promo_banner

Реклама

Читать книгу: «Wie schaffen das die Schwäne?», страница 2

Шрифт:

Hannah

Wann fing das eigentlich an?, fragt Hannah sich ständig. Findet aber keine zufrieden stellende Antwort.

Erst war da nur so ein undefinierbares, schwebendes Unwohlsein über Monate hinweg.

Eine Art Fehl-am-Platz-sein im eigenen Leben.

Ein Wegen-jeder-Kleinigkeit-aus-der-Haut-Fahren.

Und nach jedem Aus-der-Haut-fahren schreckliche Schuldgefühle und das Bewusstsein, alles falsch zu machen.

Jeden zweiten Tag fragt Hannah sich jetzt, wie sie dorthin gekommen sind.

An diesen Ort in ihrem Leben. Der wie ein Raum auf sie wirkt, den eine gewisse Leere charakterisiert.

Eine Abwesenheit.

Die Abwesenheit von etwas Abstraktem, das schwer zu benennen ist und doch fällt seine Abwesenheit auf.

Es hat eine Zeit gegeben, in der Hannah das Gefühl hatte, ihr fehlte die Luft zum Atmen, wenn sie Philipp auch nur einen Tag nicht sehen würde.

Und jetzt?

Ist sie erleichtert, wenn sie ihn mal einen Tag nicht sehen muss.

Jetzt ist sie die Erste, die aus dem Haus geht.

Philipp macht dann für die Kinder und sich selbst Frühstück. Ach was, Frühstück.

Er kocht sich einen Kaffee und den Kids stellt er Cornflakes, Zucker und Milch hin.

Lena und Patrick sind auf demselben Gymnasium und gehen gemeinsam los.

Etwas später ist es dann auch Zeit für Philipp. Er arbeitet, seit ewigen Zeiten in einem Architektur- und Immobilienbüro. Wenn er die Wohnung verlässt, hat Hannah bereits den zweiten Kaffee gekocht für ihren Chef.

Hannah passt dieses neue Leben noch nicht so recht. Wie ein Kleidungsstück, in das sie erst hineinwachsen muss. Noch ist ihr das alles eine Nummer zu groß. Aber das wird schon werden.

Sie muss sich einfach nur daran gewöhnen. An dieses neue Leben.

Das sagt sie sich täglich und dann ist sie erst einmal beruhigt.

Bis zum nächsten Zweifel.

Enno

Es klingelt an der Tür.

Enno ruft „Gila“.

Gila antwortet nicht.

Notgedrungen hievt er sich mit aller Kraft aus seinem Wohnzimmerohrensessel. Hier sitzt er am liebsten seit er pensioniert ist. Er war mal Schuldirektor. Von ganzem Herzen. Gila war eine seiner Lehrerinnen. Eine verdammt gute. Überhaupt hat er Glück gehabt mit seiner Gila. Eine schöne Frau ist sie. Immer noch. Als junges Mädchen hat sie ihm komplett den Kopf verdreht. Es hat ihn heftig erwischt. Diese Zöpfe, diese Taille, dieser Gang wie eine Samba. Da war er eigentlich schon so gut wie verlobt gewesen mit einer anderen.

„Ich bring mich um!“, hat die gedroht, als er ihr den Laufpass gab.

Aber mit emotionaler Erpressung darf man Enno nicht kommen. Mit so etwas hat er nichts am Hut. Er ist bis heute sicher, sie wollte ihn nur erpressen und auf sich aufmerksam machen.

Menschen, die ihrem Leben wirklich ein Ende setzen wollen, tun es ohne Warnschuss.

Dass seine beinahe Verlobte bis heute in scheinbar zufriedener Ehe mit einem Anderen lebt, bestärkt ihn diesbezüglich.

Enno und Gila hängen sehr aneinander und respektieren einander.

