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Читать книгу: «Der Zorn der Hexe», страница 2

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„Als ich eben auf dem Heimweg war, fiel mir ein, dass du mir mal was erzählen wolltest. Es hatte irgendwas mit unserer Familie zu tun. Ich glaube, es war zu der Zeit, als ich meine Fehlgeburt hatte. Ja, ich glaube, da war es“, bestätigte sie es sich selbst und fuhr dann fort: „Bis eben hatte ich es total vergessen. Wahrscheinlich hatte ich den Kopf mit anderen Dingen voll (ach was, sprach da ihre innere Stimme, du hast doch bloß den Tod deiner ungeborenen Tochter und den ihres Vaters betrauert! Im Großen und Ganzen also nichts Besonderes, wie? Hahahaha). Wie dem auch sei: Jedenfalls dachte ich mir, wenn es meine Familie betrifft, geht es auch mich was an. Das ergibt sich zwangsläufig, findest du nicht auch?“

Während sie sprach, wurde das Gesicht ihres Vaters immer leerer und ausdrucksloser, fast schon erschreckend. Im Gegensatz zu ihr konnte er sich an die Situation im Krankenzimmer gut erinnern. Viel zu gut. Wie so oft hatte sein Mund schneller gearbeitet als sein Gehirn; es war ihm einfach so rausgerutscht. Am liebsten hätte er es rückgängig gemacht. Er war damals in einer deprimierten Stimmung gewesen und nach all diesen Tragödien so sentimental und rührselig, dass er sein altes Schandmaul nicht im Zaum hatte halten können. Doch kaum, dass er ihr Zimmer verlassen hatte, hatte er sich einen alten Tölpel geschimpft. Vielleicht, dachte er damals, rieselt mir doch schon Kalk durch die Adern. Und als dann Sabine entlassen wurde, kam sie nicht mehr darauf zu sprechen; sie musste mit anderen Dingen fertigwerden. Es erleichterte ihn ungemein, doch gleichzeitig fürchtete er den Tag, an dem ihre Erinnerung zurückkehren würde. Allem Anschein nach war er jetzt gekommen. Das hast du nun davon, alter Narr.

„Es ist besser, wir lassen das.“

„Aber damals …“

„Damals hätte ich fast einen Fehler begangen – und das bereue ich. Ich weiß, dass ich nicht damit hätte anfangen dürfen. Aber die Situation … du weißt schon, was ich meine, war auch für mich zu viel. Auch ich war überfordert, und als Konsequenz davon ist mir das herausgerutscht. Das tut mir leid. Ich bin nichts als ein geschwätziger alter Narr.“

„Aber … aber …“

„Nichts aber. Glaub mir, es ist besser, wenn du diese Unterhaltung aus deinem Gedächtnis streichst. Tu einfach so, als hätte es sie nie gegeben. Und jetzt geh!“

Fast wäre Sabine tatsächlich gegangen; der grobe Ton erschreckte sie. So ungehobelt hatte sie ihn noch nie erlebt. Erst als sie bereits die Türklinke in der Hand hatte, besann sie sich, dass sie keine acht Jahre mehr war und ihr Vater ihr nichts mehr zu befehlen hatte. Sie wartete noch eine Sekunde, füllte ihre Lungen mit Luft und drehte sich langsam wieder um. In ihren Augen stand wilde Entschlossenheit (sie blitzten einem geradezu entgegen), und ihr Gesicht war hart wie Stein. Ihr alter Herr konnte davon freilich nichts sehen, denn seine Augen hatten im Laufe der Jahre nachgelassen.

„Hör zu, Daddy! Ich bin kein kleines Mädchen mehr!“

Der Klang ihrer Stimme überraschte sie beide, Sabine sogar noch mehr. Sie strotzte geradezu vor Entschlossenheit und Willensstärke. Und ihre Stimme, die kein bisschen zitterte oder schwächlich klang, bewirkte, dass sie sich ihrer Entscheidung sicher war. Jeder Zweifel wurde von dieser Stimme weggewischt wie ein Schmutzfleck von einer Fliese. Und da sie in ihrem Selbstvertrauen um einige Punkte nach oben geschnellt war, gab es jetzt kein Zurück mehr.

„Ich bin kein kleines Mädchen mehr“, begann sie von neuem.

