Читать книгу: «Kreidekreis», страница 4

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FRAU MA: Sie rezitiert Gedichte, wie sie es in ihrem schimpflichen Beruf gelernt. Denn Liebe machen und Verse machen gilt gleich viel.

TSCHU: Welches ist die zweite der fünf Haupttugenden?

HAITANG: Gerechtigkeit.

TSCHU: Nach Recht und Gerechtigkeit wird hier geurteilt. Um nichts anderes geht es.

HAITANG: Gerechtigkeit ich bitte, daß sie mir zuteil werde, obwohl ich ihrer vielleicht nicht wert bin. Denn habe ich selbst immer recht gehandelt und geurteilt? Habe ich nicht über meinen Gatten ein Jahr lang eine ungerechte Anschauung gehabt in meinem Innern? Ich bitte die Götter, daß sie alle Schleier von meinen Augen nehmen, und ich klar sehe und nicht ungerecht urteile über jene Frau, die mir so bitter feind gesinnt ist, und der ich als erster Gattin zu dienen stets bestrebt war; der ich nie ein böses Wort gesagt habe, über die ich nie einen bösen Gedanken gehegt, der ich nie eine böse Tat getan habe. Diese Frau, ich habe es bemerkt, wenn ich sie morgens schminkte, hat viel Gesichter, wie ein Schauspieler viele Masken trägt und bald diese, bald jene Rolle spielt. Welches ihrer Gesichter ist echt? Welches wahre Gesicht liegt hinter all den Masken? Kann eine Maus die Rolle einer Libelle spielen? Kann eine Hyäne ein Lamm oder einen Hasen vortäuschen?

FRAU MA: Den Tiernamen der Frau, der ich immer nur Gutes getan, und die mich so schamlos verleumdet, ich nenne ihn: sie ist eine zischende Schlange.

TSCHU: Welches ist die dritte der Haupttugenden, Angeklagte?

HAITANG: Schicklichkeit.

TSCHU: Sie ließen sie in Ihren Äußerungen eben vermissen.

HAITANG: So bitte ich um Vergebung. Aber es geht um mein Leben, Herr Richter, es geht um mein Kind. Soll ich aus Gründen der Schicklichkeit und des Wohlanstandes mir mein Kind stehlen lassen? Herr Richter, man hat mir im Gefängnis mein Kind verweigert! Man hat mich ohne Nachricht von ihm gelassen! War das wohl anständig, war das schicklich gehandelt, einer Mutter dieses Folterspiel zu bereiten? Li, mein Knabe, erkennst du mich?

FRAU MA: Sie heuchelt. Nie sah man das Laster sich so frech mit Tugenden wie falschen Papierblumen schmücken. Wie kann sie Muttergefühle vortäuschen, da ihr Schoß verdorrt ist wie ein Baum in der Wüste Gobi ohne Wasser?

HAITANG: Mein Schoß verdorrt? Ich unbegnadet? Das heiligste Recht des Weibes mir nicht verliehen? Trug ich doch in diesem meinem Leibe unter diesem meinem Herzen neun Monate lang meinen Knaben Li, die Erfüllung meiner Sehnsucht, die Hoffnung meines Alters. Ich blühte nur, damit ich eine Frucht trüge. Die Blüte fiel ab, die Frucht reifte, reifte in Sonne und Sturmgewitter, in Wollust und Schmerzen. Ich, die ich keine Wollust empfunden, da ich ihn empfing, ich verging vor Wollust, da ich ihn gebar. Fo hat mich begnadet, gesegnet. Ich habe ihm Weihrauch entzündet jeden Tag meines Lebens.

FRAU MA: Seht doch die ausgezeichnete Schauspielerin, wie sie fremde Charaktere spielt, sich gebärdet wie auf dem Holzgerüst einer Schmiere,wie auf dem Jahrmarkt! Warum ist sie nicht Naive geworden bei einer Wandertruppe? Den dummen Bauern auf den Dörfern hätte sie diese Mätzchen vormachen können, aber nicht einem hohen Gerichtshof von Tscheukong.

