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2. DAS FLUGZEUG

Doch Helena war noch weit entfernt. Während ich irgendwo durch die Lüfte schwebte, war sie vielleicht mit ihrem Mann gerade auf dem Weg zum Athener Flughafen.

Unter uns lag Wasser – das Schwarze Meer.

Die Flieger gen Europa starten bei uns regelmäßig im Morgengrauen. Wahrscheinlich liegt das daran, dass der Nachthimmel billiger ist als der Taghimmel. Dieser Grund wiederum reicht vollkommen aus, dass unsere Vampir-Fluggesellschaften das Tageslicht so leidenschaftlich meiden. Auch für uns wurde selbstverständlich keine Ausnahme gemacht. Unser Flug ging um vier in der Früh.

Zwiad hatte sich sehr dafür eingesetzt, dass wir bereits drei Stunden vor dem Abflug am Flughafen waren. Nicht zwei, sondern gleich drei Stunden vorher. Dass man sich zwei Stunden vor Abflug am Flughafen einfinden soll, das weiß ich, seitdem ich klein bin, ich habe auch nichts gegen diese heilige Tradition, nichts gegen diese Zwei-Stunden-davor-Regel, aber diese Drei-Stunden-davor hatten mich ein wenig aufhorchen und gar aufschrecken lassen, denn genau zu diesem Zeitpunkt ahnte ich bereits, dass es sich bei diesen Drei-Stunden-davor um die typisch männlich-georgische Überforderung handeln und mir ein einmonatiger Kampf mit Zwiads Neurosen bevorstehen könnte. Ja, vielleicht bedeutete dieses Drei-Stunden-davor erst den Anfang größeren Übels?

Ich muss gestehen, dass auch ich vor Antritt einer Reise von dieser Reisehysterie befallen werde, mir vorstelle, wie ich auf den großen Flughäfen verlorengehe oder noch schlimmer – von Grenzpolizisten für einen Terroristen gehalten werde, die ich mit meinem wilden Englisch keineswegs überzeugen kann, doch jemand ganz anderer zu sein. Ich hasse diese Momente, wenn ausländische Beamte meinen Pass kontrollieren (vor einheimischen Beamten habe ich keine Angst). Ich hasse diesen Augenblick auf der anderen Seite des Glases, wenn ich auf den Einlass ins Paradies warten muss, den mir ein Mitglied eines fremden Stammes mit grüner Kopfbedeckung gewähren soll.

In solchen Situationen versuche ich, möglichst vertrauenerweckend auszusehen. Ich will, dass sie von meinem Gesichtsausdruck ablesen, wie bedauerlich es ist, dass sie mich nicht persönlich kennen und daher nicht wissen, dass ich nichts Böses anstelle und genauso gesetzestreu bin wie sie selbst.

Ich vermute, dass Europäern solche Komplexe fremd sind. Man muss schon ehemaliger Sowjetbürger sein und vier Kriege hinter sich haben, um solche Ängste nachvollziehen zu können. Die Angst vor irgendwelchen Fehlern. Die Angst, sich falsch zu verhalten. Die Angst, auf dem Wiener Flughafen irrtümlicherweise auf dem Behindertenklo zu pissen und daraufhin seine Ersparnisse als Bußgeld abdrücken zu müssen. Sie, Herr Bürger, warum haben Sie Ihr Geschäft bei den Behinderten verrichtet?

Kurz gesagt habe ich vor Antritt einer Reise durchaus meine kleine Unruhe, aber der Lyriker Z. Meipariani übertrieb es sichtlich in diesem Belang: Vor der Abreise rief er mich fünf- oder sechsmal an, um seine Flugdaten mit meinen abzugleichen, wiederholte dabei wie ein Mantra, dass sein Schwager uns zum Flughafen fahren würde, und als er erfuhr, dass ich ernsthaft erwog, mich am Abend vor dem Abflug noch schlafen zu legen, gestand er mir in einem verzweifelten Tonfall, dass bei ihm seit zwei Tagen an Schlaf nicht mehr zu denken sei und er überhaupt seine ganze Lebenslust eingebüßt habe.