„Ja, ich weiß. Aber …“

„Warum behandelst du mich dann so?“

„Aber Kindchen, das tue ich doch gar nicht. Das bildest du dir ein.“

„Da! Schon wieder! Du tust es schon wieder!“

„Was denn? Was tue ich schon wieder?“

Gott, konnte man wirklich so begriffsstutzig sein? War das möglich? Oder war es nur ein Ablenkungsmanöver? Es wäre nicht das erste Mal, dass ihr Vater so was versuchte. Es war schon immer eine Unart von ihm gewesen, unangenehmen Fragen auszuweichen. Aber diesmal werde ich den Spieß umdrehen. Nicht mit mir, mein Lieber. Diesmal nicht!

„Ach, vergiss es einfach. Das interessiert mich nicht im Geringsten.“

Ihr Vater zuckte zusammen. Nicht viel, aber Sabine nahm es befriedigt und mit Genugtuung zur Kenntnis. Sie hatte also recht gehabt mit ihrer Vermutung: Er wollte vom Thema ablenken. Aber nicht diesmal. Oh nein, diesmal nicht! Es wird allmählich Zeit, fortzufahren, wurde sie von ihrer inneren Stimme ermahnt, sonst verschwendest du noch mehr Zeit. Und wer weiß, was dann passiert? Recht hat sie, pflichtete Sabine ihr bei und erhob ihre Stimme wieder gegen ihren Vater, ebenso fest und sicher wie zuvor.

„Lass uns den Scheißdreck am besten vergessen! Schmeiß alles, was dir Sorgen bereitet, über Bord, all die Ängste und Bedenken, wirf sie einfach weg und erzähl mir, was es damit auf sich hat. Komm schon! So schwer kann das doch nicht sein!“

„Du hast ja keine Ahnung …“

Er sank ein wenig tiefer in seinen Schaukelstuhl. Auch das erfüllte sie mit Genugtuung. Aber es erwies sich als lange nicht so befriedigend wie beim ersten Mal.

„Warum ist es so schwer? Erzähl es mir! Was soll so schwer daran sein?“

„Weil es … Wenn es nicht so schreck … Vielleicht bleibt es ja aus. Vielleicht hast du ja Glück und es verschont dich.“

Sie sah, dass er sich auf die Lippen biss. So heftig, dass ein Tropfen Blut aus ihnen quoll. Jetzt erwog sie ernsthaft, es zu vergessen, die ganze Sache abzublasen. So wie er reagierte, musste es etwas Schlimmeres sein als irgendein schmutziges kleines Familiengeheimnis. Etwas Gewichtigeres als ein ordinärer Obstdiebstahl aus Nachbars Garten. Ja, so viel stand fest. Aber so einfach konnte sie die Sache nicht vom Tisch fegen und zum Alltag zurückkehren. Ihre Neugier war geweckt, und wenn das erst einmal geschehen war, brauchte es mehr als eine aufgeplatzte Lippe, bis sie davon ablassen würde.

„Was wird mich vielleicht verschonen?“

Der Schaukelstuhl war mit einem Mal so groß wie das Universum und ihr Vater darin so klein wie ein Meteoritensplitter in den schwarzen Tiefen des Alls.

Was habe ich nur angerichtet, fauchte es in ihm. Wie konnte ich das nur tun? Was ist mit mir los? Wie konnte ich mich so von ihr übertölpeln lassen? Ich muss völlig verkalkt sein. Doch halt: Noch ist ja gar nichts ausgesprochen. Noch habe ich eine Chance. Noch weiß sie nicht das Geringste. Ich muss nur ein bisschen vorsichtiger sein und ihr irgendeinen saftigen Brocken hinwerfen – einen, der vor Neuigkeiten nur so trieft. Es muss nur ihr Interesse wecken, mehr nicht. Doch wo gab etwas, was dazu imstande wäre? Fieberhaft überlegte er.

„Was wird mich vielleicht verschonen?“

Diesmal klang ihre Stimme noch fordernder. Langsam ging sie auf ihn zu, näherte sich Schritt für Schritt. Und ihr Vater wurde kleiner und kleiner. Eigentlich hatte er es selbst zu verantworten, dass seine Tochter es unbedingt wissen wollte. Schon seine Haltung, sein Äußeres verrieten, dass er etwas vor ihr verbarg. Wie er unruhig die Hände ineinander rieb, sich selbst verstohlen über die Schulter blickte, als sitze da jemand hinter ihm! Wie ihm der Schweiß von der Stirn rann! Das alles spornte sie nur noch mehr an. Nur, was war es? Es musste wirklich etwas Hundsgemeines sein, sonst würde er kaum so ein Affentheater veranstalten.