TSCHU: Welches ist die vierte der fünf Haupttugenden, Angeklagte?

HAITANG: Wahrheit.

TSCHU: Halten Sie sich streng an diese Tugend?

HAITANG: Meine Augen sollen erblinden, mein Mund verstummen, mein Ohr taub werden, wenn ich nicht die lautere Wahrheit sagte. Dies Kind ist mein. Mein Schoß hat es geboren.

TSCHU: Wir wollen zu diesem Punkt die Hebamme vernehmen, die der Mutter bei der Geburt des Knaben Li in ihren Wehen behilflich war. Treten Sie vor, Frau Lien!

HEBAMME: O je, o je, womit habe ich das verdient, vor dem hohen Gerichtshof erscheinen zu müssen.

TSCHAO: Fürchten Sie sich nicht, gute Frau! Sie haben nur der bereits soeben erwähnten vierten Kardinaltugend, der Wahrheit, die Ehre zu geben.

HEBAMME: Ich werde mir die Ehre geben, der Ehre die Ehre zu geben.

TSCHU: Also wie war der Hergang?

HEBAMME: Der Hergang war damals ein großer Hin und Hergang, als der Knabe Li geboren wurde.

TSCHAO (zu Tschu):

Die gute Frau steht dem gebildeten Idiom, das Eure Exzellenz zu sprechen belieben, unverständlich gegenüber.

HEBAMME: Alles, was recht ist, oder alles, was unrecht ist: beleidigen lassen brauch ich mich auch von dem hohen Gerichtshof nicht. Wenn ich auch eine einfache Frau aus dem Hefenteig des Volkes bin, ein Idiom bin ich darum noch längst nicht.

HAITANG: Frau Lien, Sie waren es doch, die mir bei der Geburt des Knaben die Schnur gelöst hat! Frau Lien, erkennen Sie mich denn nicht wieder?

HEBAMME (dicht herantretend):

Ich bin ein wenig kurzsichtig und muß Sie mir deshalb aus der Nähe betrachten.

TSCHU: Frau Lien, erkennen Sie die Angeklagte ?

HEBAMME. Ich kenne die Angeklagte schon. Es ist die Haitang, die Nebenfrau des verstorbenen hochgeborenen Herrn Ma, Fo hab ihn selig!

TSCHU: Und ist sie die Mutter des Knaben Li?

HEBAMME: Sie hat den Knaben wohl oft auf den Armen getragen, gewartet und in den Schlaf gewiegt, wie es die Pflicht der Nebenfrauen ist; aber die Mutter des Knaben ist jene!

(Zeigt auf Frau Ma.)

Obwohl das Zimmer der Wöchnerin wie üblich verhängt war, und man in der Dunkelheit kaum die Mutter vom Kinde unterscheiden konnte, so ist doch kein Zweifel, daß Frau Ma den Knaben geboren hat.

HAITANG:

 
Frau Lien, als ich in Wehen lag,
Da waren Sie um mich Nacht und Tag.
Wie waren Sie zärtlich, waren gut,
Stillten mein fast verrinnendes Blut.
Haben meinem Kind und dem Leben
Mich, die dahin schon, zurückgegeben.
Betteten mich mit freundlichem Sinn
Auf das Lager von Matten hin.
Sie lösten die Nabelschnur, riefen meinen Mann,
Zündeten vor dem Hausaltar die Kerzen an.
Sie weinten mit mir um mein Mutterglück.
O rufen Sie die Tränen zurück!
Die Wahrheit, die Wahrheit: dies Kind ist mein
Und darf mir nicht genommen sein.
 

FRAU MA: Das listige Weib macht sich der Beeinflussung der Zeugin schuldig.

TSCHU: Man schlage die Angeklagte wegen ungebührlichen Benehmens vor Gericht. Im Wiederholungsfalle werden ihr Heißwasserschlangen angedroht. Sie wird auf Glassplittern knien, und man wird ihr die Knöchel zerquetschen.