„Das ist wichtig“, hat er seinen Töchtern beigebracht „Und die gute Kommunikation.“ Diese drei Grundzutaten sind für Enno das Geheimnis einer glücklichen Ehe.

Auch Gila ist längst pensioniert. Drei Jahre nach Enno war es soweit.

Enno, anders als Gila, ist nicht mehr so schnell wie früher, aber immer noch gut zu Fuß. Er eilt den Flur entlang und schaut in alle Zimmer.

Sein Kopf ist in letzter Zeit etwas komisch. Aber das ist wohl normal in dem Alter. Da macht er sich nicht so einen Kopf drüber und muss über die Formulierung beinahe lachen.

Aber wo ist jetzt Gila wieder hin?

Dann sieht er den Zettel, der auf dem Küchentisch liegt: „Falls Du es schon vergessen hast: Ich bin einkaufen. Kuss Gila“. Den Kuss hat sie mit Lippenstift auf den Zettel gedrückt. Das macht sie jetzt immer so.

Da fällt es ihm wieder ein, dass sie einkaufen gehen wollte.

Er gelangt schließlich reichlich zeitversetzt, an die Wohnungstür.

Davor steht ein Mann, der freudestrahlend „Guten Tag, Herr Gerstner“ sagt.

Als Enno ihn nicht ebenso freundlich zurück grüßt und ihn tatsächlich nicht einmal erkennt, erklärt ihm der gänzlich fremde Mann: „Ich bin Herr Ernst, Ihr Nachbar aus der ersten Etage.“

Gila und Enno wohnen in der zweiten Etage.

„Guten Tag, Herr Ernst“, sagt Enno.

„Ich ziehe gerade um“, sagt Herr Ernst. Er redet sehr schnell und Enno muss sich Mühe geben, dem hektischen jungen Mann zu folgen.

„Ich habe einen Kühlschrank und eine Waschmaschine zu viel“, sagt Herr Ernst und Enno weiß nicht so genau, was das mit ihm zu tun hat. Er findet es nur mäßig interessant, aber er bringt alle erdenkliche Geduld auf und hört weiter zu.

„Ich ziehe nämlich mit meiner Freundin zusammen“, erfährt nun Enno. „Mein Nachmieter zieht auch mit seiner Freundin zusammen. Und wir haben alle schon eine Waschmaschine und einen Kühlschrank.“

Enno nickt und versteht nicht.

„Können Sie vielleicht eine Waschmaschine und einen Kühlschrank gebrauchen?“, fragt Herr Ernst schließlich.

Enno denkt ein wenig nach und kommt dabei zu dem Ergebnis, dass wohl jeder Mensch eine Waschmaschine und einen Kühlschrank gebrauchen kann. Also nickt er wieder.

Herr Ernst scheint erfreut. „Für zweihundert Euro können Sie beides haben“, sagt er.

Zweihundert Euro sind ja nun wirklich nicht zu viel für eine Waschmaschine und einen Kühlschrank, findet Enno. Also nickt er noch einmal.

Er geht in sein Schlafzimmer und holt zweihundert Euro aus der Schublade, in der er seine Wertsachen aufbewahrt.

Die zweihundert Euro zählt er dann Herrn Ernst mit großer Geste in die Hand. Es muss schließlich alles seine Richtigkeit haben.

„Danke sehr“, sagt Herr Ernst.

„Danke auch“, antwortet Enno nun freundlicher.

Herr Ernst lässt beide Geräte von den Umzugshelfern der Spedition nach oben zu Enno und Gila tragen und die beiden Helfer stellen Waschmaschine und Kühlschrank im Flur ab. Enno weiß gerade nicht, wohin damit.

Sie haben ja bereits eine Waschmaschine und einen Kühlschrank, wie ihm jetzt auffällt. Und beide Geräte stehen in der Küche und zwar so, dass die Küche ziemlich gut gefüllt ist. Dort passen also die Waschmaschine und der Kühlschrank von Herrn Ernst nicht hin. Das macht Enno nachdenklich und ein wenig müde. Kurz setzt er sich daher an den Küchentisch und denkt nach. Eine Antwort findet er nicht. Aber das eilt ja auch nicht. Gila wird schon wissen, was zu tun ist.

