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Читать книгу: «Der Zorn der Hexe», страница 3

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In Sabines Augen stand nacktes Entsetzen, aber auch Unglauben. Das Ganze klang zu phantastisch.

„Was ist aus ihr geworden?“

„Wer? Aus der Hexe oder unserer Ahnin?“

„Also, wenn du mich so fragst: beide!“

„Die Hexe wurde nach ihrer Verbrennung nie wieder gesehen. Und unsere Hexe, dieses Miststück von einer Ahnin, sollte das gleiche Schicksal ereilen. Sie hatte acht Kinder, und als das große Sterben begann, ich will es mal so formulieren, als der Fluch sich bewahrheitete, verlor sie alle, bis auf einen. Und auch ihr Ehemann starb. Er wurde auf dem Feld von seinem eigenen Gaul totgetrampelt.

Ein Jahr nach seinem Tod, mittlerweile war sie ganz allein, auch ihr Jüngster hatte den Hof verlassen, wurde sie schwanger. Und da es ja nun ganz offensichtlich mit dem Teufel zuging, wenn eine Frau ein Kind bekam ohne Mann dazu, wurde auch sie zum Tode auf dem Scheiterhaufen verurteilt. Es ist noch heute ein Rätsel, wie die Dorfbewohner davon erfahren hatten, obwohl sie ihr Haus und ihr Grundstück nie verließ. Und Besuch hatte sie auch keinen empfangen. Die hatten doch alle Angst, etwas von dem Fluch könne auf sie überspringen! Sie verbrannten sie in einer sternklaren Nacht, mitsamt dem Ungeborenen im Leib.

Wie gesagt: Es ist noch immer ein Rätsel. Aber ich vermute, die Hexe hat das irgendwie bewerkstelligt. Schließlich beherrschte sie die Zauberei, wie sie ja bereits eindrucksvoll bewiesen hatte. Und es ging bestimmt nicht mit rechten Dingen zu, denn die Angst der anderen war verschwunden, als man sie zum Scheiterhaufen führte. Und ich vermute auch, dass sie dafür sorgte, dass der jüngste Sohn den Ort verließ. Schließlich musste die Familie fortbestehen, damit sich der Fluch immer und immer wieder erfüllen konnte. Bis zum heutigen Tage.“

Mit ruhigem Blick sah er sie an. Er wusste nicht, was er erwartet hatte. Vielleicht, dass sie geschockt war oder in Tränen ausbrach. Doch Sabine tat nichts dergleichen. Sie sah ihn nur an und machte keineswegs den Eindruck, als ob sie auch nur ein einziges Wort glaubte. Doch auch das konnte er nachvollziehen, wäre es ihm doch, wenn er an ihrer Stelle gewesen wäre, ebenso gegangen. Leider nahm der Fluch keine Rücksicht darauf. Ihm war es einerlei, ob sie es glaubte oder ihren alten Herren für einen ausgemachten Schwachkopf hielt. Was auch immer geschehen sollte, würde geschehen. Daran ließ sich, leider Gottes, nichts ändern …

„Du musst zugeben, das Ganze klingt …, nun, sagen wir einfach, ein wenig abwegig“, entfuhr es ihrem Mund nüchtern. „Glaubst du tatsächlich, ich lasse mir so eine Geschichte verkaufen und schlucke sie einfach?“ Ihre Stimme klang erregt. Auch das konnte er nachempfinden.

„Leider ist es die Wahrheit.“

„Ach, komm.“

„So leid es mir auch tut: Es ist so. Es ist die traurige Wahrheit. Wir müssen dieses Schicksal ertragen. Wir leiden noch immer darunter, dass dieses zänkische Weib alles und jeden hasste.“

„Das sind doch alles nur Geschichten, die man sich abends am Lagerfeuer erzählt! Die sind doch von vorn bis hinten an den Haaren herbeigezogen. Und jeder, der sie erzählt, schmückt sie dann etwas aus mit seiner eigenen Phantasie.“

„Ich wünschte, es wäre so. Oh ja, das wünsche ich mir wirklich von Herzen“, seufzte er.

„Was sollte es sonst sein? Was? Ich kann’s dir verraten: Es ist genau das und nichts anderes.“

Sie war überzeugt, dass es nur so sein konnte – so und nicht anders. Doch seine Augen sprachen eine andere Sprache, und irgendwie bereute sie es immer mehr, so hartnäckig auf der Wahrheit bestanden zu haben.