(Zwei Soldaten springen vor und schlagen sie zwei , dreimal mit eckigen Bewegungen.)

HAITANG:

 
Wie Feuer brennt mein Rücken,
Wie Sturm weht mein Atem.
Verflöge doch meines Lebens
Hauch Der Nachtschmetterling.
 

(Das Kind beginnt zu weinen.)

TSCHU: Still! Ich rufe das Kind zur Ordnung!

TSCHAO (zu Frau Lien):

Können Sie Ihre Aussagen beschwören?

HEBAMME: Das will ich meinen!

TSCHU: Die Zeugin wird vereidigt. Sprechen Sie die Worte nach: Ich schwöre bei den Gebeinen meiner Ahnen

HEBAMME: Beinen meiner Ahnen

TSCHU: Daß ich die reine Wahrheit gesagt

HEBAMME: Keine Wahrheit gesagt

TSCHU: Nichts verschwiegen und nichts hinzugesetzt habe So wahr mir Fo helfe!

HEBAMME: So wahr mir Fo helfe!

TSCHU: Die Zeugin ist abzuführen.

TSCHAO: Die Zeugen Gebrüder Sang!

ZWEI KULIS (die immer gleichzeitig sprechen, treten vor und leiern sofort herunter):

Hoher Gerichtshof, Herr Ma war ein sehr vermöglicher, womöglicher und viel vermögender Mann. Wir konnten uns natürlich nicht schmeicheln, zu seinem näheren Umgang zu gehören. Aber als seine erste hochgeborene Gattin einen Knaben gebar, gab er seinem Stadtviertel, in dem auch wir die Ehre haben zu wohnen, ein Fest, eine Festivität, wo es so lustig herging, daß wir beide noch heute betrunken sind, wenn wir daran denken. jeder von uns erhielt auch eine Unze Silber als Festgeschenk. Später haben wir noch oft Gelegenheit gehabt, Herrn und Frau Ma, letztere den Knaben auf dem Arm, zum Tempel des Fo, des Beschützers des Kleinen, wandeln zu sehen.

HAITANG. Ihr lügt, bestochen von Frau Ma. Saht Ihr nicht täglich mich, mein Kind auf Händen, zum Tempel Fos, des Gottes, eilen, es seiner Obhut zu vertraun?

ZWEI KULIS: Die Wahrheit, die wir bekunden, wird wahrscheinlich so ziemlich beinahe fast immer wahr sein. Daran ist nicht zu tüfteln. Sollte eine Lüge über unsere wahrheitliebenden Lippen gekommen sein, so möge uns daran ein Geschwür wachsen, so groß wie eine Teetasse.

TSCHU: Können die Zeugen die Wahrheit ihrer Aussagen beschwören?

ZWEI KULIS: Und ob!

TSCHU: So sprechen Sie den Schwur nach.

(Zeremonie wie oben.)

Die Zeugenvernehrnung über den geplanten Kindesraub wird geschlossen. Es bleibt die Frage des Giftmordes. Wer hat gesehen, daß die Angeklagte ihrem verewigten Gatten statt Zucker Gift in den Tee schüttete, um sich unrechtmäßig Knabe und Erbteil anzueignen?

FRAU MA: Ich!

HAITANG:

 
Himmlisches Licht, du hast dich ganz vermummt.
Wo leuchtest du?
Himmlische Glocke, du bist verstummt.
Wann läutest du?
Kommt es nie an den Tag, bleibt es in Nacht,
Wer Herrn Ma zu Tod gebracht?
Ich bin wehrlos, ehrlos ganz,
Trag auf meinem armen Kopf einen Brennnesselkranz.
 

TSCHAO: Frau Haitang hatte wohl noch ein anderes Motiv, sich Herrn Mas zu entledigen.

TSCHU: Das wäre?