Irgendwie wird es ihm jetzt dann aber zu eng und zu still in der Wohnung.

Besser, er geht mal an die frische Luft, dann vergeht vielleicht auch die Müdigkeit wieder.

Gila

Kalt greift die Furcht nach Gilas Eingeweiden.

Als sie vom Einkaufen nach Hause kommt, steht die Wohnungstür offen. Nicht Ich-bringe-mal-eben-den-Müll-raus offen. Nein, sperrangelweit offen. Räumt-mir-gerne-die Wohnung-aus-sperrangelweit offen.

„Enno?“, ihre Frage schallt mit drei Frage- und drei Ausrufezeichen durch den Eingangsflur.

Doch es kommt keine Antwort.

Stattdessen versperren ein Kühlschrank und eine Waschmaschine den Eingangsbereich.

Nicht ihre, das sieht sie auf den ersten Blick.

Gilas Herz setzt einen Schlag aus.

Sie geht durch die Wohnung. Von einem Ende zum anderen. Aber außer einer großartigen Unordnung in seinem Zimmer, findet Gila keine Spur von Enno.

Hoffentlich ist ihm nichts zugestoßen, denkt sie.

Es ist eher ein Reflex als eine rationale Handlung, als sie die Telefonnummer ihrer Tochter wählt.

„Mami“, sagt Hannah. Eigentlich ruft sie es eher und es klingt wie eine Frage.

Ihre Mutter ist nicht die Art Frau, die einfach nur mal so anruft, um mit ihr zu plaudern. Meistens haben ihre Anrufe einen ernsten Hintergrund.

„Alles in Ordnung?“, schiebt sie daher sofort hinterher.

Zumal die Mutter ihr beim letzten Mal gesagt hat, dass Enno, also Hannahs Vater, sich seit Neustem seltsam verhält. Er wirkt oft apathisch und reagiert versetzt oder gar nicht auf seine Frau.

Die Rollen waren bei Hannahs Eltern ein Leben lang eher auf die konservative Art verteilt. Enno ist ein Gentleman alter Schule.

Er hat seine Gila nach allen Regeln der Kunst erobert. Er ist von Haus aus wohlerzogen, zuvorkommend, Versorger durch und durch und sehr familienaffin.

Hannah hat noch zwei Schwestern, eine jüngere und eine ältere und Enno fühlte sich stets sehr wohl im Kreise seiner Frauen.

Vielleicht war er ein bisschen zu streng mit den Mädchen, vor allem mit Hannah, aber das ist Gilas Sicht der Dinge.

Sein Verhalten ändert sich ohnehin gerade.

„Stell dir vor, dein Vater ist weg“, sagt Gila mit einer etwas ins Schrille tendierenden Stimme. Man merkt ihr an, dass sie nervlich angegriffen ist. Was wiederum nicht Gilas Art ist. Selbst die schwierigsten Klassen hatte sie immer gut im Griff. Gila ist die Güte in Person, doch ihre hochgewachsene Statur, sympathische Ausstrahlung und natürliche Autorität haben ihr immer Respekt verschafft bei den Kindern.

„Wie meinst du das?“, fragt Hannah. „Hat er dich verlassen?“

„Ach du“, sagt Gila. Ihr ist gerade – auch das ist nicht normal – nicht zum Scherzen zumute. „Natürlich nicht. Ich hoffe nur, es ist ihm nichts zugestoßen. Die Tür stand offen, als ich nach Hause kam.“

„Offen? Steckte der Schlüssel?

„Nein, der Schlüssel steckte nicht.“

„Fehlt irgendetwas?“

„Ja, dein Vater fehlt. Wie ich schon sagte.“

„Soll ich vorbeikommen, Mama?“ Allein die Stimme ihrer mittleren Tochter, die als einzige noch in der Nähe wohnt, beruhigt Gila.