„Es ist schwer zu glauben. Ich weiß. Aber es ist der Fluch unserer Familie. Seit nunmehr fünfhundert Jahren.“

Plötzlich flammte eine Erkenntnis in ihr auf. So makaber es auch klang: Ihr Vater erlaubte sich einen Scherz mit ihr. Er wollte sie auf den Arm nehmen, sie necken und sie mal so richtig aufs Glatteis schicken. Sie hatte keine Zweifel mehr, oh ja, ihr Vater wollte ihr eins auswischen, er wollte sie so richtig verarschen. Aber nicht mit mir, mein Lieber! In die Grube, die du da angelegt hast, werde ich nicht fallen! Diesmal nicht!

„Woher willst du das eigentlich alles wissen? Schließlich hast du ja selbst gesagt, dass das bereits ein halbes Jahrtausend zurückliegt. In dieser Zeit kann viel passieren, das brauche ich dir nicht zu sagen. Woher also nimmst du diese … äh, Informationen?“

„Folge mir bitte.“

„Was?“

„Folge mir einfach.“

„Wohin gehen wir?“

„Du wirst schon sehen. Komm einfach mit.“

Sie verließen den Raum, und Sabine dackelte hinter ihrem Vater her. Sie hatte beschlossen das Spiel mitzuspielen, denn dafür hielt sie es, für ein abgefucktes Spiel. Doch sie würde schon bald den Spieß umdrehen und ihn dann so richtig veräppeln. Sie musste sich nur gedulden, bis sie ihre Chance witterte. Und bis dahin hieß es, weiter den Tölpel zu mimen, damit der Alte sich in Sicherheit glaubte.

Sie liefen durch das ganze Haus und schließlich in den Keller hinunter. Hier unten war es angenehm kühl. Im Sommer, wenn die Sonne brütend heiß vom Himmel brannte, war es hier gut auszuhalten. Früher war geerntetes Obst hier unten aufbewahrt worden, doch das war Geschichte. Damit ließ sich kaum noch Geld verdienen, aber der Duft der Früchte lag noch immer in der Luft, als wäre er in die Wände und den Lehmboden imprägniert.

Sabine verstand überhaupt nichts mehr. Was wollten sie bitteschön im Keller? Hier gab es doch nur noch Spinnweben, Unmengen an Staub und Ratten, igitt! Sie war noch nicht allzu oft hier unten gewesen. Aber das war bei dem ganzen Getier, das man hier antraf, ja auch kein Wunder.

Allmählich wurde ihr das Spiel zu bunt, und sie wollte schon fragen, was sie hier zu finden hofften. Doch die Frage blieb ihr im Halse stecken, als sie in das Gesicht ihres Vaters blickte. In den letzten paar Minuten schien es noch einmal um tausend Jahre gealtert zu sein. Er war blasser als eine Leiche, bleich und ausgemergelt, sein Körper zitterte wie ein Blatt im Herbstwind, und sein Atem roch vergammelt, fast modrig.

Also, ich muss schon sagen, für seinen Scherz hat er sich wirklich allerhand einfallen lassen! Bin gespannt, was er noch alles aus dem Hut zieht! Die Frage war nur: Glaubte sie das wirklich noch? War sie noch immer der Überzeugung, es handle sich nur um einen Scherz?

Egal, wie ihr Vater aussah: Er hatte noch genug Kraft, um auf ein paar Mauersteine zu drücken. Also konnte es nicht ganz so schlecht um seine körperliche Verfassung stehen. Er tat es scheinbar aufs Geratewohl. Sabine, die das Ganze skeptisch beäugte, wollte schon fragen, was der ganze Zirkus eigentlich sollte, als sie merkte, dass die Steine nachgaben. Sie gaben tatsächlich nach, etwa einen Zentimeter. Auch jetzt wollte sie etwas sagen, es brannte ihr regelrecht auf der Zunge, doch sie war zu fasziniert, um auch nur ein Wort herauszubringen. Ihr Vater drückte jetzt noch ein paar Steine, immer noch scheinbar wahllos und ohne erkennbare Ordnung. Was hatte er vor? Auch diese Steine versanken knapp einen Zentimeter im Mauerwerk.

Irgendwann hielt er inne. Er war so erschöpft, dass er nur noch flach atmete. Wieder wollte Sabine den Mund öffnen, als es plötzlich im Mauerwerk zu arbeiten begann. Es dröhnte und rumorte, und dann knarrte es wie zu Mitternacht im Spukschloss. Die Geräusche wurden immer lauter; dann aber waren sie so schnell verschwunden wie sie begonnen hatten. Die unerwartete Stille schmerzte fast in den Ohren.

