Читать книгу: «EINLESEHEFT: Der Literaturexpress», страница 4

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»Ich hätte nicht trinken sollen«, sagte er, als er wieder neben mir Platz genommen hatte. Ich stellte mich schlafend, es interessierte mich nicht, was er hätte tun und was lassen sollen. Zufrieden über meine erfolgreiche Ignoranztaktik, schlief ich ein.

Bald wurde ich von einem leichten Ruck geweckt. »Wohl eine Turbulenz«, dachte ich und sah zu dem armen Zwiad hinüber, der jedoch mit offenem Mund schlief. Vielleicht hatte er sich sogar eingenässt und es war keinem aufgefallen. Der Angelsachse mit den gefärbten Haaren saß immer noch wie von einem bösen Zauberer verhext zu Stein erstarrt. In der Kabine begann sich Essensgeruch auszubreiten. Ich drückte mein Gesicht gegen das ovale Flugzeugfenster und sah hinunter. Wir überflogen das Schwarze Meer.

Ich erinnere mich, dass ich, bis ich wieder einschlief, überlegte, was ich alles über dieses Meer schreiben könnte. Kennt ihr viele georgische Autoren, die Erzählungen, Romane, Gedichte und Stücke über dieses Meer geschrieben haben? Unter mir lag ein sich über zwei Stunden erstreckendes, noch nicht beackertes literarisches Feld.

Wie es oft der Fall ist, wenn ich vollkommen untätig bin, fing ich an, über ein neues Thema nachzudenken. Ich wollte mir irgendeine maritime Handlung einfallen lassen. Aber es wollte mir, wie aus Trotz, nicht gelingen. Nur eine einzige Szene blieb in meinen Gedanken haften, vielleicht aber auch nur, weil ich schon wieder im Halbschlaf vor mich hindämmerte: ein Dorf am Meer, eine Frau mittleren Alters, die, ohne ihr Kleid auszuziehen, ins Meer geht. Ich selbst war schon einige Male Zeuge dieser äußerst moralischen Tradition geworden: Die Dorfbewohnerinnen ziehen ihre Kleider nicht einmal dann aus, wenn sie ins Wasser steigen, sehr tief gehen sie eh nicht hinein, denn in den Armen halten sie ihre nackten kleinen Enkelkinder mit steifen Pimmeln und kichern dabei voller Glückseligkeit …

Ich erinnere mich jedenfalls, dass ich mich selbst im Schlaf noch darüber ärgerte, dass meine Fantasie, obwohl das Meer ja groß genug war und genug Stoff bieten würde, nicht einmal über diese Frauen hinauskam …

6. UNTER MACIEK

Am nächsten Tag brachen wir nach Paris auf.

Es war ein Uhr nachts. Mir war im Zimmer langweilig geworden, und ich beschloss, mich ins Foyer zu setzen, sollte die Bar bereits geschlossen haben. Ganz raus auf die Straße wollte ich nicht. Ich mag nicht einmal das nächtliche Tbilissi, was sollte ich also im nächtlichen Madrid anfangen? Die verstörenden Nächte der Neunzigerjahre haben Spuren hinterlassen, in Foyers fühle ich mich einfach sicherer.

»Entschuldigung, können Sie mir helfen? Ich kriege ihn nicht wach!«

Wieder (jetzt zum vierten Mal) trafen wir vor dem Fahrstuhl aufeinander. Sie sprach Englisch, aber mit südländischem Akzent. Zuerst dachte ich, sie sei Spanierin. Sie war sichtbar erregt, sogar ihre Lippen hatten ihre leuchtende Farbe eingebüßt. Wieso wandte sie sich ausgerechnet an mich? Auch begriff ich zuerst nicht, was sie meinte, wen sie nicht wachbekam.

»Ja, natürlich«, gab ich zur Antwort und wartete auf einen weiteren Befehl von ihr.

»Danke.« Jetzt schenkte Helena mir ein Lächeln.

Ihr Mann lag ausgestreckt auf einem dieser roten Sofas, die das Foyer schmückten und auf denen ich eigentlich hatte Platz nehmen wollen. Beim genaueren Hinsehen konnte ich sofort den Grad seiner Betrunkenheit diagnostizieren: halbtot. Der Portier stand nicht weit entfernt.

Sie wird ihn auch gefragt haben!, überlegte ich mir.

