Читать книгу: «Der Zorn der Hexe», страница 4
Und als dieser Teil der Tragödie endlich endete und sein Leichnam abtransportiert wurde, lief sie mit bis zu der schwarzen Limousine. Bis dahin war ihr alles vorgekommen wie ein Alptraum. Doch dann, als sie den schwarzen Leichenwagen vor dem Haus parken sah und mit ansehen musste, wie ihr über alles geliebter Vater hineingeschoben wurde, begriff sie die Wahrheit. Wie vom Donner gerührt blieb sie stehen. Und dann liefen ihr die Tränen.
An all das erinnerte sie sich. Aber nicht daran, wie die Tür verschlossen worden war. Wie zum Teufel war es möglich, dass sie es jetzt war?
Sie lief ein Stück an der Steinwand entlang, beäugte sie und drückte ihre Nase an jedem Stein platt. Sie war verdammt nah an ihr dran, konnte aber beim besten Willen kein Anzeichen dafür entdecken, dass sie vor nicht allzu langer Zeit berührt worden war. Nicht der kleinste Fingerabdruck, obwohl das doch eigentlich unmöglich war. Hier unten war doch überall Staub, und ausgerechnet an den Steinen war keiner. Wie war das nur möglich?
Konnte sie die Geduld aufbringen, jeden einzelnen zu drücken? Und selbst wenn sie das täte, würde es etwas nutzen? Was war, wenn sie in einer bestimmten Reihenfolge gedrückt werden mussten? In einer Art Code? Wenn dem so war, hatte sie hier unten ein Weilchen zu tun. Ob sie die Kraft dafür haben würde? Das wusste sie nicht, aber sie war wild entschlossen, es herauszufinden.
Sie wollte sofort beginnen. Sie strotzte nur so vor Tatendrang. Doch dann überlegte sie, dass es besser wäre, bis zum Tag zu warten. Jetzt war es dunkel und unheimlich hier unten, und selbst die Lampe an der Decke machte es kaum heller. Vielleicht stiegen so auch ihre Chance auf Erfolg? Ja, das war eine gute Idee. Sobald der Tag angebrochen ist, werde ich mit meiner Arbeit hier anfangen. Dann bin ich auch ausgeschlafen, dachte sie.
Sie knipste das funzelige Licht aus, schlurfte in Richtung Bett und fiel der Länge nach hinein. Da schlief sie schon halb. Das Letzte, was sie sagte (aber davon bekam sie schon gar nichts mehr mit), war: „Er hat etwas gesehen“.
2. Kapitel
2. Kapitel
Es war nun schon der zweite Tag, an dem es wie aus Eimern schüttete. Und die Wolken hingen tief.
Sabine stand am Schlafzimmerfenster, hielt einen Becher Kaffee in der Hand, nippte ab und an daran und blickte hinaus in die wässrige Welt. Bei diesem elenden Wetter würde man nicht einmal einen räudigen Köter vor die Tür setzen. Doch eigentlich war ihr das Wetter egal. Sie hatte ohnehin nicht vor, vor die Tür zu gehen. Wozu auch? Es gab hier im Haus genug zu tun. Sie konnte beispielsweise die Böden wischen, die Sachen ihres verstorbenen Vaters sortieren, oder … oder …
Es gab so viel zu tun. Die Zeit sollte ihr doch nun wirklich nicht lang werden, oder? Sie konnte sogar versuchen, in die geheime Kammer vorzudringen. Und das war doch ein richtig guter Vorschlag. Zumindest wollte man das meinen. Allerdings war sich Sabine jetzt gar nicht mehr sicher, ob sie dort wirklich noch einmal hinein wollte. Schließlich war es der Raum, in dem ihr Vater in ihren Armen gestorben war. Der Mann, dem sie so viel zu verdanken hatte, der sie … Doch weiter wollte sie nicht denken.