Zuletzt hatte er wohl im Alter von sechzehn in einem Flugzeug gesessen, seine Onkel hatten ihn damals nach Moskau mitgenommen, um die tote Schwester der Oma abzuholen. Dementsprechend waren seine Flugerinnerungen nicht die angenehmsten. Aber immerhin hatte er damals sein erstes Gedicht geschrieben, auf dem Flugzeugklo. »Es war ein komisches Gefühl«, erzählte er. »Wir waren in der Luft und im Koffer lag die tote Schwester meiner Oma.«

Mit dem Trinken begann er schon am Flughafen.

Erst fand er seinen Pass nicht rechtzeitig, dann drängelte er sich im Gang an der pseudoenergischen, künstlich lächelnden Puppe von Stewardess vorbei, und auf dem Sitz schlug er kräftig mit den Knien gegen die Rückenlehne des Vordermanns. »Scheiße, er hat beschlossen, zu rebellieren«, stellte ich verzweifelt fest und bereute bereits, dieser Reise zugestimmt zu haben. Denn ich wurde den Gedanken nicht los, dass Zwiad erst den Anfang eines kommenden Unheils darstellte.

Morgens neige ich sowieso zu depressiver Stimmung, umso mehr morgens um vier. Außerdem hatten mich der Krieg, Elenes Fortgang, unausgeschlafene Fluggäste, die aufblasbare Weste, der unrealistische Rettungsplan der Stewardess, die Kotztüte und der betrunkene Zwiad so niedergeschlagen, dass auch ich von der typischen überforderten Unruhe der georgischen Männer erfasst wurde, der Angst vor allem Neuen.

»Ich ersticke«, ging es mir durch den Kopf, als ich meine Stirn dem dünnen Luftstrom entgegenstreckte, der aus der kleinen Düse von oben kam.

Ich wusste nicht, warum ich diese Reise überhaupt machte, warum ich für einen Monat meine gewohnte Umgebung verließ, was ich hier, umgeben von all diesen fremden und aggressiven Psychopathen, so früh am Morgen zu suchen hatte!

Ja, ich fühlte mich schlecht, richtig schlecht, aber trotz allem wurde mir eine Sache zum Glück rechtzeitig klar: Dem betrunkenen Zwiad und der Stewardess mit dem falschen Lächeln konnte ich nur im Schlaf entrinnen, ich musste sofort einschlafen, ich durfte mich nicht länger aufregen!

»Hey, Zaza, sind wir schon gestartet?« Zwiad drehte sein geschwollenes, rot angelaufenes Gesicht zu mir.

»Noch nicht«, gab ich zur Antwort. Ich wusste, er traute sich nicht, aus dem Fenster zu schauen.

»Welch unglückliche Kreaturen wir Menschen doch sind!«, murmelte er mit dem verzweifelten Pathos eines König Lear und versank wieder in seinen Ängsten. Mit zugekniffenen Augen zuckte er mit den Lippen und wackelte wie ein Jazzfan mit dem Kopf. Der neben uns sitzende Ausländer – er hatte gefärbte Haare – sah etwas erschrocken zu mir herüber. (Dass er Ausländer war, erkannte man an seiner unnatürlich glatten Augenpartie und seinem aufgesetzten Lächeln). Er konnte Zwiads Verhalten nicht einordnen.

So gesehen hatten wir alle Angst: ich vor der ungewissen Zukunft, der Ausländer vor Zwiad und Zwiad selbst vor dem Fliegen. Mein armer Kollege wusste nicht einmal, dass er es bereits geschafft hatte, zu einer Angstvorstellung für einen anderen zu werden. Denn es hätte durchaus sein können, dass auf sein merkwürdiges Murmeln etwas weitaus Gefährlicheres folgte! Vielleicht war sein Genuschel nichts anderes als Beten? Und wie sehr sich die ordentlichen Angelsachsen vor Gebeten, gerade Gebeten in Flugzeugen, fürchten, ist allseits bekannt. Selbst wenn man sich in einem Flugzeug befand, das von einem christlichen Land aus startete. Laut gesprochene Gebete können überall Gefahr bedeuten!