»Wir müssen ihn irgendwie auf die Beine bekommen«, wandte sie sich verzweifelt an uns und musste gleich wie entschuldigend über sich selbst lachen. »Es tut mir so leid. Er ist mein Mann. Und sehr betrunken.«

Ich wusste, ich musste handeln. Wäre ich in einer ähnlichen Situation mit einem georgischen Mädchen gewesen, hätte ich sofort zu ihm gesagt: Sie müssen sich doch nicht entschuldigen, ich bitte Sie! Oder kurz und bündig: Kein Problem! Aber da ich mich in Europa aufhielt, musste ich irgendwas sagen, was ein Europäer in der Situation sagen könnte, zum Beispiel:

»Sollen wir einen Arzt rufen?«

»Nein, nein«, plötzlich wirkte sie regelrecht aufgeschreckt, »er hat nur zu viel getrunken. Das kommt vor.«

Ich hätte nachfragen können: »Sind Sie sich sicher?«, wie man das in amerikanischen Filmen sagt. Aber unter diesen Umständen hätte sich ein »Sind Sie sich sicher?« nahezu impotent angehört.

In dem Moment betrat ein älteres Paar das Hotel und der Portier musste uns mit einem hastigen »Excuse me!« uns selbst überlassen. Das ältere Paar nahm ihn sofort in Beschlag, ohne uns auch nur eines Blickes zu würdigen. Helena biss sich auf die Unterlippe, es passte ihr nicht, eine Hilfskraft weniger zur Verfügung zu haben.

»Keine Sorge«, tröstete ich sie, »das schaffen wir schon.«

Ich wollte ihr gefallen.

Aber einen richtigen Plan hatte ich nicht. Vor mir lag ein um zwei Köpfe größerer Mann und dachte nicht einmal im Traum daran, von sich aus aufzustehen. Und ich hatte keine Idee, wie ich diesen massiven Körper hochstemmen sollte. Mit den Händen ziehen oder doch lieber meinen Kopf unter seine Achsel schieben und ihn schultern? Schließlich tat ich beides. Ich zog ihn mit den Händen zu mir heran, legte mir seinen rechten Arm über die Schulter, mit meiner Linken umfasste ich seinen Rücken und wagte dann den Versuch, ihn anzuheben. Wie eine Musterschülerin wiederholte Helena den gleichen Bewegungsablauf: Sie beugte sich zu ihm hinunter, legte sich seinen linken Arm um den Hals, spannte sich an, zog: erfolglos.

Nur die eine, meine Seite, hatten wir ein wenig anheben können.

Ich befand mich in erschreckender Nähe zu einem fremden, unrasierten Gesicht mit roten Pusteln auf der Haut. Auch drang mir Weingeruch in die Nase, Helenas Mann blies mir seine Trunkenheit in die Nasenlöcher. Er brabbelte, und um seine Lippen herum bildeten sich kleine Spuckebläschen. In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie einen so riesigen Kopf gesehen – wir mussten wie David und Goliath ausgesehen haben. Obwohl ich sagen muss, dass er sich, sobald ich ihn hochgezogen hatte, fügte und keinerlei Widerstand leistete (da haben wir bereits einen großen Unterschied zwischen einem betrunkenen Georgier und einem betrunkenen Europäer). Schließlich gelang es auch Helena, seine linke, zu Stahl gewordene Seite zu bewegen, und sie rief dem wieder zur Verfügung stehenden Portier zu, er möge uns doch bitte helfen. Und er, auch das muss man erwähnen, half uns ohne Widerrede dabei, Maciek (so hieß Helenas Ehemann) zum Fahrstuhl zu schleifen. Dort entschuldigte er sich, er dürfe die Rezeption nicht unbeaufsichtigt lassen und dementsprechend nicht mit uns hochfahren, und kehrte wieder zu seinem Tresen zurück.

Im Fahrstuhl war es für mich am schwierigsten, denn ich musste sein ganzes Gewicht allein stemmen, nur mit einem Bein lehnte er sich an seine Frau. Meine Hände zitterten unter seinem Gewicht, ich machte mir Sorgen, vollgekotzt zu werden. Alle paar Sekunden entschuldigte sich Helena bei mir, und ihre vorgetäuschte Höflichkeit machte mich wahnsinnig. So oft hintereinander hatte ich in meinem ganzen Leben noch nicht Keine Ursache! gesagt. Einmal sogar auf Georgisch. Ich erinnere mich nicht mehr, ob ich in dieser Situation fähig war, Helenas Schönheit zu würdigen. Ich hielt den betrunkenen Goliath mit meinem Kopf und meinen Schultern im Gleichgewicht; um unter solchen Umständen ihre erotische Anziehungskraft zu beurteilen, dafür hätte ich eine dieser perversen De-Sade-Figuren sein müssen.