Und dann sprang hinter ihr eine Tür auf. Einfach so, ohne Vorankündigung – das Knarren, Rumoren und Dröhnen konnte man ja nicht als eine solche deuten. Sabine erschrak so, dass sie wie ein aufgescheuchtes Karnickel zur Seite sprang. Normalerweise wären ihr Vater und sie in schallendes Gelächter ausgebrochen, doch sie war zu erschrocken, und als sie in seine Richtung sah (wer weiß, vielleicht konnte er ja nun nicht mehr an sich halten und würde endlich losbrüllen vor Lachen?), blieb ihr jeglicher Kommentar im Halse stecken: Ihr Vater war nun nicht mehr nur aschfahl. Er war bleich wie eine Wachsfigur. Als würde er …

Woran konnte das nur lieg …

Ihre Neugier verlangte, sich die Tür genauer anzusehen. Die Wand war mit Paneelen bekleidet und darin, zwischen den Brettern, war die Tür perfekt eingepasst. Dort, wo sich normalerweise ein Brett ins danebenliegende einschob, war die Tür. Und da sie vom Boden bis zur Decke reichte, war von ihr nichts zu sehen gewesen. Sie benötigte auch keine Klinke, sondern wurde mit den Steinen an der Wand geöffnet. Einfach im Aufbau, aber grandios in der Wirkung.

Jetzt wies ihr Vater sie an, einzutreten – das tat sie dann auch, allerdings so vorsichtig wie ein Soldat, der ein Minenfeld betritt. Ihr Vater folgte geduldig. Er war so nah hinter ihr, dass sie seinen fauligen Atem roch. Offensichtlich war er schon öfter hier unten gewesen, denn gerade in diesem Moment hörte sie in der Dunkelheit, wie er zielsicher nach einem Lichtschalter tastete. Es dauerte nicht lange, und flackernd wurde es hell.

Nun konnte sie das geheime Zimmer, das sich hier verbarg, sehen. Vor Überraschung verschlug es ihr den Atem. Es war alles in allem vielleicht fünfundzwanzig Quadratmeter groß und wirkte eher zweckmäßig – auf absurde Weise. In der Mitte stand ein Schreibtisch, auf dem staubige Schriftstücke lagen. An den weißen Wänden standen Regale, die ebenfalls Akten enthielten. Seltsamerweise wirkte der Raum gepflegter als der Rest des Kellers. Sogar der Boden war gefliest – allerdings war es unschwer zu erkennen, dass hier kein Fachmann gearbeitet hatte. Was ja auch logisch war: Wozu brauchte man einen geheimen Keller, wenn jeder Handwerker davon wusste?

Sie ging in den Raum hinein, und nun bemerkte sie etwas Interessantes: Die Akten und Schriftstücke waren nicht verstaubt, wie man es erwarten konnte. Sie waren nur alt. Sehr, sehr alt.

„Das, was du hier unten siehst, ist die Chronik unserer Familie. Hier findest du so gut wie alles, was sich vom zwölften Jahrhundert an zugetragen hat. Gute wie auch schlechte Dinge sind in den Papieren verzeichnet.“

Sabine konnte nicht anders. Sie fühlte beim Anblick von mehr als achthundert Jahren Familiengeschichte Ehrfurcht.

„Und hier findest du auch den Beweis für das, was ich sagte.“

„Es ist so unheimlich viel …“

„Ich weiß. Du kannst alles lesen. Es ist alles in unserer Schrift geschrieben.“

„Wie …?“

„Jedes Mal, wenn die Schrift sich änderte, sie also einer Reform unterzogen wurde, brachte einer unserer Ahnen das ganze Archiv auf den neuesten Stand. Eine langwierige und mühsame Arbeit, wie du dir sicher vorstellen kannst.“

„Wie ist es möglich, dass wir so unglaublich viele Akten über unsere Familie haben? Bei anderen ist es doch auch nicht so!“

„Wie du weißt, sind wir recht vermögend. Während andere weder lesen noch schreiben konnten, lernten es die Kinder in unserer Familie schon von früh auf. Wenn andere auf den Feldern schuften mussten, hatten die unseren ein sorgenfreies Leben. Sie brauchten selten in Kriege zu ziehen und mussten auch nie … Warum siehst du mich so komisch an?“