Was sich unser Sitznachbar beim Anblick dieses dunkelhaarigen Mannes (der Dichter Z. Meipariani) nicht alles vorgestellt haben könnte: Würde er sofort vom Sitz aufspringen, sobald wir in der Luft wären? Mit einer geübten Handbewegung die Stewardess mit einem Messer abstechen (und das ausgerechnet in dem Augenblick, in dem sie uns mit ihrer enervierenden Stimme einen Apfelsaft anbot: »With iccccceeee?«), anschließend den Piloten zwingen, das Flugzeug in irgendein arabisches Land zu steuern oder von mir aus zu den christlichen Kopten nach Afrika?

Der Sitznachbar sah Zwiad mit einem derart erschrockenen Gesichtsausdruck an, dass ich schon befürchtete, er würde gleich zu seinem Handy greifen und seiner Frau eine Abschiedsnachricht schreiben. Wahrscheinlich mit folgenden Worten: Wir wurden entführt, ich liebe dich, ich wünschte, ich hätte es dir öfter gesagt!

»Zwiad!« Ich stieß meinen Ellenbogen in den noch immer mit dem Kopf wackelnden Lyriker.

»Was ist?« Er öffnete die Augen.

»Betest du etwa?«

»Nein, wieso?«

»Was machst du dann?«

»Nichts. Muss nur dringend pissen.«

»Der Mann glaubt, du seist ein Terrorist, bitte hör auf damit.«

»Welcher Mann?« Er richtete sich auf.

»Der da.« Ich deutete mit dem Kopf zum Ausländer, der sofort anfing, uns mit glasigen Augen zuzulächeln.

»Was mach ich denn?« Zwiad erwiderte sein Lächeln.

»Du wackelst mit dem Kopf und schmatzt mit den Lippen.«

»Ich schreibe ein Gedicht«, lachte er. »Ich hätte doch gar nicht den Arsch in der Hose für diesen ganzen Terroristenkram!«

Dann öffnete er den Gurt, um sich zu erheben.

»Du darfst noch nicht aufstehen.« Ich hielt ihn am Ärmel fest.

Der Ausländer wagte nicht mehr, ihn anzusehen. Er starrte auf die Rückenlehne des Vordersitzes und verwandelte sich in einen Passagier aus Stein.

»Wenn ich nicht sofort pissen kann, platze ich«, sagte Zwiad und begann, über den Ausländer zu steigen, drückte seinen Hintern in dessen Gesicht und watschelte dann den Gang entlang Richtung Toilette.

Ich bin ein egoistisches Geschöpf. Elene ist vor meinem Egoismus geflohen und nicht vor mir. Obwohl das eine ganz andere Geschichte ist. »Ist mir doch egal, was er anstellt!«, ging es mir durch den Kopf, und ich richtete meinen Blick auf die Zeichen über uns: eine mit einem X durchgekreuzte Zigarette, ein durchgestrichenes Handysymbol und der rote geschlossene Gurt waren noch sehr deutlich erleuchtet.

Die Stewardess mit den dicken Beinen holte Zwiad noch vor der Toilette ein. Ich stopfte mir fingernagelgroße Ohropax in die Ohren und redete mir ein: »Ich bin allein, Zwiad existiert nicht.«

Zwei strenge Sätze, die die Stewardess an Zwiad richtete, reichten vollkommen aus, damit er auf der Stelle umkehrte und zu seinem Sitz zurückeilte. Und ich bin davon überzeugt, dass er sich nur deswegen so mühelos fügte, weil wir uns nicht in einem Flieger einer georgischen Airline befanden. In einem georgischen Flugzeug, da bin ich mir sicher, hätte er Diskussionen angezettelt und sich dann sogar auf der Flugzeugtoilette eine Zigarette angezündet.

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39 стр. 9 иллюстраций
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9783627021450
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