„Dad, du bist es mir schuldig. Du musst es mir einfach sagen. Ich verlange, dass du es mir sagst! Auch wenn es schrecklich ist, du musst es mir sagen! Du musst einfach!“

Ihre Stimme klang wie eine Kreissäge, die sich mühsam durch steinhartes Holz fräst. Sie kreischte, aber nicht so, wie man es tut, wenn man etwas will, es aber nicht bekommt, sondern wie jemand, der kurz vor einem apokalyptischen Wutausbruch steht. Das Kreischen bewirkte, dass ihr Vater noch mehr in sich zusammensackte, so sehr, dass er jetzt nicht einmal mehr der Gesteinssplitter eines winzigen Meteoriten war. Es fehlte nicht viel, und er hätte sich in Luft aufgelöst, wäre verglüht wie eine Sternschnuppe beim Eintritt in die Atmosphäre. Ist doch echt erstaunlich, was eine Stimme so alles bewirken kann.

Doch auf Sabine macht all das keinen Eindruck. Sie beschloss, auch weiter alles zu riskieren. Bis jetzt lief es gut. Sie musste nur weiter ihren Standpunkt vertreten und ihn irgendwie durchboxen. Dann würde alles zu ihrer Zufriedenheit ablaufen.

„Du musst es mir sagen! Du musst! Du musst! Du musst! Ich verlange es!“

„Aber Kind, versteh doch …“

„Ich verstehe, dass du es mir vorzuenthalten versuchst! Das verstehe ich sogar gut! Leider verstehe ich auch, dass du mich noch immer für ein kleines, unwissendes Kind hältst!“ In ihren Augen blitzte Zorn.

„Das tue ich doch gar nicht. Wie kannst du so etwas nur denken? Ich bin doch … ich kann …“

„Ich verspreche dir, dass du es mir sagen wirst. Koste es, was es wolle. Diesmal bleibe ich hart, steinhart, wenn es sein muss!“

„Aber, so hör mir doch mal zu. Es ist nicht so einfach. Und glaube mir: Du würdest dieses Wissen nur verfluchen.“

„Ach was, so schlimm wird es schon nicht sein!“

„O doch, das ist es. Und aus eben diesem Grund …“

„… muss ich es erfahren“, fiel sie ihm ins Wort. „Wenn es wirklich so schlimm ist, wie du sagst und es unsere Familie und somit auch mich betrifft, muss ich es wissen!“

„Aber Kind …“

„Lass endlich dieses dämliche ‘aber Kind’!“

Sie äffte ihn nach. Und obwohl sie schon vorher wütend gewesen war, steigerte sich ihre Wut in dem Moment, als sie es noch einmal aus ihrem eigenen Mund hörte, noch mehr. Sie fühlte, wie das Blut kochend heiß durch ihre Adern rauschte und Magensäure ihr bis hinauf in die Kehle stieg. Sie spürte die Anspannung auf ihrer Haut kribbeln wie Elektrizität. Und ihr Herz schlug so laut, als säße es nicht mehr in ihrer Brust, sondern zwischen ihren Ohren. Alles in ihr wartete auf eine Antwort.

„So hör doch …“ Das war nun ganz und gar nicht das, was sie erhofft hatte.

„Ich will von diesen Ausreden nichts mehr hören! Sag es mir endlich!“

Er hatte seine Tochter noch nie so aufgebracht gesehen, noch nie so wütend und unbeherrscht. Sie strotzte geradezu vor Verbissenheit. Alles an ihr strahlte pure, unverdünnte Angriffslust aus. Er fürchtete, dass ein einziger Funke genügen würde und sie ginge wie eine Dynamitkiste hoch.

Leider, und das musste er sich eingestehen, verstand er ihre Reaktion. Er hätte, wäre er an ihrer Stelle gewesen, genauso reagiert. Es war nicht nur eine bodenlose Gemeinheit, ihr die Wahrheit vorzuenthalten, es war auch eine Beleidigung ihrer Intelligenz. Hatte sie nicht ein Recht darauf, es zu erfahren? Ja, gewiss, das hatte sie. Aber es war so schrecklich. Und allein das war schon Grund genug, ihr nichts davon zu sagen. Doch früher oder später würde sie es ohnehin erfahren. Irgendwann würde er es ihr nicht mehr vorenthalten können …

An dieser Stelle hielt er inne mit seinem inneren Disput. Die Stimme seines Gewissens, mit der er so heftig focht, hatte einen wunden Punkt berührt. Doch nicht nur das: Sie hatte auch verdammt recht. Er war sicher, dass Sabine es irgendwann ohnehin herausfand, auf die eine oder andere Art (ihm war es ja schließlich auch gelungen) – spätestens jedoch, wenn das unerfreuliche Ereignis eintrat. Und jetzt fragte sein Gewissen mit einer Stimme, die ihm eine Gänsehaut bescherte: War nicht schon ein Teil geschehen? Hatte es nicht bereits begonnen? Denk nur an …