TSCHAO: Darf ich an die Angeklagte eine Frage stellen?

TSCHU: Ich bitte darum.

TSCHAO. Angeklagte, wer war die Ursache des selbstgewählten Todes Ihres Herrn Vaters?

(Haitang schweigt.)

So will ich selbst die Antwort übernehmen. Herr Ma war die Ursache seines Todes. Man schuldete ihm Abgaben, die man nicht aufbringen konnte. Seit jenen Tagen trug die Angeklagte ein Gefühl der Rache im Busen gegen ihren Gatten, der ihren Vater in den Tod getrieben. Zu dem Motiv der Erbschleicherei gesellt sich das Motiv der Rache.

TSCHU. Ihre Beweisführung leuchtet mir vollkommen ein, Herr Kollega. Die Angeklagte erscheint auf das schwerste belastet.

HAITANG: Das Schicksal lastet auf mir wie ein Grabstein.

TSCHU: Können Sie Ihre Wahrnehmung beschwören?

FRAU MA: Ich beschwöre bei den Gebeinen meiner Ahnen, daß die, die nicht die Mutter des Kindes ist, ihren Gatten mit Gift aus dem Wege geräumt hat, um sich unrechtmäßig Knabe und Erbteil anzueignen.

HAITANG

(entsetzt):

Sie schwört die Wahrheit.

TSCHU: Die Inkulpatin hat gestanden! Die Zeugenaussagen werden geschlossen. Das Gericht zieht sich zum Urteilsspruch zurück.

(Tschu, Tschao usw. ab.)

FRAU MA: Ihr habt das Spiel verloren.

HAITANG: Ich spielte nicht.

FRAU MA Ihr werdet bald um ein Viertel kleiner sein als jetzt.

HAITANG: Man kann mir den Kopf abschlagen, man kann mir das Herz aus dem Leibe reißen, aus meinem zerrissenen, aufs Rad geflochtenen Leib wird noch die Flamme der Wahrheit emporspringen.

FRAU MA: Ich sprach die Wahrheit.

HAITANG: Ihr sagtet sie. Seht mich vor Euch knien. Nehmt das Vermögen des Herrn Ma, nehmt alles, was Ihr wollt. Seht, diese kleine Kette gefällt Euch vielleicht, es sind indische Perlen; diese Schuhe sind bestickt, nehmt alles, alles, nur laßt mir mein Kind.

FRAU MA: Das Kind bleibt mein.

(Gericht zurück.)

TSCHU. Im Namen Seiner Himmlischen Majestät

(brabbelt)

erkennt der hohe Gerichtshof als zu Recht folgendes Urteil: Die Angeklagte Tschang Haitang wird wegen versuchten Kindesraubes und vollzogenen Giftmordes an ihrem Gatten Ma zum Tod durch des Henkers Schwert verurteilt. Gerichtsdiener, legt ihr den neunpfündigen Block um den Hals.

DIENER: Zu Befehl, Exzellenz.

(Er legt Haitang den Block um.)

Hinein mit dem Hals in den Block, du Weibsstück.

HAITANG: Mein Recht! Mein Kind!

TSCHU: Unverschämtes Geschöpf! Ich sollte dich mit dem Pantoffel ins Gesicht schlagen. Merke dir eines: wenn ich ein Urteil spreche, so ist es gerecht, die Verhandlung führe ich streng unparteiisch und alles geht objektiv und absolut gesetzmäßig her.

(Ein Kurier tritt auf, Haitang wird abgeführt.)

KURIER: Stafette aus Peking.

TSCHU (erbricht sie):

Ich bin erschüttert. Ich ersuche alle Anwesenden, mit der Stirn die Erde zu berühren. Seine Himmlische Majestät ist im hohen Alter von fünfundsiebzig Jahren an Altersschwäche verschieden. Zum Nachfolger wurde durch das Los Prinz Pao erkürt, der den kaiserlichen Thron bestiegen hat. Er entbietet seinen Untertanen seinen kaiserlichen Gruß. Alle Todesurteile werden suspendiert und kraft seiner Machtvollkommenheit Richter und Gerichtete nach Peking berufen. Denn seine erste Amtshandlung soll im Zeichen der Gerechtigkeit stehen. Großer Fo, im Zeichen der Gerechtigkeit!