Die anderen beiden Töchter leben mit ihren Familien in anderen deutschen Großstädten weit entfernt. Sie sehen sich selten.

„Du bist lieb. Danke, aber ich glaube, ich schaffe es jetzt“, antwortet Gila. „Es tat einfach gut, deine Stimme zu hören. Ich melde mich, sobald ich etwas weiß.“

Noch bevor Hannah etwas erwidern kann, hat Gila schon aufgelegt und beginnt alle Krankenhäuser in der Umgebung abzutelefonieren.

Gottseidank hat keines einen Patienten namens Enno Gerstner aufgenommen.

Als Gila gerade eine der letzten in Frage kommenden Nummern wählt, klingelt es an der Wohnungstür.

Gila läuft den kurzen Weg bis zur Tür so schnell, dass sie völlig aus der Puste ist, obwohl sie eigentlich sehr fit ist für ihre sechsundsiebzig Jahre.

Vor der Tür stehen zwei Polizisten. Sie haben Enno in ihrer Mitte und halten ihn an je einem Arm fest, während er versucht sich loszureißen.

„Enno“, ruft Gila und streckt einen Arm nach ihm aus.

„Sind Sie Frau Gerstner?“, fragt der eine Polizist, ein junger Typ mit kantig-ebenmäßigem Gesicht.

„Wer sollte ich denn sonst sein?“, entgegnet Gila gereizt und schämt sich im selben Moment für ihre ungeduldige Art. Woher soll der Knilch das auch wissen? Er kennt sie ja nicht. Aber sie will, dass die beiden jetzt sofort Enno los- und ihre Wohnung ver-lassen.

„Wir haben Ihren Mann vor dem Rathauscenter gefunden. Er irrte dort umher und hat scheinbar nach Ihnen gesucht. Uns hat dann eine junge Frau benachrichtigt, die er wohl mit Ihnen verwechselt hat.“ Nach diesen Worten macht er eine Pause und schaut ein wenig belustigt.

Dass diese jungen Kerle einen immer und immer wieder daran erinnern müssen, dass man alt geworden ist. Sie wundert sich doch selbst allmorgendlich über diese fremde Frau mit ihrem feinziselierten Gesicht und den müden Augen, die ihr aus dem Spiegel entgegen schaut. Die hat ja nun wirklich nichts mit der Gila zu tun, die sie einst war.

Wenn der Polizist wüsste, was für eine Schönheit sie gewesen ist. In ihrer Jugend hätte sie jeden Mann haben können. Aber sie hat sich für Enno entschieden. Und hat es an nur sehr wenigen Tagen ihres Ehelebens bereut. Er ist immer ein guter Mann gewesen.

Bis jetzt.

„Danke, dass Sie meinen Mann nach Hause gebracht haben“, sagt Gila, streckt wiederum ihren Arm nach Enno aus und hofft, dass die Sache jetzt erledigt ist.

„Gern geschehen“, sagt der andere Polizist, er ist etwas älter als sein Kollege, etwas weniger attraktiv, aber dafür etwas freundlicher. Dein Freund und Helfer, denkt Gila. Da scheint manchmal ja doch noch etwas dran zu sein.

Sie würde ihnen an einem besseren Tag vielleicht noch einen Kaffee anbieten. Aber den Jüngeren mag sie nicht und nach dem Schrecken ist sie ohnehin zu erschöpft. Sie will, dass die Beiden verschwinden.

Energisch zieht sie ihren Mann in die Wohnung und der lässt es geschehen. Dann schließt sie die Tür vor den Nasen der beiden Beamten. Sollen die doch denken, was sie wollen! Gila hat sich schließlich nichts zu Schulden kommen lassen. Und auch Enno nicht.