Sie schüttelte heftig den Kopf und trank einen Schluck. Die Wunde war noch zu frisch, zu klaffend, als dass sie diese Gedanken zulassen konnte. Vielleicht fürchtete sie ja auch das, was sie dort drinnen vorfinden mochte? Möglich war vieles, vor allem bei mehr als fünfhundert Jahren Familiengeschichte … Das ist doch Blödsinn. Warum sollte sie sich fürchten? Die waren alle tot, vor denen hatte sie nichts zu befürchten. Aber die Geschichten, die sie da lesen würde … Egal, sagte sie sich, das kommt in allen Familien vor, schwarze Schafe gibt es überall.
Und doch scheute sie den Gang in den düsteren Keller. Warum blieb sie wohl sonst hier stehen und starrte in den Regen? So spannend war das nun auch wieder nicht …
Lag es an dem, was ihr Vater gesagt hatte? Hatte die alte, düstere Legende sie tatsächlich beeindruckt? Nun komm aber mal wieder runter, Mädchen! Daddy wollte dir nur einen Streich spielen, weiter nichts! Willst du ihm am Ende doch noch auf den Leim gehen?
So einfach war das jedoch nicht. Sie hatte nämlich begonnen, ihrem Vater zu glauben, ohne es selbst zu merken. Bei all den alten Papieren und Akten und Dokumenten da unten musste einfach mehr im Spiel sein, als sie anfänglich geglaubt hatte … Kunststück, Kindchen, sprach eine Stimme in ihrem Kopf (und sie klang verdächtig nach ihrem Vater), das liegt bestimmt daran, dass das alles wahr ist! Doch dann war da wieder eine andere Stimme, die sagte: Lass bloß die Kirche im Dorf, glaub auf keinen Fall diesem Ammenmärchen!
In diesem Augenblick drehte der Wind; der Regen prasselte hämmernd gegen das Fenster. Sabine war so in Gedanken, dass sie erschrak und einen Schritt zurückwich – und dafür erntete sie von ihrer inneren Stimme Hohn und Spott. Ihr Herz schlug heftig, und ihre Augen waren weit geöffnet. Ihr war etwas in den Sinn gekommen.
Warum sollte sie eigentlich die Zeit damit vertrödeln, herauszufinden, wie die Steine gedrückt werden mussten? Wozu das ganze Theater? War eine Axt nicht viel praktischer und vor allem schneller? Ohne Frage – allerdings würde das voraussetzen, dass sie sich bereits entschieden hatte. Hatte sie? Und da erkannte Sabine, dass sie sich entschieden hatte. Sie hatte einen Entschluss gefasst. Während sie noch darüber nachgedacht hatte, war sie zu der Erkenntnis gelangt, dass sie dem Ganzen auf den Grund gehen musste. Nicht nur, weil sie von Natur aus neugierig war, sondern auch, weil es nun einmal ihre Familie betraf. Und scheinbar war es sogar so wichtig, dass ihr Vater es ihr bis kurz vor seinem Tod hatte verheimlichen wollen …
Sie trank den letzten Schluck Kaffee, stellte den Becher auf ihren Nachttisch und verließ das Zimmer. Sollte der Becher doch da stehen bis zum Sankt Nimmerleinstag. Es war ihr egal. Sie hatte Wichtigeres zu tun. Sie hatte ein Geheimnis zu lüften. Und da würde ihr eine versteckte Tür kein Hindernis sein.
Es war eine gute Idee gewesen, bis zum Tag damit zu warten. Hier unten war es jetzt ungleich heller als in der Nacht. Und natürlich auch, weil ihr der Einfall mit der Axt gekommen war. Hätte sie es wirklich noch in der Nacht versucht, hätte sie nur planlos Steine angetippt. Und das wäre nun wirklich eine Sisyphusarbeit gewesen. Außerdem war es mehr als fraglich, ob sie je damit zum Ende gekommen wäre.
So aber stand sie jetzt vor der Wand, im hell erleuchteten Keller, und die Sache sah ein kleines bisschen anders aus, denn Tageslicht fiel durch die Kellerfenster.
„Ich muss mehr für meine Muckis tun“, sinnierte sie laut vor sich hin, „die verdammte Axt wiegt ja mindestens eine Tonne!“ Da wusste sie noch nicht, wie sehr ihre Muskeln erst am Abend schmerzen würden.