„Ich hatte ja schon vermutet, dass du mir mit dieser Geschichte einen Bären aufbinden willst. Und gerade eben hast du dich verraten. Du hast nämlich gesagt, der Mann von diesem Luder, die, die uns das angeblich eingebrockt hatte, wäre von seinem Pferd totgetrampelt worden. Und zwar auf seinem Acker. Gibst du jetzt zu, dass du mich verarschen wolltest? Oder willst du noch weiter spielen?“

„Du hast recht damit …“

„Na also, sag ich doch! Nicht mit mir!“

„Er starb auf seinem Acker. Es war so etwas wie ein Hobby von ihm. Er liebte es, den Boden zu bestellen, Saat einzubringen, alles wachsen und gedeihen zu sehen und irgendwann die Früchte seiner Arbeit zu ernten. Das alles machte er gern, es bereitete ihm Vergnügen. Wenn du die Unterlagen durchsiehst (du brauchst sie übrigens nicht alle anzusehen): Nur der Stapel dort drüben ist in unserer Schrift verfasst, die anderen, vor allem die ältesten, werden dir vorkommen wie Hieroglyphen. Aber das wirst du alles schon herausfinden. Ich schweife schon wieder ab. Wie dem auch sei: Wenn du die Unterlagen studierst, wirst du sehen, dass eine ganze Reihe unserer Verwandten gearbeitet hat. Es war für sie ein Vergnügen, durch und durch ein Vergnügen. Warum rede ich eigentlich so viel? Du hast noch viel Zeit, dir das alles anzusehen. Ich werde jetzt gehen.“

„Aber Daddy, wo willst du denn hin? Du musst doch noch mit mir die Papiere durchsehen!“

„So gern ich das auch machen würde, es geht leider nicht, mein Kind.“

„Ja aber, warum denn nicht?“ Sabine verlor mehr und mehr die Fassung. Was meinte er damit?

„Es tut mir wirklich leid, doch ich muss gehen. Und du kannst mich nicht begleiten.“

Die Traurigkeit, die in seinen Worten schwang, machte sie noch verrückt. Was war hier nur los? Wo wollte er hin? Und warum konnte sie nicht mitkommen?

„Keine Angst, du wirst irgendwann nachkommen, aber noch nicht jetzt. Jetzt ist es zu früh. Eines Tages werden wir uns wiedersehen. Und bis es soweit ist, muss ich mich von dir verabschieden.“

„Daddy, hör sofort auf damit! Du machst mir Angst! Was hat das alles zu bedeuten? Und was meinst du damit, wir sehen uns später?“

Sabine war jetzt einer Hysterie nahe. Irgendetwas, das in seinen Worten mitschwang, beunruhigte sie, es jagte ihr regelrecht Angstschauer ein. Obwohl ihnen nichts Direktes zu entnehmen war (vielleicht war gerade das das Schlimme) ahnte sie etwas Schreckliches.

Mit einem Mal riss er die Augen auf, als würde er nach irgendetwas oder irgendjemand im Zimmer sehen, und fasste sich an die Brust. Die Hand war verkrampft wie eine Klaue. Seine Mundwinkel flatterten wie die Flügel eines Kolibris, und dann sackte er in sich zusammen. Mit einem einzigen, mächtigen Satz war sie bei ihm. Sie war viel zu geschockt, um Angst zu haben.

Als sie auf dem kalten Boden hockte und ihren Vater in den Armen wiegte, dachte sie an nichts. Ihr Kopf war leer, sogar der Schock verflogen. Sie war leer, bestand eigentlich nur noch aus der menschlichen Hülle.

Seine Lippen erzitterten, und er sagte etwas, doch es war zu leise, als dass sie es hätte verstehen können. Und genau in diesem Moment tat er seinen letzten, schweren Atemzug.

Der Wind wehte böig, bauschte sich stellenweise bis zum Orkan. Der Himmel war wolkenverhangen, schwarz und düster. Es war mehr als wahrscheinlich, dass es heute noch richtig schütten würde. Doch was war schon Regen? Was war Wind? Nichts als Nebensächlichkeiten, nichts als Launen der Natur. Die kamen und gingen irgendwann auch wieder.

Es war jetzt fünfzehn Uhr dreißig, ein Sonnabend. Ein Tag, den Sabine nie wieder vergessen würde. Heute war der Tag, an dem sie ihren Vater, ihren letzten Verwandten, zu Grabe getragen hatte.