Der wirkt ebenfalls ganz erschöpft. Sagt die ganze Zeit kein Wort. Aber jetzt tappt er zu seinem geliebten Wohnzimmerohrensessel und lässt sich seufzend hineinplumpsen. Er schließt die Augen und atmet tief durch. Dann öffnet er seine Augen wieder und lässt sie durch den Raum schweifen, wie Suchscheinwerfer, bis sie Gila gesichtet haben.

Gila setzt sich Enno gegenüber aufs Sofa. Sie ringt sich ein Lächeln ab, nach dem ihr nicht ist. „Ich hatte dich doch längst gefunden. Warum tust du mir das an? Jetzt, wo unsere gemeinsamen Tage gezählt sind, muss ich dich wieder suchen“, sagt sie. Ihr ist zum Heulen. Trotzdem lächelt sie tapfer weiter.

Enno schaut sie nur emotionslos an, als verstünde er den Sinn ihrer Worte nicht. Er sagt noch immer nichts. Aber in seinem Kopf ist jede Menge los.

Lena

Zum ersten Mal ist er ihr bei einer dieser Fridays-for-Future-Demos aufgefallen. Der lange, etwas schlaksige Typ mit den dunklen Haaren, dessen Strähnen ihm immer wieder in die dunklen Augen fallen.

Hin und wieder hat sie seinen brennenden Blick auf sich gespürt. Wenn sie zu ihm geschaut hat, hat er schnell weggeguckt.

Er ist in Patricks Klasse. Glaubt sie zumindest.

Aber ihr ist lieber, dass ihr Bruder nicht weiß, dass er ihr gefällt, also kann sie ihn nicht fragen.

Sie haben ein gutes Verhältnis, Patrick und sie, aber wenn er etwas davon mitkriegt, hat sie keine Ruhe mehr. Und außerdem wird er es dem Typen sicher weitersagen. Da ist er eben doch der nervige große Bruder.

Seit Mama und Papa sich getrennt haben, ist er manchmal komisch und irgendwie schräg drauf.

„Ich finde natürlich total doof, dass die Beiden nicht mehr zusammen sind. Klar! Aber wenn sie sich schon trennen, dann soll auch einer gehen“, sagt er jedoch auch. Aber nur zu Lena.

Mama und Papa gegenüber würde er das natürlich so deutlich nicht sagen.

Lena und Patrick kennen das ja schon von ihren Klassenkameraden und -kameradinnen. Viele Eltern sind geschieden.

„Davon geht die Welt nicht unter,“ sagt Patrick immer. „Dass sie in den gemeinsamen vier Wänden eigene Wege gehen, finde ich voll krank. Ein klarer Cut wäre echt besser!“

Lena hat ihn nur erstaunt angeschaut, als er das gesagt hat. Er ist so erwachsen, dachte sie, als sie zum ersten Mal ausführlicher darüber gesprochen haben, er und Lena.

„Das muss die beiden doch krass viel Kraft kosten, sich immer noch täglich zu sehen, obwohl sie nicht mehr zusammen sind! Es gab ja offensichtlich einen Grund, warum sie sich getrennt haben. So ist es doch echt bescheuert. Nichts Halbes und nichts Ganzes“, das hat er auch noch gesagt.

Patrick ist halt Schulsprecher. Er ist lösungsorientiert und pragmatisch veranlagt. Rational.

Das kann Lena nur teilweise nachvollziehen.

„Ich finde es eigentlich ganz schön, dass wir alle zusammenbleiben. Ich mag es natürlich auch nicht, wenn Mama und Papa streiten. Klar ist es schöner, wenn es zu Hause friedlich und harmonisch ist und Mama und Papa sich lieben und zusammenhalten, so wie sie sich das mal versprochen haben, als sie geheiratet haben. In guten wie in schlechten Zeiten halt.“

Patrick nennt das „Blütenträume“. Und das nimmt Lena ihm schon übel. Sie ist ja nicht doof und auch kein kleines Kind mehr.