Er unterbrach die Stimme in seinem Inneren mitten im Wort. Nichtsdestotrotz konnte er es nicht unterbinden, über das eben Gehörte nachzudenken. Obwohl er schon oft bis zu diesem Punkt gekommen war, war es ihm immer wieder gelungen, zu schweigen. War das ein Fehler gewesen? Schließlich musste sie doch darauf vorbereitet sein. Oder etwa nicht?

Aber vielleicht passierte es ja gar nicht. Vielleicht übersprang es diese Generation und alles bleibt, wie es ist. Obwohl so viele schreckliche Dinge geschehen waren, so viel Schmerz erduldet worden war, schaffte es noch immer ein kleiner Teil seines Verstandes, an dieser mageren Hoffnung festzuhalten. Er pflichtete dieser Stimme sofort bei. Wer weiß, vielleicht hatte sie ja recht! Gehofft hätte er es allemal. Aber die Stimme seiner Vernunft war anderer Meinung. Du alter Narr, schimpfte sie, wie kannst du, nach allem was geschehen ist, tatsächlich noch an so was glauben? Es ernsthaft in Erwägung ziehen? Wie kann man nur so blöd sein? Es wird kommen, das steht fest! Die ersten giftigen Zeichen sind ja schon da. Denk doch nur an …

Ja, ja, schon gut, ich hab’s ja verstanden, schrie er der Stimme in Gedanken entgegen, noch bevor sie ihren Satz beenden konnte. Augenblicklich verstummte sie wie ein ungezogenes Kind. Er war verdammt froh, dass endlich wieder Ruhe in seinem Oberstübchen herrschte.

Er richtete seine ganze Aufmerksamkeit wieder auf seine Tochter und war überrascht, dass sie noch immer wie ein Tasmanischer Teufel durchs Zimmer tobte und Zeter und Mordio schrie.

„Du musst es mir sagen! Du musst! Du musst!“

Sie hatte also noch immer keine neue Platte aufgelegt. Eine seltsame Ruhe überkam ihn. Sie bemächtigte sich seiner wie eine unerwartete Tröstung und bewirkte, dass er sich endlich wieder etwas größer fühlte. Nicht mehr so winzig wie vorhin, als er gefürchtet hatte, in den Ritzen des Schaukelstuhles zu versinken. Je mehr ihn von dieser Ruhe durchströmte, umso größer kam er sich vor.

Sabine donnerte noch immer wie eine Diesellok, aber das war längst nicht mehr so einschüchternd. Natürlich hatte ihm seine Phantasie einen Streich gespielt. Selbstverständlich war er nicht geschrumpft, um keinen Millimeter. Aber es war ihm so vorgekommen. Es war höchst real gewesen, und es hatte ihn geängstigt. Gott sei Dank war es vorbei. Er kam sich nicht mehr wie ein Sandkorn vor, sondern wie ein Mann. Mit Augen, die seit Jahren nicht mehr so klar gewesen waren, sah er seine Tochter an. Sie war so schön, dass es ihm fast in den Augen schmerzte. Aber konnte man sich auf diese Empfindung verlassen? Findet nicht jeder Vater seine Tochter wunderschön? Ist sie nicht für ihn immer die Schönste unter der Sonne?

„Okay, ich sag es dir.“

„Was? Du machst was?“

Diesmal blieb ihr die Spucke weg. Sie hatte gebetet, hatte gefaucht wie eine Raubkatze, hatte gefleht, gebettelt und schließlich sogar mit dem Gedanken geliebäugelt, aus dem Haus zu gehen und nie wiederzukommen. Dann hätte der alte Trottel endlich gesehen, was er von seiner Sturheit hatte! Aber eigentlich hatte sie die Hoffnung schon aufgegeben. Das wäre durchaus keine Niederlage gewesen. Oh nein, sie hätte vielleicht die Schlacht verloren, aber der Krieg war noch nicht entschieden. Doch wie es jetzt aussah, brauchte sie vielleicht doch nicht mehr allzu lange zu warten.