(Wischt sich den Angstschweiß von der Stirne.)

TSCHANG LING

(im Zuschauerraum des Gerichtes):

Was fürchtest du alter Mann, alter Narr? Kaiser und Richter, Ihr steckt ja doch unter einer Decke. Der neue Kaiser wird nicht besser sein der alte. Wir Armen werden auch unter seinem Drachenbanner rechtlos am Straßenrand verrecken. Haitang ist unschuldig wie eine Sonnenblume oder der Abendstern. Sie soll nicht sterben. Die Unschuld ist unsterblich. Mit meinen Fäusten will ich dem Henker das Beil aus der Hand reißen und der Ungerechtigkeit in den erhobenen Arm fallen.

TSCHU: Wer ist der Kerl, der die Majestät lästert? Gerichtsdiener, auch mit ihm in den Block. Er hat des Kaisers Majestät gelästert. Seine Majestät wird sich mir erkenntlich zeigen, wenn ich ihr einen solchen Übeltäter bringe, der das Fundament des Staates unterwühlt wie ein Maulwurf. Es soll nicht heißen, daß ich es an Strenge revolutionären Elementen gegenüber fehlen lasse. Auf nach Peking!

Vorhang.

VIERTER AKT

Schneesturmlandschaft. Man hört die Soldaten hinter der Szene singen.

 
Soldat, du bist mein Kamerad,
Marschierest mir zur Seite.
Der Kaiser, der befehligt uns,
Kein Mädchen mehr beseligt uns,
Soldat, du bist mein Kamerad,
Marschierest mir zur Seite.
Soldat, du bist mein Kamerad,
Wenn du das Schwert verloren,
So deck' ich dich mit meinem Schild
Und bin als Bruder dir gewillt.
Soldat, du bist mein Kamerad,
Wenn du das Schwert verloren.
Soldat, du bist mein Kamerad,
Wenn unsre Knochen bleichen,
Mond fällt auf uns wie gelber Rauch,
Der Affe schreit im Bambusstrauch.
Soldat, du bist mein Kamerad,
Wenn unsre Knochen bleichen.
 

(Haitang, gefesselt und im Holzblock, von zwei Soldaten eskortiert, die sie prügeln.)

ERSTER SOLDAT: He, vorwärts, Tochter einer Schildkröte! Ich werde deine Mutter schänden, wenn du deine Beine nicht flinker bewegst. Meinst du, es ist ein Vergnügen, dich durch den Schneesturm zu eskortieren?

HAITANG: Erbarmen, lieber Herr!

ERSTER SOLDAT: Hopla, Grashüpfer! Spring ein wenig!

HAITANG: Das Gewicht des Blockes ist zu schwer für mich. Es zieht mich nieder. Ich bin am Ende meiner Kräfte.

ERSTER SOLDAT. Und wir am Ende unserer Geduld.

HAITANG: Ich leide.

ZWEITER SOLDAT: Die Leiden sind dem Weibe nötig, damit sein Charakter sich entwickelt steht in einem pädagogischen Buch. Vorwärts!

HAITANG: Ich sterbe.

ERSTER SOLDAT: Ein guter Tod ist das halbe Leben. Vorwärts!

HAITANG: Kennt Ihr nicht das Gebot des heiligen Katechismus, Mitleid mit jeder Kreatur zu haben?

ZWEITER SOLDAT: Ja, Mitleid mit jeder Kreatur. Jeder kann sich die Kreatur aussuchen, mit der er Mitleid haben will. Ich habe in diesem scheußlichen Schneesturm zum Beispiel Mitleid mit mir.

HAITANG: Ich falle. Der Weg ist vereist. Ich kann keinen festen Boden unter den Füßen finden.