Aber egal.

Sie mag ihn trotzdem, ihren großen Bruder. Sie ist stolz auf ihn. Auch weil er Schulsprecher ist. Alle ihre Freundinnen sind in ihn verknallt:

„Er ist so gediegen, voll fame“, hat ihre beste Freundin Matilda mal gesagt.

Wie albern. Aber na ja, sie versteht es auch.

Philipp

Es ist schon länger als sein halbes Leben her, er war fünfzehn – so alt wie seine kleine Lena – da schloss Philipp sich einer Gruppe von Wandervögeln an.

Er wollte seiner behüteten Kindheit entkommen. Wollte Abenteuer erleben wie Karl Mays Old Shatterhand.

Auf einer Wanderung entlang eines Flüsschens in Alaska beobachtete er Sockeye Lachse, wie sie im kaum knöcheltiefen glasklaren Wasser gegen die Strömung und große wie kleine Wasserfälle ankämpften um zu ihren Ursprüngen zurückzukehren. Jenen Gewässern, in denen sie einst aus dem Laich geschlüpft waren und wohin sie nun ihrerseits zurückkehrten um sich fortzupflanzen.

Er spürte die Kraftanstrengung, die sie aufbringen mussten förmlich am eigenen Körper.

Ihr herzzerreißender Anblick und wie sie sich aufbäumten, das nahm ihn mit. Es war ihm als stellten diese kämpfenden und teilweise springenden Fische eine Allegorie auf die Härten des Lebens dar.

„Nicht jeder von ihnen erreicht auch das Laichgewässer“, erklärte ihnen ihr Wandervogelanführer.

Im Eifer des Gefechts lösten sich bei einigen Fischen rote Hautfetzen, andere wurden immer wieder ganze Stufen zurückgeworfen.

Wieder andere wurden von Raubvögeln oder Bären verschlungen, denen sie förmlich in den Schnabel oder ins Maul sprangen.

Beim Anblick der tapferen Wasserwesen beschloss Philipp alles Erdenkliche zu tun damit weder er noch seine Nachkommen es jemals so schwer haben würden.

Er schwor sich Leichtigkeit.

Um diese zu erreichen und zu unterstreichen, lernte Philipp, sobald er wieder zu Hause in Deutschland war, die Kunst des Faltens von Papierflugzeugen.

In kürzester Zeit konnte er sämtliche Typen falten.

Mit jedem Falz und jedem erfolgreichen Flugmanöver wurde er optimistischer und wähnte sich seinem Ziel näher.

Die Verwunderung seiner Eltern schüttelte er ab.

Patrick

Seit Patrick denken kann, ist sein Vater für ihn da gewesen.

Er hat ihm Geschichten vorgelesen. Mit ihm Fußball und Mensch-Ärgere-Dich-Nicht gespielt und er wusste immer auf alles eine gute Antwort.

Aber am glücklichsten war Patrick, wenn sein Vater mit ihm Papierflugzeuge bastelte. Sie flogen so toll und weit und waren so lange haltbar, dass die Freunde, die Patrick besuchten, es oft auch lernen wollten.

Patrick war so stolz gewesen, in diesen Augenblicken. Ihm war dann bewusster denn je, dass sein Vater cool war. Cooler als all’ die anderen Väter.

Doch seit ein paar Monaten hat sich Patricks Meinung gegenüber seinem Vater gewandelt.

Er hat plötzlich nicht mehr das Gefühl, als hätte Philipp auf alles eine Antwort.

Im Grunde kommt es ihm so vor, als wüsste sein Vater nicht einmal besser über das Leben Bescheid als er, Patrick.

Philipp ist genauso fehlbar und ratlos wie alle Menschen. Ihm fehlen die Antworten, von denen Patrick immer geglaubt hat, das sein Vater sie hätte.

Diese Erkenntnis schockiert ihn und lässt ihn verunsichert zurück. Im Innersten erschüttert.