Genau jetzt, in diesem Moment, wurden seine sterblichen Überreste der Erde übergeben. Er lag in einem schneeweißen Eichensarg mit goldenen Griffen. Ihm hätte er gewiss gefallen. Sabine hatte auf Schnickschnack wie Kapelle, Trauermusik und lange Reden verzichtet. Ihr Vater war nie ein Freund solcher Dinge gewesen. Er hätte es sich nicht so gewünscht, und da er ja bedauerlicherweise hier die Hauptrolle spielte, wollte sie, dass es in seinem Sinne ablief.

Kaum jemand war hier. Sabine stand allein am Grab. Da sie die letzte lebende Verwandte des Verstorbenen war, war das auch kein Wunder. Außer einigen wenigen Freunden ihres Vaters, die sie aber nur vom Sehen kannte, war sie allein. Aber selbst wenn der Friedhof von Besuchern übergequollen wäre, wäre sie allein gewesen. Ihr Geist hatte sie sich von der Realität abgekapselt. Zu groß war der Schmerz. Sabine hatte sich in ein selbsterrichtetes Schneckenhaus zurückgezogen, eines, in dem noch alles beim Alten war. In dem ihr Daddy seine Tochter auf dem Schoß trug und sie und der Vater des Kindes wie auf einem Familienporträt daneben standen. Hier drinnen war alles so, wie es sein sollte, hier drinnen ließ es sich aushalten …

Als ihr die Beileidsbekundungen überbracht wurden, stand Sabine nur da wie eine leblose Hülle, schüttelte ohne Kraft die Hände derer, die erschienen waren. Sie zwang sich, sich mit einem Lächeln bei ihnen zu bedanken.

Später, als alle den Friedhof verlassen hatten und wieder daheim, in ihrem eigenen Leben waren, saß Sabine auf einer Bank und starrte in den wolkenverhangenen Himmel. Sie wusste, dass das Schmerzhafteste jetzt hinter ihr lag. Und sie hoffte, dass es jetzt endlich wieder aufwärts ginge. Es konnte nicht mehr schlimmer werden. Vor dem heutigen Tag hatte sie Angst gehabt. Sie hatte ihn gefürchtet, wie ein römischer Gladiator seinen Einsatz gegen die Löwen fürchtete.

Warum fühlte sie sich nicht besser? Jetzt, da es vorbei war? Sicher, ihr war klar, dass das nicht Schlag auf Schlag gehen würde. Falls sie das glaubte, erwartete sie zu viel. So schnell konnte die Wunde, die der Verlust ihres Vaters gerissen hatte, nicht heilen. Aber sie hatte dafür gebetet, wenn es schon nicht heilte, sollte es zumindest aufhören zu schmerzen. Oder der Schmerz sollte, wenn er schon nicht schwand, wenigstens schwächer und schwächer werden.

In all den Tagen nach seinem Tod hatte sie keine ruhige Minute gehabt. Es mussten Wege gegangen werden, die Beerdigung musste organisiert, Einladungen, wenn auch nur wenige, mussten verschickt werden. Sie hatte viel zu tun und keine Zeit nachzudenken. Nun aber kehrte langsam Ruhe ein, und jetzt wurde ihr die Veränderung in ihrem Leben klar. Und obwohl sie eigentlich längst versiegt sein müssten, liefen ihr Tränen die Wangen hinunter. Sie verlangte sich zu viel ab; das begriff sie jetzt. Ihre Trauer würde noch lange andauern. Sie würde irgendwann weniger werden, doch ganz verschwinden würde sie nie.

Schwerfällig erhob sie sich von der Bank, rückte das Kleid zurecht und lief langsamen Schrittes zum Ausgang. Am liebsten wäre sie zurückgerannt, zurück zum frischen Grab und hätte mit ihren Händen die Erde beiseitegeschafft. Sie wollte und konnte nicht glauben, dass ihr Vater nicht mehr sein sollte! Es war bestimmt nur ein Irrtum! Es konnte sich nur um einen Irrtum handeln! Bestimmt schlief er nur und hatte von alldem gar nichts mitbekommen! Obwohl es eine absurde Vorstellung war, klammerte sie sich an sie fest. Vielleicht war er auch ins Koma gefallen und konnte jeden Moment wieder erwachen? Was dann? Dann musste doch jemand da sein, um den Sarg zu öffnen! Man konnte ihn doch nicht dort drinnen lassen!

Fast wäre sie tatsächlich zurückgerannt. Doch sie konnte sich am Ende beherrschen. Vater war tot, und das war unabänderlich. Nichts und niemand konnte etwas dagegen tun. Es wurde Zeit, sich mit dem Schmerz zu befassen. Sie konnte ihn in Erinnerung behalten, denn so würde er in ihrem Herzen weiterleben.