ERSTER SOLDAT: Du hast den Boden unter den Füßen längst verloren. Vorwärts!

(Haitang fällt.)

ERSTER SOLDAT: Wart, ich will dich lehren zu fallen. Verdammtes Weibsstück, du hast

(fällt selbst)

mich behext.

HAITANG: Die Knie brechen mir.

ERSTER SOLDAT: Wer ein Verbrechen begangen hat, muß es auch büßen. Warum hast du deinen dicken Mann umgebracht und der ersten Frau das Kind rauben wollen?

HAITANG: Ich habe keinen rechtschaffenen Richter gefunden. Der Herr der sieben Hügel, der über den Wolken thront, der Herr des südlichen Polarsterns, der Herr der hundert Zeichen mag es bezeugen. Er wird gnädiger sein als die Menschen.

ERSTER SOLDAT: Wie, beschuldigst du den Herrn Oberrichter, Exzellenz Tschu tschu, eines Falschspruches? Danke dem Himmel, daß wir über diese freche Anschuldigung hinweghören. Gemäß unserem Reglement müßten wir's zur Anklage bringen, und bevor man dir den Kopf abschlägt, würdest du wegen Beamtenbeleidigung noch ein wenig gestäupt werden.

ZWEITER SOLDAT: Warum gibst du uns nichts von dem deinen? Kesch . . . Kesch . . . Dann brauchtest du dich den Teufel um die Redlichkeit oder Unredlichkeit der Richter scheren. Wir ließen dich sofort laufen und machten uns selbst aus dem Staube.

HAITANG: Wie gern würde ich Euch beschenken, ob Ihr mich freiließt oder nicht. ja, ich würde es nicht zulassen, daß Ihr mich freigebt und meinetwegen Unannehmlichkeiten hättet, aber ich habe nichts als mein armseliges Herz.

ERSTER SOLDAT: Selbstlose Liebe ist ein allzubilliges Vergnügen.

HAITANG: Hätte ein Wolf mich angeklagt, eine Hyäne über mir zu Gericht gesessen, sie hätten Mitleid mit mir gehabt. Wäre eine Dohle, die als besonders lügnerisch gilt, als Zeugin gegen mich aufgetreten, sie hätte nicht solche Lügen erfinden können wie diese meineidigen Zeugen.

ZWEITER SOLDAT: Du wirfst den Zeugen Meineid vor? Wo hast du denn Beweise dafür?

HAITANG: Mein Herz.

ERSTER SOLDAT: Dein Herz? In dein Herz vermögen wir nicht zu sehen. Es wird wohl auch finster genug sein.

HAITANG: Noch leuchtet ein schwaches Licht darin, die Hoffnung

ZWEITER SOLDAT: Die Hoffnung, worauf?

HAITANG: Sind alle Menschen denn schlecht, ist einer die Bestie des andern?

ERSTER SOLDAT: Du darfst nicht von dir auf andere schließen. Ich zum Beispiel habe noch nie etwas Böses getan. Sieh mich an! Ich habe alle Gebote der Zeremonienbücher immer strikt gehalten, ich habe Vater und Mutter geehrt und ihnen kostbare Särge gekauft, ich diene meinen Vorgesetzten in Ergebenheit, ich habe ein gutes Gewissen.

HAITANG: Wie kannst du ein gutes Gewissen haben, wenn du gezwungen bist, einen armen Menschen wie mich zu schlagen?

ERSTER SOLDAT: Woher weiß ich, daß du unschuldig bist?

HAITANG: Ich dachte immer, daß unschuldige Menschen einen Glanz um die Stirne haben. Es stand in dem ersten Schulbuch zu lesen, das ich las.

ZWEITER SOLDAT: Laß sehen! Ich sehe keinen Glanz um deine Stirne als den Glanz der Schneeflocken.

HAITANG: Mein Kind wo ist mein Kind?