Aber nervös machte sie mich schon: Ich sah sie an und spürte, wie mich eine misstönige Synthese aus Trauer, Wut und Bewunderung überkam.

Nein, in diesem Augenblick konnte ich es am allerwenigsten gebrauchen, mir über ihre gräulich angelaufenen, einst so roten Lippen, ihr spitzes Kinn, ihren langen Hals, die zum Küssen provozierenden Wirbel, den eingezogenen Bauch und ihre sich unter ihrem Shirt leicht wölbenden, runden und kleinen Brüste Gedanken zu machen. Aber das Frustrierendste an der ganzen Situation war die fatale Vorahnung meines Scheiterns und weniger das Schultern des halbtoten Macieks.

Dieser Idiot hatte definitiv eine tolle Frau …

Ich atmete erleichtert auf, als sich die Fahrstuhltür endlich öffnete, warf Helena ein Lächeln zu und begann damit, Maciek abzuladen. Aber ziemlich schnell realisierte ich, dass mir nichts anderes übrigblieb, als ihn aufs Zimmer und sogar ins Bett zu bringen.

Hoffentlich schafft sie es, ihm Hose und Socken auszuziehen, damit mir wenigstens das erspart bleibt, dachte ich, während ich zu ihr hinüberschielte.

Wir mussten noch ein paar Worte miteinander wechseln, bevor ich das Zimmer wieder verlassen konnte. So ganz kommentarlos konnte ich nicht verschwinden.

»Es tut mir wirklich leid und vielen Dank noch mal!«, sagte sie zum hundertsten Mal und reichte mir die Hand.

Ich überlegte, ob ich ihr sagen sollte, dass der Schlaf ihn schon ausnüchtern werde, aber es gelang mir nicht, diese Worte ins Englische zu bringen, und ich wollte mir auf keinen Fall einen Übersetzungsfehler leisten, der uns in eine noch peinlichere Lage bringen könnte. Sich mit einem fremden hübschen Mädchen zu unterhalten ist ohnehin schon schwer genug. Man muss dabei sehr präzise sein.

Noch heute erinnere ich mich an einen albtraumhaften, drei Jahre zurückliegenden Fauxpas. Ich war hinter einem Mädchen her, das ich am Meer kennengelernt hatte. Sie hatte auf den Schultern zwei kleine Flügel tätowiert. Anfangs lief alles glatt, auch sie schien nicht abgeneigt. Aber dann auf einmal war der Wurm drin, alles was ich sagte und tat, kam falsch an. Auf Fehler folgten weitere Fehler. Es war bereits zu spät, als ich realisierte, dass der Hauptgrund für mein Scheitern in unserem nicht kompatiblen Wortschatz lag. Ja, wir sprachen zwar dieselbe Sprache, benutzten aber andere Worte. Und diese Geschichte hat mich endgültig davon überzeugt, dass man sich mit einem Mädchen unter keinen Umständen in einer korrekten, literarischen Sprache unterhalten darf. Je hochgeorgischer dein Georgisch ist, desto fremder wirst du ihr. Und nicht nur das: Man darf auf keinen Fall in Textnachrichten Kommata benutzen. Tippst du eine Nachricht und setzt zwischen den Wörtern die richtigen Satzzeichen oder benutzt einen Doppelpunkt oder gar Punkt und Komma; schon wird das Mädchen misstrauisch. Ganz zu schweigen von Ausrufe- und Fragezeichen, die sind ein absolutes Fiasko. Drei Punkte … das definitive Ende. Ein Typ, der eine SMS mit Ausrufezeichen und drei Punkten abschließt, macht, um es milde auszudrücken, einen merkwürdigen Eindruck. Und wenn er im Laufe der Zeit seine fatale Grammatik nicht bleiben lässt, kannst du nicht anders, als ihn zu verachten. Einmal kann man ein Auge zudrücken, das zweite Mal kann man es auch verzeihen, aber danach bist du einfach keine Antwort mehr wert. Am Ende bleibst du also allein mit deinen Satzzeichen, ohne das Mädchen!

Возрастное ограничение:
0+
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39 стр. 9 иллюстраций
ISBN:
9783627021450
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