruck dieses ruhigen, ernsten Gesichtes und am Spiel der Muskeln oberhalb der Brauen, daß dem Sterbenden immer klarer und klarer wurde, was für ihn, Konstantin, noch immer gleich dunkel blieb.

»Ja, ja, so ist es«, sagte der Sterbende langsam und in Absätzen. »Warte einmal.« Wieder schwieg er eine Weile. »So ist es!« fügte er dann in gedehntem Ton, wie beruhigt, hinzu, als ob er nun über alles ins reine gekommen wäre. »O Gott!« sagte er hierauf und seufzte schwer.

Marja Nikolajewna befühlte seine Füße. »Sie werden kalt«, flüsterte sie.

Lange, sehr lange, wie es Konstantin vorkam, lag der Kranke da, ohne sich zu rühren. Aber er lebte immer noch und seufzte von Zeit zu Zeit. Konstantin war von dem angestrengten Denken schon ganz müde. Er fühlte, daß er trotz aller Anspannung seiner Denkkraft nicht imstande war, zu begreifen, was »so« war. Er fühlte, daß er in dieser Gedankenarbeit schon längst hinter dem Sterbenden zurückgeblieben war. Er war jetzt nicht mehr imstande, an die eigentliche Frage nach dem Wesen des Todes zu denken, sondern unwillkürlich kamen ihm Gedanken darüber, was er jetzt, sofort, werde tun müssen: dem Toten die Augen zudrücken, ihn ankleiden, einen Sarg bestellen. Und seltsam: er fühlte sich vollständig kalt und empfand weder Kummer noch das Gefühl eines Verlustes und noch weniger Mitleid mit dem Bruder. Wenn jetzt in seiner Seele ein Gefühl seinem Bruder gegenüber rege war, so war es eher das Gefühl des Neides wegen der Erkenntnis, zu der der Sterbende jetzt gelangt war, während sie ihm selbst noch unzugänglich blieb.

Noch lange saß er so an seinem Bett und wartete immer auf das Ende. Aber das Ende kam noch nicht. Die Tür öffnete sich, und Kitty erschien. Konstantin stand auf, um sie zurückzuhalten. Aber in dem Augenblick, als er aufstand, hörte er, daß der Sterbende sich regte.

»Geh nicht fort«, sagte Nikolai und streckte die Hand aus. Konstantin gab ihm die seinige und winkte seiner Frau ärgerlich zu, sie möchte hinausgehen.

Die Hand des Sterbenden in der seinen haltend, saß er eine halbe Stunde da, eine ganze Stunde, und noch eine Stunde. An den Tod dachte er jetzt überhaupt nicht mehr. Er dachte, was wohl jetzt Kitty tue, wer in dem anstoßenden Zimmer wohne, ob der Arzt ein eigenes Haus habe. Er bekam Lust, etwas zu essen, auch regte sich der Wunsch zu schlafen. Vorsichtig machte er seine Hand frei und befühlte die Füße. Sie waren kalt; aber der Kranke atmete immer noch. Konstantin versuchte wieder, auf den Fußspitzen hinauszugehen; aber der Kranke rührte sich wieder und sagte: »Geh nicht fort.«

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Die Morgendämmerung kam; der Zustand des Kranken war immer noch der gleiche. Konstantin machte ganz leise, ohne den Sterbenden anzublicken, seine Hand frei, ging nach seinem Zimmer und legte sich schlafen. Als er wieder erwachte, erfuhr er, statt der Nachricht vom Tode seines Bruders, die er erwartet hatte, daß der Kranke wieder in den früheren Zustand zurückgekehrt sei. Er setzte sich wieder ab und zu hin, hustete, aß und redete; und er redete nicht mehr vom Tode, sondern sprach wieder die Hoffnung auf Genesung aus und war noch reizbarer und finsterer geworden als vorher. Niemand, weder sein Bruder noch Kitty, vermochte ihn zu beruhigen. Er war auf alle ärgerlich und sagte allen Unangenehmes; allen machte er seine Leiden zum Vorwurf und verlangte, man solle ihm den berühmten Arzt aus Moskau kommen lassen. Auf alle an ihn gerichteten Fragen, wie er sich fühle, antwortete er gleichmäßig mit einem Ausdrucke des Ingrimms und des Vorwurfs: »Ich leide furchtbar, unerträglich!«

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9783754188644
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