Nur einen Augenblick lang gingen ihr noch Zweifel durch den Kopf. War es richtig, was sie hier tat? Was wohl ihr Vater dazu gesagt hätte? Lohnte sich der Aufwand überhaupt? Glaubte sie wirklich an das Gehörte? Dann schlug sie das erste Mal zu.
Obwohl sie nach wie vor nicht wusste, was sie von dem Ganzen halten sollte, drosch sie wie eine Besessene auf die Wand ein. Und da es, wie sich jetzt herausstellte, nur um Gipsplatten handelte, die mit Holzpaneelen verkleidet waren, ging es zügig voran. Sie brauchte nur knapp dreißig Schläge, um ein Loch hineinzukriegen, groß genug, um hindurch zu schlüpfen. Es waren also nicht viele Schläge nötig, überraschend wenige sogar. Allerdings hatte sie weit ausholen müssen, und allzu oft fuhr ihr, wenn sie die Axt über ihrem Kopf schwang und ihren ganzen Körper anspannte, ein brennender Schmerz durch die Muskeln. Da ahnte sie schon, dass sie einen hohen Preis hierfür würde zahlen müssen.
Aber das war im Moment egal. Sie hatte ein Loch, einen Eingang, durch den sie gehen konnte, ein Grund zur Freude. Außerdem war ihr Körper so angespannt, hatte so viel Adrenalin produziert, dass sie von Schmerzen erst einmal noch gar nichts mitbekam.
Zu ihren Füßen lagen Gipsbrocken und Stücke der Holzpaneele, mal größere, mal kleinere. Und eine ganze Menge Staub hing in der Luft. Die Axt rutschte ihr aus der Hand, polterte zu Boden. Jetzt, da sie ihr Gewicht nicht mehr spürte, merkte sie erst, wie schwer sie gewesen war. Es grenzte an ein Wunder, dass sie das Ding überhaupt hatte heben können, von den weit ausholenden Schlägen ganz zu schweigen. Und doch hatte sie es geschafft. Sie war stolz auf ihr Werk und betrachtete es wie eine Malerin ihr neuestes Gemälde.
Sie wartete noch etwas, bis der Staub sich ein wenig gelegt hatte (sie wollte schließlich sehen, wohin sie lief und sich nicht blind vorantasten), dann betrat sie den geheimen Raum.
Beim ersten Besuch war er ihr größer vorgekommen, viel größer. Aber vielleicht lag das daran, dass sich in letzter Zeit so viel verändert hatte – und an dem, was sich in diesem Raum zugetragen hatte. Doch daran wollte sie jetzt nicht denken. Sie musste einen klaren Kopf behalten und … doch das war leichter getan als gesagt. Immer und immer wieder sah sie ihren Vater in ihren Armen sterben.
Unter ihren Füßen knackten Holzsplitter, aber sonst war es ruhig – so ruhig, dass sie das Blut durch ihre Adern rauschen hören konnte. Die Spannung in der Luft war schier greifbar; Sabine war gespannt, was sie hier unten finden würde.
Sie lief noch ein Stück tiefer in den Raum hinein, und ihre Schuhe klapperten auf den Fliesen. Als sie die Mitte erreicht hatte, blieb sie stehen und sah sich um. Erst jetzt bemerkte sie, dass das Licht die ganze Zeit über gebrannt hatte. Was mag das an Strom gekostet haben, dachte sie sinnlos.
Hier drinnen sah es aus wie in einer Bibliothek: Es wimmelte regelrecht von Akten, Papierstücken und Dokumenten. An den Wänden standen hohe Regale, die bis zu der Decke reichten. Links, rechts, vor ihr und hinter ihr nur Regale, nichts als Regale. Es musste eine unvorstellbare Arbeit gewesen sein, das alles zusammenzutragen. Wer hatte diese Geduld gehabt? Wer konnte so viel Zeit haben? Und was hatte er sich davon erhofft? Das lag noch im Dunkeln. Aber sie hoffte, hier unten die Antworten zu finden.