Sie lief weiter, wobei ihre schwarzen Schuhe über den Kies knirschten (sie hatte sie extra hierfür gekauft). Und in der Sekunde, da sie das große eiserne Tor passierte, wusste sie, dass ein neues Leben begann. Sie wusste nur noch nicht, ob sie es lieben oder hassen würde.

Ein paar Meter die Straße hinunter parkte ihr Wagen. Schon von weitem entriegelte sie per Fernbedienung die Tür, riss sie auf und ließ sich in den Sitz fallen. Sie legte den Kopf nach hinten, versuchte die Beine auszustrecken, schloss die Augen und faltete die Hände im Schoß. Mit ihrem rechten Fuß befreite sie den linken aus dem Schuh, und als ihr das gelang, versuchte sie es auch beim anderen. Sie blieb lange so sitzen.

Irgendwann, als sie wieder einigermaßen klar denken konnte, startete sie den Wagen, fuhr aus der Parklücke, sah vorschriftsmäßig in den Rückspiegel, vergaß auch den toten Winkel nicht und ordnete sich in den fließenden Verkehr ein.

Sabine war nie eine rasante Autofahrerin gewesen; sie hatte es nicht besonders eilig, wenn sie einen Wagen lenkte. Sie hatte keine Angst, wie ihre Fahrweise oft falsch interpretiert wurde, sie wusste nur, dass ein Fahrzeug eine gefährliche Waffe sein konnte.

Sie schaltete das Radio ein, suchte einen Sender, der vielleicht ihre Stimmung heben konnte, fand aber keinen.

Langsam näherte sie sich ihrem Zuhause. Es erschien ihr fremd und trostlos. Viel zu groß, viel zu riesig für sie allein. All die Etagen, all die Zimmer, in denen sie als Kind herumgetollt war. Hier hatte sie ihr ganzes Leben verbracht – bis auf die paar Jahre, in denen sie studiert und im Studentenheim gewohnt hatte.

Das Studium war keine schlechte Zeit gewesen, es hatte ihr Spaß gemacht. Sie waren ein dufter Haufen gewesen, fünf Mädchen und drei Jungens. Und obwohl jeder von ihnen etwas anderes studierte, verstanden sie sich erstklassig. Wahrscheinlich gerade deshalb. So konnten sie sich wenigstens nicht die Laune verderben, wenn jemand ein Seminar in den Wind gesetzt hatte. Und dann waren da ja auch noch die wilden Partys. Wenn ihr Vater oder irgendein anderer der Eltern auch nur geahnt hätte, was da los gewesen war – Menschenskind, die hätten sie sofort nach Hause geholt, in die nächstbeste Entziehungskur gesteckt und erst dann wieder herausgeholt, wenn Gras über die Sache gewachsen war! Im Nachhinein betrachtet, konnte man die Partys mit drei Oberbegriffen zusammenfassen: Drogen, Alkohol und Spaß bis zum Abwinken. Wobei man sich absolut nicht auf die Reihenfolge festlegen sollte. Es war vorgekommen, dass kaum noch jemand aufrecht stehen konnte, da hatte die eigentliche Party noch gar nicht begonnen. Wie dem auch sei – es war eine herrliche, schöne Zeit gewesen. Doch diese Tage waren vorüber, sie lagen weit zurück, in der Vergangenheit.

Kurze Zeit nach ihrem Abschluss, sie hatte ihn erst einige Wochen in der Tasche, vermisste sie ihre Freunde. Doch das ließ mehr und mehr nach, und irgendwann vergaß sie die Erfahrungen und Eindrücke fast. Ob es den anderen auch so ging?

Warum fällt mir das gerade jetzt ein? Warum jetzt, wo ich in der Einfahrt stehe und dieses riesige Haus angucke? Dieses Haus, das jetzt einzig und allein mir gehört? Oh, ich wünschte mir von ganzem Herzen, Daddy wäre noch da …

Langsam näherte sie sich dem Eingang. Sie wollte nicht hineingehen, wollte dieses Haus um nichts auf der Welt betreten. Nie wieder. Und doch kramte sie in ihrer Handtasche nach dem Schlüssel, öffnete die Tür, trat über die Schwelle und ließ sie lautstark hinter sich ins Schloss fallen.