„Ich werde es dir sagen“, wiederholte er, während sie ihn noch immer ungläubig anstarrte. „Es ist besser, du würdest dich setzen. Und vielleicht solltest du dir vorher einen Drink mixen. Einen starken. Du wirst es brauchen.“

Während er ihr das ans Herz legte, veränderte sich sein Gesicht. Es war nicht mehr das Gesicht eines Siebzigjährigen, sondern vielmehr eines Hundertsiebzigjährigen – freilich nur, wenn der Mensch so alt werden könnte. Es war von Altersflecken nur so übersäht, und die Falten in seiner Haut schienen die Größe des Grand Canyons zu haben. Trübsinnig starrten seine Augen auf einen Punkt irgendwo im Zimmer. Er wusste selbst nicht, warum er das tat. Er hätte genauso gut einen Staubfusel beobachten können, es hätte keinen Unterschied gemacht.

Sabine bereitete sich und ihrem Vater einen Drink zu. Sie ging davon aus, dass er auch einen haben wollte. Sein Gesichtsausdruck hatte jedenfalls danach ausgesehen. Einen extra starken. Als sie sich umdrehte und in das fremde, mittlerweile noch mehr gealterte Gesicht sah, kippte sie gleich noch etwas mehr Alkohol in die Gläser. Wer weiß, wozu es gut war! Sein Gesicht war nun nicht mehr das eines Hundertsiebzigjährigen, sondern die Fratze eines tausendjährigen giftigen Trolls. Es war in sich zusammengefallen und stumpf. Und es war vom Grauen gezeichnet.

Das war fast mehr, als sie ertragen konnte. Sabine leerte die zwei Gläser und kehrte zurück an die Bar, um zwei neue zu mixen. Um ein Haar hätte sie die auch wieder in sich hineingeschüttet. Sie musste sich zwingen, es nicht zu tun. Es gelang ihr, einigermaßen sicher zu laufen, obwohl ihre Beine sich anfühlten wie weichgekochte Spaghetti. Um nichts auf der Welt sollte ihr Vater sie so sehen. Der brachte es fertig und blies das Ganze wieder ab!

Als sie ihn schließlich erreichte und ihm den Drink in die Hand drücken wollte, sah sie mit Entsetzen (und der Anblick genügte, ihr einen eisigen Schauer über den Rücken zu jagen), dass nicht nur sein Gesicht erschreckend alt wirkte, sondern seine gesamte Erscheinung: Er machte einen Buckel wie eine Katze, seine Haut ähnelte uraltem Pergament, und seine Glieder zitterten ohne Unterlass. Sie biss erneut die Zähne zusammen, um sich nichts anmerken zu lassen.

Langsam ließ sie sich auf einem Sessel neben ihm nieder, nippte ein wenig an ihrem Drink und sah ihn ruhig an. Die beiden anderen begannen bereits zu wirken; sie sah jetzt dem, was kommen mochte, etwas ruhiger entgegen. In ihrem Bauch war es warm, und in ihrem Kopf drehte es sich.

Ihr alter Herr ließ die Fingergelenke knacken. Sie hasste es, wenn er das tat, aber heute registrierte sie es kaum. Viel zu sehr war sie über sein Äußeres bestürzt.

Ungeschickt fingerte er nach seinem Glas und hatte Mühe, es auch nur anzuheben. Es verging fast eine Minute, bis er es endlich an seinen Mund geführt hatte. Die Vorbereitung nahm zwar einige Zeit in Anspruch, aber das Trinken klappte wie von allein: Innerhalb von einer Sekunde war das Glas leer. Der Drink tat verdammt gut, aber auf einem Bein konnte man nicht stehen. Also erhob er sich schwerfällig, wobei seine Knochen knackten, und stolperte zur Hausbar. Und obwohl er mehr schlich als ging und Sabine hochsprang, als er sich erhob, erreichte sie die Bar erst nach ihm.

Keiner der beiden sagte ein Wort, als sie nebeneinander standen und sich einen weiteren Drink mixten. Und sie sprachen auch nicht, als sie wieder zu ihren Plätzen zurückgingen. Sabine wurde schmerzhaft an eine Beerdigung erinnert. Das gleiche Gefühl überkam sie auch jetzt; die Stimmung war genauso erdrückend und ernst. Aber es war nicht nur das – es war noch etwas anderes.

Sie saßen einander ein paar Minuten schweigend gegenüber, nippten an ihren Gläsern und wussten nicht recht, wie sie sich verhalten sollten. Natürlich ahnten beide, dass bald eine Veränderung eintreten würde. Doch nur ihr Vater wusste, was diese für Ausmaße haben würde …

Sabine rutschte auf ihrem Sessel herum. Sie konnte keine Sekunde still sitzen. Sie fieberte dem Moment entgegen, wo sie es endlich erfahren würde. Ganz anders ihr Vater. Er wäre am liebsten im Boden versunken. Nur weg von hier, weg, schrie es in seinem Hirn.