Die Luft war muffig und abgestanden. Das war etwas, das sie beim ersten Mal nicht bemerkt hatte. Sie war irgendwie feucht und roch uralt, als öffne man in einer ägyptischen Pyramide die Grabkammer. Kein Eau de Toilette, das man zu einem festlichen Anlass aufträgt. Eher ein Duft, bei dem man alles stehen und liegen lassen will, um schnellstmöglich wieder an die frische Luft zu kommen ... Doch Sabine widerstand dem Drang und blieb. Wegzulaufen hätte nichts genutzt. So hätte sie nie Antworten erhalten. Und war sie das ihrem Vater nicht schuldig?
Sie blieb also, und je länger sie hier unten war, umso weniger schien sie es zu bemerken.
Sabine drehte sich einmal um ihre Achse und bestaunte die Akten und Papierrollen. Sie lagen hier nun schon seit wer weiß wie vielen Jahren und warteten darauf, von ihr gelesen zu werden. Was sich wohl für Wissen in ihnen verbarg? So viele Jahrhunderte, in denen die Geschichte ihrer Familie aufgezeichnet worden war. Ein unvorstellbarer Schatz. Aber auch ein dunkles Kapitel bergend, wie ihr Vater ihr anvertraut hatte. Und dieses dunkle Kapitel galt es nun zu finden …
Sie lief auf den Schreibtisch zu und knipste die Arbeitslampe an. Sie bestrahlte lose Blätter auf dem Tisch. Einen Moment überlegte sie, sie zu studieren, entschied sich dann aber dagegen. Scheute sie, was sie erfahren konnte? Vielleicht war sie auch nur nicht konzentriert genug. Sie wusste es nicht. Sie war noch immer viel zu verblüfft, musste das alles erst einmal begreifen. Aber genau das war hier unten nur schwer möglich. Hier war ihr Vater gestorben.
Sabine begriff: Hier würde sie nichts erreichen. Hier führte jeder Weg wieder nur zu ihrem Vater. Und genau das wollte sie nicht. Schließlich schmerzte es so schon genug.
Nein, es gab keine Alternative. Sie musste von hier verschwinden. Wenn sie etwas erreichen wollte, musste sie von hier weg. Aber wenn sie unverrichteter Dinge die Beine in die Hand nahm, erreichte sie nichts. Dann würde sie ihre Neugier nie befriedigen können. Und konnte ihrem Vater auch nicht jenen letzten Gefallen tun, denn das hätte er sich, im Nachhinein betrachtet, gewiss gewünscht. Natürlich nur, wenn er ihr mit seiner haarsträubenden Geschichte keinen Bären aufgebunden hatte. Falls nicht, tat sie gut daran, sich nicht zu lange hier aufzuhalten. Am besten würde es sein, den Raum zu verlassen und nie wieder hierher zu kommen – zumindest nicht in absehbarer Zeit. Und da war sie wieder bei dem Gedanken, den sie in letzter Zeit mehrmals gedacht hatte: das Haus verkaufen, irgendwo anders ein neues Leben anfangen.
Zu Lebzeiten ihres Vaters wäre ihr das nie in den Sinn gekommen. Doch diese Zeiten waren vorbei. Ihr Vater lebte nicht mehr. Sie konnte tun und lassen, was sie wollte. Ihr seliger Herr Vater hätte bestimmt nichts dagegen gehabt, wenn sie …
Schluss! Aus! Vorbei! Ich muss hier weg. Viel zu spät hatte sie gemerkt, dass sie wieder bei ihrem Vater gelandet war. Es war wie verhext. Sie musste hier raus, in die obere Etage, wo es warmes, angenehmes Tageslicht gab, wo es nicht so unheimlich war und wo sie auch nicht diese Erinnerungen heimsuchten.
Als sie eben daran gedacht hatte, dass es hier verhext zuging, waren ihr augenblicklich die Worte ihres Vaters eingefallen: „Die alte Hexe hat unserer Familie nichts als Trauer und Schmerz gebracht.“ Ob das genau seine Worte gewesen waren, wusste sie nicht. Dazu war es schon zu lange her. (Lange? Lange? Was verstehst du unter lange? Die paar Tage?)