Unheimliche Stille wehte ihr entgegen, hüllte sie förmlich ein. Obwohl es hier nie laut zugegangen war (schließlich fehlten andere Kinder) konnte man die Stille fast spüren. Sabine meinte sogar, sie griffe nach ihr, langsam und vorsichtig, mit zittrigen Fingern – und schließlich, wenn sie ihre Scheu abgelegt hatte, immer kräftiger. Sie lullte sie ein. So lange, bis sie schließlich ihr wahres Gesicht zeigte und sie mit Fingern, so stark wie Schiffstaue, umschlang und sie langsam und qualvoll erdrückte.

Langsam lief Sabine durch die Halle. Ihre Schuhe klapperten auf den Fliesen und sie hörte das Echo. Die Luft hier drinnen war stickig, abgestanden. Sie war unangenehm, roch vermodert, fast so, als verwese hier etwas. Nur ein Produkt meiner überreizten Phantasie, versuchte sie sich selbst Mut einzuflößen. Das klang zwar plausibel, aber lange nicht plausibel genug. Irgendetwas Merkwürdiges geschah hier, und es ängstigte sie. Doch vielleicht war auch diese Überzeugung nur ein Produkt ihrer Phantasie …

Allmählich bekam sie Kopfschmerzen. Sie wusste nicht, was sie glauben oder denken sollte. Alles stürzte auf sie ein, wie eine Lawine, die sich auf ihrem Weg ins Tal dicker und dicker frisst. Und sie hatte keine Ahnung, wie sie sich von ihr befreien konnte. Würde es helfen, ein paar Mal tief durchzuatmen? Keine Ahnung, aber einen Versuch sollte es wert sein.

Sie überwand ihren Ekel vor der stinkenden, gammeligen Luft und atmete langsam ein und aus; dabei konzentrierte sie auf ihren Atem, nur auf ihren Atem. Langsam strömte Luft in ihre Lungen und nach wenigen Sekunden wieder heraus. Von dem Gestank merkte sie nichts mehr. Auch die Angst schwand. Und nachdem sie das einige Male wiederholt hatte, fühlte sie sich auch wieder wohl in ihrer Haut.

Nun, da es ihr besser ging, war es an der Zeit, den Mantel abzulegen. Sie blickte an sich herab: Ihre schwarze Strumpfhose wies ein paar Laufmaschen auf, obwohl sie noch nagelneu war. Na ja, taugte halt alles nichts mehr. Auch die glänzenden schwarzen Schuhe wirkten stumpf. Wahrscheinlich war der Staub daran schuld. Eigentlich war das nicht wichtig; sie würde diese Kleidung ohnehin nie wieder tragen.

Plötzlich überkam sie eine unbändige Lust zu duschen. Sie wollte den Staub und Schmutz des Tages abspülen, ihn einfach den Abfluss hinunterspülen und ihn aus ihrem Leben verbannen.

Gedacht, getan. Schon wenig später war sie in ihren Bademantel gewickelt, trug ein Handtuch um den Kopf wie einen Turban, stand in der Küche und sah dem Kaffee dabei zu, wie er durch die Maschine lief. Sie hatte ihn extra stark angesetzt und hoffte, dass er ihre Lebensgeister weckte. Die Dusche hatte zwar den groben Schmutz von ihr gewaschen, aber was sie sich erhofft hatte, dass es ihr danach besser ging, war nicht eingetreten. Das war enttäuschend. Es war ein Trugschluss gewesen, eine falsche Fährte. Plötzlich wusste sie, dass in den nächsten Tagen, Wochen und Monaten nichts, aber auch gar nichts, ihr Empfinden verändern oder verbessern konnte.

Eine kühle Brise wehte durch die Küche, und Sabine blickte erschrocken auf. Stand irgendwo ein Fenster offen, fragte sie sich, ohne doch echtes Interesse daran zu haben. Ach ja, richtig, das Badezimmerfenster stand offen, sie hatte es selbst geöffnet. Schnell machte sie sich auf, um es zu schließen, entledigte sich, da sie nun schon mal da war, des Bademantels und zog sich eine bequeme Jogginghose an und ein T-Shirt. Auf einen Büstenhalter verzichtete sie. Sie kam sich dadurch immer eingezwängt vor und trug ihn nur, wenn es sich nicht vermeiden ließ, beim Sport oder zu gesellschaftlichen Anlässen.