Schließlich war Sabine sich nicht mehr sicher, ob sie es wirklich noch wissen wollte. Der besorgte Gesichtsausdruck ihres Vaters und seine kummervoll zusammengesunkene Gestalt gaben ihr doch zu denken. Doch sie verbannte Zweifel und Unentschlossenheit in einen finsteren Kerker, verrammelte die Tür und warf den Schlüssel weg.

„Nun“, begann sie, „du hattest etwas vor!“

„Was? …? Ach so, ja.“

Noch immer dieser Gesichtsausdruck, als wolle er trotz seines Versprechens noch immer schweigen. Für Sabine sah das nach einer erneuten Hinhaltetaktik aus. Doch damit täuschte sie sich. Sie sah nicht das angstvolle Flackern in seinen Augen, bemerkte nicht die Schweißtropfen, die wie Perlen auf seiner Stirn standen. Und selbst wenn sie sie gesehen hätte, wäre es in ihren Augen Ablenkungsmanöver gewesen. Ihrer Meinung nach wollte er sie so lange hinhalten, bis sie das Interesse verlor. Doch darauf konnte er warten, bis er schwarz wurde! Eher mache ich einen Handstand und fange mit meinem Arsch Fliegen, als dass diese Rechnung aufgeht! Das steht fest! Hundertprozentig!

„Und? Wann gedenkst du, es mich wissen zu lassen?“

„Kind, willst du nicht lieber …? Es ist besser, wir vergessen das Ganze und widmen uns wieder der Normalität.“

Also doch, dachte Sabine, hab ich’s doch gewusst.

Ihre Augen schossen giftige Pfeile in seine Richtung. Sie erstarrte, und für einen Moment spielte sie mit dem Gedanken, ihm an den Hals zu springen. Durfte sie so etwas denken? Er war doch ihr Vater! Doch sie war wütender als eine Raubkatze, die beim Fressen gestört wurde und entschlossen, es nicht zu verbergen. Sollte er doch merken, dass es ihr verdammt ernst war!

„Du weißt …, du weißt doch gar nicht, was dich erwartet. Du weißt nicht, was es ist. Nur deswegen bist du so erpicht darauf. Es ist schrecklich. Du kannst dir nicht mal ansatzweise vorstellen, wie sehr du…“

„Vater, sag es mir endlich! Sonst … sonst … sonst schwöre ich bei Gott, ich gehe durch diese Tür, verlasse dieses Haus und komme nie wieder zurück! Überleg dir, was dir lieber ist!“

Jetzt war es heraus. Sie hatte ihn nicht erpressen wollen, und die Worte kamen ihr nur schwer über die Lippen. Aber jetzt, da sie gesagt waren, bereute sie sie nicht. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Sie hatte ihrem Vater das Messer an die Brust gesetzt, und nun lag es an ihm, eine Entscheidung zu treffen.

Und er dachte tatsächlich nach – allerdings ganz anders, als Sabine es vermutete. Er wog das Pro und Contra des Vorschlages genau ab. Ja, er nannte es einen Vorschlag, denn auch ihm war der Gedanke schon gekommen. Auch er liebäugelte heimlich damit, sie wegzuschicken, sie wie einen räudigen Kojoten einfach fortzujagen. Und diese Vorstellung übte einen gewissen Reiz auf ihn aus. Er war zwar nicht besonders erpicht darauf, von seiner Tochter getrennt zu sein und sie vielleicht nie wiederzusehen (denn das brachte das Ganze ja mit sich), doch er hatte die vage Hoffnung, dass das das Beste für sie sein könnte. Vielleicht hatte sie ja so eine Chance, IHR zu entkommen? Darüber dachte er nicht zum ersten Mal nach. Oh nein, ganz und gar nicht. Doch wie immer kam er auch diesmal zu dem Ergebnis, dass damit niemandem gedient war, am allerwenigsten ihr. So wäre sie nur auf sich allein gestellt. Und SIE würde ihr zweifellos folgen. Nein, so ging es auch nicht. Dann schon lieber das Geheimnis preisgeben …

Er war überrascht, wie viel Zeit verging, während er diese Gedanken spann. Sein Glas war schon wieder leer, er musste es ausgetrunken haben. Allerdings überraschte es ihn nicht, dass Sabine ihm noch immer gegenüber saß. Er kam sich vor wie bei einem Verhör. Sabine beobachtete jede seiner Bewegungen. Er hatte das Gefühl, dass ihre Augen sich regelrecht in sein Fleisch brannten. Für einen Moment war es so real, dass er sein verkohltes Fleisch sogar zu riechen glaubte … Was für ein Wahnsinn!