Sabine schnappte sich einen Stapel Papiere, so viel, wie sie tragen konnte und machte augenblicklich kehrt. Noch nie war ihr Verlangen, von irgendwo zu verschwinden, so stark gewesen wie in diesem Moment. Ja, es war richtig. Sie musste von hier weg. Und als sie die Kellertür hinter sich schloss, fühlte sie sich gleich besser.
3. Kapitel
3. Kapitel
Seit drei Tagen war Sabine nicht mehr im Keller gewesen. Und in dieser Zeit hatte sie so wenig wie möglich an dort unten gedacht. Sie hatte noch nicht einmal einen Blick in die Schriftstücke geworfen. Sie hatte sie nur hinaufgebracht und dann irgendwo achtlos fallen gelassen. Wo sie wahrscheinlich auch heute noch lagen.
Die letzten drei Tage waren alles andere als produktiv gewesen. Und das passte ihr auch ziemlich gut so. Hatte sie allen Ernstes geglaubt, sie wolle dieses dunkle Geheimnis ergründen? Anfangs ja, aber nachdem sie aus dem Keller geflüchtet war, kamen ihr nicht nur Zweifel, sie fühlte sich von dem Schock, den die Begegnung mit dem düsteren Raum und den unzähligen Dokumenten ausgelöst hatte, ernüchtert. Jetzt war sie nicht mehr so begeistert. Vielmehr hatte nacktes Entsetzen sie gepackt, Grauen. Und das war selbst für ihre neugierige Ader zu viel.
Doch das war vor drei Tagen gewesen. Seitdem hatte sich manches verändert. Nun war sie wieder interessierter. Vielleicht lag es daran, dass sie Abstand gewonnen hatte. Vielleicht aber auch nur daran, dass ihre Neugier langsam doch wieder die Oberhand gewann. Aus welchen Gründen auch immer: Als sie heute Morgen die Augen aufgeschlagen hatte, wusste sie mit einem Mal, dass sie etwas unternehmen musste, dass es so nicht weitergehen konnte. Sie musste endlich wieder die Fäden in den Händen halten. Das war sie ihrem Vater schuldig. Er hatte ihr nicht beigebracht, die Hände in den Schoß zu legen, passiv zu leiden. Nein, hatte er nicht. Er hatte ihr einen gewissen Tatendrang eingebläut. Und eben dieser Tatendrang verlangte von ihr, aktiv zu werden. Ihr Vater hätte sich in seinem frischen Grab umgedreht, wenn er gewusst hätte, wie faul sie hier auf ihrem Hosenboden saß!
Sie griff sich also die alten Dokumente, die kreuz und quer im Haus herumlagen und ging mit ihnen in die Küche, in deren Mitte ein großer Arbeitsbereich war. Das war praktisch, denn die Küche war ein heller Raum, der noch dazu über jede Menge Lampen verfügte. Und das war nötig.
Sabine hätte es nie laut gesagt und sie hätte es sich auch nie eingestanden – aber sie hatte Angst. Sogar eine gehörige Portion davon. Sie hatte buchstäblich die Hosen gestrichen voll. Und da war es beruhigend, in einem Raum zu sitzen, der nicht nur groß war, sondern auch taghell. Mal sehen, vielleicht wirkte es ja, und ihre Angst hielt sich so in Grenzen. Gewünscht hätte sie es sich jedenfalls.
Das Papier fühlte sich eigenartig rau an, hart und grob, aber vielleicht waren ihre Finger auch nur zu empfindlich. Vielleicht saß ihre Angst so tief, dass sie sich vor jedem Wimpernschlag erschreckte? Das alte Blatt zitterte in ihren Händen wie Espenlaub. Das war jedoch nicht verwunderlich, denn ihren Händen erging es kaum anders. Bei denen war es sogar noch schlimmer.
Im ersten Augenblick sah sie verständnislos auf das Blatt, ohne überhaupt etwas zu sehen. Dann aber formten sich schemenhaft die ersten Buchstaben. Lesen konnte sie es trotzdem nicht – als wäre der Text vor ihr in einer fremden Sprache geschrieben, die sie weder lesen noch verstehen konnte.