ERSTER SOLDAT: Bei seiner Mutter, verstocktes Weib, das selbst der Holzblock nicht zur Buße und Einkehr zwingt.

HAITANG: Da kein Mensch mehr hört, will ich meine Klage in den Schneesturm schreien. Höre mich, Sturm! Ich klage es dir, Schnee! Ihr Sterne hinter den Wolken, lauscht! Und unter der Erde, ihr, die ihr den Winterschlaf schlaft: Maulwurf und Hamster und Kröte, ihr träumenden Dämonen auch, wacht auf! Es darf kein Schlaf und kein Traum sein, wenn einem Menschen Unrecht und Untat geschieht. Ihr Toten in den Särgen, angetan mit den Gewändern aus Brokat oder Sackleinewand, schüttelt eure schlotternden Glieder wie Pagodenglocken, daß sie klingen, daß sie zum Aufruhr läuten! Erhebt euch! Kommt über die weißen Felder gewandert wie weiße Ratten über den Schnee! Heft mir, die eure Schwester schon, und halb nur noch im Leben wandelt! Ich rufe euch, ihr Toten, zum Gericht über mich. In euch, die ihr allen Flitter der Welt abgeworfen, selbst euer Fleisch, ist kein Falsch. Ihr toten Mörder, kommt und sagt, ob ich gemordet! Ihr toten Lügner, kommt und sagt, ob ich log! Ihr toten Mütter, alle Mütter der Welt, schreit, ob ich mein Kind nicht mit Recht von den Räubern fordere! Seht doch, die Erde selbst trauert, sie hat ein weißes Gewand angelegt mir zu Ehren es schneit es schneit weiß immer weißer die Erde trägt eine Robe aus dem Fell weißer Schafe, und sie hat sich eine weiße Fuchspelzkappe über das Haupt gezogen. Wie der Schnee so weiß, wie der Mond so weiß, werden unsere Häupter einmal sein. Was ist das für ein weißer Kreis am Himmel, wie mit Kreide gezogen? Zwischen den Wolken, du mildes Angesicht des Mondes, blinke mir Hoffnung zu! Der Schnee fällt, Flocke um Flocke. Die Götter scheren ihre kleinen Lämmer. Meine Tränen fallen wie die Flocken. Wo meine Tränen in den Schnee fallen, färbt sich der Schnee rot. Ich weine Blut. Ich höre die Schreie der Raben in den Lüften. Ich sehe ihre Fußspuren im Schnee. Man sagt, die Schrift sei den Fußspuren der Vögel nachgebildet. Ich lese mein jämmerliches Schicksal im Schnee. Ach, selbst die Aasgeier bejammern mein Los. Unter der Eisdecke des Flusses ein Stöhnen. Es ist die Flußgöttin, sie seufzt über das Elend der Menschen. Ich bitte Euch, liebe Herren, nehmt Eure Schwerter und schlagt ein Loch in das Eis, und laßt mich in die nassen, kalten Fluten sinken, versinken! So eisig die Umarmung der Flußgöttin sie wird wie Feuer brennen gegen die kalten Herzen der Menschen . . .

ERSTER SOLDAT. Zu lang schon haben wir dein Quäken mitangehört, Wasserfrosch. Vorwärts jetzt! Der Weg nach Peking, wo der neue Kaiser in eigner himmlischer Person den ersten Hinrichtungen seiner Ägide beizuwohnen geruhen wird, ist noch weit.

ZWEITER SOLDAT: Es ist eine Ehre für dich, unter den Augen des Kaisers zu sterben. Sieh zu, daß du anmutig den Kopf auf den Richtblock legst, damit der Kaiser ein Wohlgefallen an dir habe.

ERSTER SOLDAT: Vorwärts!

(Wie ein Echo von der andern Seite: Vorwärts mit dir, du Lump!)

Hörtest du nicht Stimmen im Dunkel?

ZWEITER SOLDAT: Mir war so, als riefe uns jemand zu.

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04 декабря 2019
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