„Könntest du wohl mein Glas nachfüllen?“

„Also wirklich … das ist doch.“

Jetzt war es soweit. Jetzt würde sie gleich aufspringen und ihren eigenen Vater, den Menschen, der sie gezeugt hatte, erwürgen. Doch der Drang verflog glücklicherweise wieder, und es gelang ihr schließlich sogar, ein freundliches Lächeln aufzusetzen, in dem allerdings ein Schuss Bitterkeit nicht fehlte.

„Na schön, ich hol dir deine Brühe. Aber dann hörst du endlich damit auf, wie eine Katze um den heißen Brei rumzuschleichen. Einverstanden?“ Sie war erstaunt, wie freundlich ihre Worte klangen.

„Ich denke, ja.“

„Fein. Dann ist ja alles geklärt. Überleg dir schon mal, mit was du anfangen willst! Ich werde schnell wie ein geölter Blitz wieder zurück sein, und dann will ich endlich was hören! Und bitte keine Ausflüchte mehr, sonst kriege ich, glaub ich, einen Schreikrampf, bis es mir die Schädeldecke sprengt!“

Kaum hatte sie ihren Vortrag beendet, da stand sie auch schon auf und mixte neue Drinks. Und als sie sich wenig später wieder neben ihn setzte, begann er endlich zu reden. Und im Stillen pflichtete sie ihrem Vater bei: Im Nachhinein hätte sie gern darauf verzichtet, es zu erfahren. Aber jetzt war es dafür zu spät.

Ihr Vater nippte noch einmal an seinem Drink. Es war unmöglich zu erkennen, ob er ihm schmeckte. Ja, es schien sogar so zu sein, dass er den Geschmack gar nicht bemerkte.

„Ich weiß nicht recht, wo ich beginnen soll …“

„Ich würde vorschlagen, du versuchst es am Anfang“, entgegnete Sabine genervt. Sie vermutete schon wieder Ausflüchte.

„Ja, das wird wohl das Beste sein“, antwortete darauf ihr Vater, der von ihrem Unmut nichts bemerkte.

„Es liegt bereits ein paar Jahrhunderte zurück. Es war … es war die Zeit der Hexenverfolgungen. Du wirst davon gehört haben. Die Zeit, als jede Frau, die rotes Haar trug, Ehebruch beging, bei irgendjemandem Neid erregte oder einfach nur andere Ansichten vertrat als die Kirche, auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde. Ich übertreibe bestimmt nicht, wenn ich behaupte, dass das damals eine ganz schön heiße Zeit war. Zumindest für die, die verbrannt wurden.“

„Das ist nicht dein Ernst. Du erzählst mir …“

Doch er ließ sich nicht beirren. „Heute wissen wir natürlich, dass diese armen Frauen ein Opfer des Aberglaubens wurden. Doch, und das ist in meinen Augen das Tragische, nicht alle starben wegen dieses hirnrissigen Aberglaubens. So manche wurde ein Opfer infamer Lügen und Intrigen. Also im Großen und Ganzen fast das gleiche wie heute. Nennen wir das Kind beim Namen: Wenn jemand, wer auch immer es sein mochte, irgendeine andere Person nicht leiden konnte, aus welchem Grund auch immer, beschuldigte er sie kurzerhand der Schwarzen Magie. Damals war man mit dem Feuer schnell zur Hand – sehr zum Leidwesen der Beschuldigten.“

„Ich verstehe nicht. Was hat das alles mit uns zu tun?“

Er holte noch einmal tief Luft. Er wusste, dass er jetzt nicht mehr viel Zeit hatte und sich beeilen musste. Und er wusste auch, dass das Unvermeidliche bald geschehen würde.