Auch nach einer weiteren Minute konnte sie es nicht lesen.
Und nach einer weiteren auch nicht.
Sie saß nur da, hielt das Blatt in der Hand und starrte darauf. Allmählich begann sie an ihrer geistigen Gesundheit zu zweifeln. Hatte sie etwa zu lesen verlernt? Es konnte eigentlich gar nicht anders sein. Warum hätte ihr Vater diese Texte in einer anderen Sprache verfassen sollen? Nein, das hatte er nicht. Sie konnte es nur nicht lesen, und das war beängstigend. Lesen war doch etwas Natürliches, Selbstverständliches, etwas, ohne das man gar nicht mehr auskam in dieser Welt. Und doch, sie schien es verlernt zu haben. So merkwürdig es auch klingen mochte: Sie schien es tatsächlich verlernt zu haben.
Mittlerweile war eine weitere Minute vergangen, in der sie verständnislos das Blatt angestarrt hatte. Falls sie noch Zweifel hatte, nun hätten sie eigentlich beseitigt sein müssen. Das Blatt vor ihr war von oben bis unten beschrieben. Doch sie begriff den Text nicht. Sie begriff ihn einfach nicht.
Eine weitere Minute verstrich.
Und dann noch eine.
An den Buchstaben konnte es nicht liegen, die lagen direkt vor ihr. Und da begriff sie es endlich: Es war gar nicht der Text, den sie nicht begriff, sondern der Inhalt. Denn nun konnte sie den Text lesen, und damit kam ihr die Erkenntnis. Es war einzig und allein der Inhalt, der sich ihrem Verständnis entzog. Der Inhalt mit all seinen unschönen Einzelheiten. Ihn konnte und wollte sie nicht begreifen. Ihr Gehirn sträubte sich dagegen, das Gelesene zu verarbeiten, es zu etwas Verständlichem zu machen. Es beließ es lieber so, wie es war, als ein Kauderwelsch, den Sabine zwar lesen konnte, den sie aber nicht verstand.
Da stellte Sabine sich endlich die Frage: War sie bereit? War sie wirklich dazu bereit?
„Ja, natürlich, verdammt noch mal! Warum sitze ich sonst hier? Warum bin ich sonst in diesen Keller gegangen?“
Es gab niemandem, an den sie die Fragen richtete. Es war vielmehr so, dass sie die Worte unbedingt sagen musste. Sie musste sie mit ihren eigenen Ohren hören, weil sie dann anders klangen. Oh ja, verdammt, sie war bereit dazu. Und wie. Bereiter ging es schon gar nicht mehr. Ihr Herr Vater wäre stolz auf sie gewesen!
Und da das nun geklärt war, verstand sie auch endlich den Text.
Sabine saß lange da, las immer und immer wieder die paar Blätter und hatte dabei ihren Unterkiefer bis fast an die Brust heruntergeklappt. Ihre Augen waren weit aufgerissen, und ihre Mundwinkel flatterten wie die Flügel eines Kolibris. Doch sonst war sie ruhig. Sie zitterte nicht, und ihr lief auch kein Schweiß über die Stirn. Sie war so ruhig, wie man nur sein konnte, als säße sie entspannt auf dem Sofa, eine Tüte Chips in der Hand. Nichts und gleichzeitig alles deutete darauf hin, dass etwas Merkwürdiges, vielleicht Angsteinflößendes auf diesen Blättern stand.
Geschlagene zwei Stunden saß sie so da und bewegte sich so gut wie nicht. Nur ab und an nahm sie ein Blatt, und wenn sie mit ihm durch war und sie es wer weiß wie oft gelesen hatte, nahm sie ein anderes – so lange, bis sie mit allen durch war und dann wieder von vorn begann. Das waren so ziemlich die einzigen Bewegungen, und dazu natürlich noch das Heben und Senken ihres Brustkorbs. Aber sonst saß sie nur bewegungslos da und schüttelte nicht einmal den Kopf, wenn sie etwas nicht glauben konnte. Und das kam mehr als einmal vor.
Irgendwann gab sie sich dann einen Ruck und ging in den Keller hinunter.