Wie sollte es nur weitergehen? Was sollte geschehen? Was würde sie tun? Das waren durchaus interessante Fragen, über die sie da nachsann, während sie am Küchentisch saß und Kaffee schlürfte. Sie wusste nur eines: Nämlich, dass sie dieses Haus verlassen würde. Sie wollte es verkaufen und irgendwo ein neues Leben anfangen. Wo ihr Weg sie dann hinführen würde, lag noch im Dunkeln. Auf jeden Fall so weit wie möglich weg von hier, von den Erinnerungen, die sie, wenn sie ihnen nicht entwich, jahrelang quälen würden. Nein, so weit wollte sie es nicht kommen lassen. Bestimmt war es das Beste, alle Brücken hinter sich abzubrechen und irgendwo einen Neubeginn zu versuchen.

Aber nicht heute. Dieser Tag war anstrengend genug gewesen, und schon deshalb war es wenig ratsam, jetzt über diesen Schritt nachzudenken. Nein, es war besser, erst etwas Zeit verstreichen zu lassen und dann eines Tages, wenn sie sich über ihre Entscheidung im Klaren war, damit zu beginnen. Dann konnte sie alle Für und Wider gegeneinander abwägen. Schließlich musste alles genau durchdacht werden.

Sie entschied sich, ins Bett zu gehen. Sie hatte zwar einige Zweifel, ob sie überhaupt ein Auge zubekam. Die Aufregung des Tages und der Kaffeekonsum würden sie noch lange wach halten. Doch wie es sich herausstellte, waren ihre Zweifel unberechtigt: Sie schlief schon, da hatte ihr Kopf kaum das Kissen berührt.

Sabine erwachte mitten in der Nacht. Ein kurzer Blick auf den Wecker und sie wusste, dass es kurz vor drei war. Warum wurde sie zu solch unmöglicher Zeit wach? Sie hatte doch sonst immer einen tiefen Schlaf! Ihr Vater hatte mehr als einmal behauptet, man könne sie mitsamt Bett entführen und um den halben Erdball kutschieren, sie würde nichts davon mitkriegen und selig weiterschlummern. Wenn sie schlief, dann schlief sie. Und das felsenfest. Selbst wenn eine Bombe direkt neben ihr hochging.

Was also hatte sie geweckt?

Sie lag in der Dunkelheit, sah gedankenverloren zur Zimmerdecke und fragte sich, was mit ihr los war. Plötzlich wusste sie, was sie geweckt hatte: Sie hatte geträumt. Doch es war nicht irgendein Traum gewesen. Sie hatte vom letzten Tag ihres Vaters geträumt. Und das so lebhaft, als wäre es eben erst geschehen und läge nicht schon Tage zurück. Sie hatte jede Kleinigkeit noch einmal miterleben müssen. Und ihr fiel auch wieder ein, wo das Unglück geschehen war. Daran hatte sie seitdem überhaupt nicht mehr gedacht. Ihr war unbegreiflich, wie sie das vergessen konnte. War sie denn so eine Närrin?

Sabine rang mit sich. Die eine Hälfte von ihr wollte im Bett bleiben, sich die Decke über den Kopf ziehen und von nichts etwas wissen. Und die andere wollte das Gegenteil: Sie wollte aufstehen, schnurstracks in den Keller marschieren und der verdammten Sache auf den Grund gehen. Sabine war gespannt, welche der beiden Parteien den Sieg davontragen würde. Sie selbst tendierte sehr zur warmen Decke. Umso überraschter war sie, als sie plötzlich aufstand und mit forschen Schritten in den Keller ging. So viel zum Thema: Sie wäre feige.

Augenblicke später stand sie vor der mit Paneelen verkleideten Wand und war ratlos. Die Tür war zu, felsenfest verschlossen. Und da sie noch nicht einmal ihren genauen Standort kannte, konnte sie nicht prüfen, ob sie vielleicht von allein aufging, wenn sie dagegen drückte. Wer weiß, vielleicht war sie ja nur angelehnt? Die Hoffnung bestand durchaus; sie konnte sich nämlich nicht erinnern, sie verschlossen zu haben. Angestrengt dachte sie nach, wer es wohl sonst gewesen sein könnte.

Damals war sie wie eine Furie nach oben gerannt, um den Notarzt zu rufen, und gleich darauf hatte sie die Haustür geöffnet, damit er ungehindert Zutritt hatte. Dann war sie wieder in den Keller gehastet – und hatte dabei unaufhörlich „Nein, nein, nein, bitte nicht!“ gejammert. Wenig später, ihr Zeitempfinden war einer formlosen Masse gewichen, saß sie wieder im Keller, hatte ihren Vater fest in die Arme genommen und begann, als sie den Arzt endlich hörte, laut zu schreien.

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