„Für eine ganze Reihe zänkischer Weibsbilder wurde es regelrecht zu einem Sport, jeden, den sie nicht leiden konnten, der Hexerei zu beschuldigen. Und eine von ihnen, eigentlich die Schlimmste von allen, war eine unserer Vorfahren. Sie brachte seinerzeit an die dreißig Frauen auf den Scheiterhaufen. Warum sie das tat, ist aus unseren Annalen leider nicht ersichtlich. Ich vermute aber, dass sie einfach ein gehässiges Miststück war und gar nicht anders konnte. Wenn man einmal vergaß, ihr einen Guten Morgen zu wünschen, fing sie bereits zu geifern an: Sie ist eine Hexe, sie ist eine Hexe, so helft mir doch, sie will mir das Augenlicht rauben! So ähnlich stelle ich es mir jedenfalls vor, und bestimmt liege ich damit nicht ganz falsch. Wie dem auch sei: Sie hat in ihrer Zeit bestimmt mehr Menschen den Tod gebracht als Jack the Ripper. Irgendwann aber, als sie mal wieder ihr ‘Arrgh, sie ist eine Hexe, verbrennt sie, verbrennt sie!’ runtergespult hatte, geriet sie an die Falsche. Es war genauso wie sonst, nur sollte es diesmal anders enden. Es begann schon damit, dass diese Frau nicht wie am Spieß schrie ‘Ich bin keine Hexe, ich bin keine Hexe, ihr irrt euch, ich bin keine Hexe!’ Sondern sich seelenruhig zum Scheiterhaufen führen ließ. Als wüsste sie gar nicht, wie ihr geschah. Vielleicht wusste sie es aber auch nur zu gut. In ihrem Gesicht stand auch nicht Todesangst, wie bei allen anderen. Und dann, als ihr Haar und ihre Kleider bereits lichterloh brannten, schrie sie nicht, wie all die bedauernswerten Frauen vor ihr, sondern begann lauthals zu lachen. Es muss ein schauriges Lachen gewesen sein. Du kannst dir sicher die Gesichter der Anwesenden vorstellen. Damals wollte ja jeder bei so einem Spektakel dabei sein, nur die Hauptrolle übernahm niemand freiwillig … Während sie also lachte, kreischten und schrien die anderen. Doch das war bei weitem nicht das Schlimmste. Nur wenige Augenblicke später nämlich brach ihr Lachen abrupt ab, und sie begann mit fröhlicher, aber unheilverkündender Stimme zu sprechen. Jetzt schrien und kreischten die anderen nicht mehr. Auf einmal herrschte eine gespenstische Ruhe, nur unterbrochen von dieser Stimme. Sie redete, als gäbe es die Flammen auf ihrer Haut gar nicht. Und sie sah dabei dieses Miststück von einer Ahnin an. Es war, als ob sie sie mit ihren Augen durchbohren wollte.

‘Du hast vielen Menschen Unheil und Leid gebracht‘, kam über ihre Lippen, die man im grellen Licht der Flammen kaum sehen konnte, sie schienen regelrecht zu kochen. Die Menge, in deren Mitte unsere feine Verwandte stand, bildete einen Kreis um sie herum, und dieser Kreis wurde mit jedem Wort, das die Brennende sprach, größer. ‘Ich verfluche dich! Ich verfluche dich und deine Sippe bis zum Ende aller Tage! Du hast dir diesmal die Falsche ausgesucht! Diesmal hast du ins Schwarze getroffen! Ich bin eine Hexe! Alle deine Familienangehörigen und auch die, die es in Zukunft noch werden, werden einen frühen, unerwarteten und schmerzhaften Tod sterben!’ Schließlich loderte sie wie eine Fackel, aber brachte es tatsächlich fertig, wieder lauthals zu lachen. Überall erbrachen sich die Menschen, kippten ohnmächtig nach hinten oder standen nur fassungslos da, zu keiner Regung imstande.

Und da, ganz plötzlich, von einem Augenblick auf den nächsten, verschwand die Brennende. Sie verschwand einfach, löste sich in Luft auf. In der einen Sekunde war sie noch auf dem Scheiterhaufen angebunden, und in der nächsten war sie weg. Auch das Feuer war aus. Noch nicht einmal das Holz glomm noch. So, als hätte das Ganze nie stattgefunden. Das einzige, was Zeugnis von dem Vorfall ablegte, war das Echo ihrer Worte. Noch minutenlang tönte über ihren Köpfen der Satz: ‘Ich verfluche dich, ich verfluche dich und deine Sippe bis zum Ende aller Tage!’

Von da an wurde unsere reizende Verwandte von allen gemieden. Selbst die, die mit dem Verurteilen immer so schnell bei der Hand gewesen waren, machten nun einen Bogen um sie. Ein paar Monate blieb alles ruhig. Doch dann, eines Tages, sie hatte es schon fast vergessen, begann das Sterben in unserer Familie. Sie fielen um wie die Fliegen. Nur ihr jüngster Sohn überlebte. Aber auch nur, damit er eine eigene Familie gründen konnte und dann … na ja, den Rest kannst du dir sicher denken.“

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9783754180617
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