Hannah

Die Porridge-Schüssel kann sie noch nach der Arbeit spülen. Die Kaffeetasse auch. Zum wiederholten Mal fragt Hannah sich, warum sie ihren Lippenstift aufträgt bevor sie ihren Kaffee trinkt. Jetzt ist da wieder dieser rote Abdruck an der Tasse.

Sie seufzt genervt.

Das Geschirr von gestern Abend steht auch noch herum. Aber sie kann sich jetzt nicht darum kümmern, sie muss los.

Es ist ihr auch einfach nicht mehr so wichtig, was Philipp von ihr denkt. Ob er findet, dass sie die Wohnung gut in Ordnung hält oder dass sie lecker kocht. Früher hat sie sich immer über sein Lob gefreut.

„Das sieht hier ja wieder picobello aus“, hat er oft gesagt und sie mit anerkennendem Blick auf die Schläfe geküsst.

Solche Gesten gibt es nicht mehr und auch das picobello ist bedeutungslos geworden.

Sie fragt sich vielmehr, woher sie die ganze Zeit die Energie genommen hat. Bei ihnen sah es ja beinahe aus wie in Architektur und Wohnen. Das Wohnen ist dabei immer etwas auf der Strecke geblieben, zugunsten der Unberührtheit von Design und Architektur. Vorzeigbar, aber nicht gelebt. Picobello eben.

Dabei haben die Kinder früher natürlich auch für Chaos gesorgt. Aber sobald sie in der Kita, in der Schule oder im Bett waren, hat Hannah aufgeräumt und alle Spuren kindlicher Spielerei verwischt.

Sie hofft, dass Lena und Patrick jetzt keinen Knacks bekommen. Unzählige Kinder sind ja heute verhaltensauffällig. Hannah wünscht sich, dass die beiden dennoch einmal gerne auf ihre Kindheit zurückblicken werden. Trotz aller Hürden, die Philipp und sie ihnen nun unfreiwillig in den Lebensweg stellen.

„Unser Arrangement gewährleistet ein weitgehend unverändertes, ungestörtes Familienleben, das sich nicht wesentlich von dem anderer Familien unterscheidet, in denen die Eltern noch zusammen sind!“ So sieht Philipp es. Und vielleicht hat er ja Recht damit.

Wie sind Patrick und Lena nur so schnell groß geworden?

Bald schon werden sie eigene Wege gehen, ihre Eltern nicht mehr brauchen.

Ihre Lebensaufgabe wird dann erfüllt sein.

Manchmal wird Hannah ganz wehmütig.

Mit einem Mal dräut die Zukunft wie ein düsteres Endzeit-Szenario.

Sie ist so gerne Mutter. Sie sieht nicht, wie diese Aufgabe jemals durch etwas Anderes ersetzt werden könnte.

Nicht in diesem Leben.

Nachdem sie im Büro einen Text ihres Chefs transkribiert und Emails beantwortet hat, zieht sie den Brief von Lenas Klassenlehrerin aus seinem Umschlag.

So eine von den hysterischen ist diese Lehrerin und Hannah seufzt.

„Alles okay“, fragt die Kollegin aus der Buchhaltung, die ihr an ihrem Schreibtisch gegenübersitzt.

Hannah nickt und lächelt ihr zu. „Lehrerinnen“, sagt sie und verdreht in gespielter Verzweiflung die Augen.

Die Kollegin nickt und lächelt verständnisvoll, ihre Kinder sind längst erwachsen.

„Warum kann Lenas Klasse nicht auch an die Nordsee fahren wie die achten Klassen? Muss es denn unbedingt Bayreuth sein? Was wollen sie dort? Sie wollen sich nicht einmal Wagner anhören!“ Hannah versteht das nicht und rollt noch mal mit den Augen.

Die Kollegin schüttelt den Kopf. „Unverständlich. Zumal Bayreuth echt überschätzt ist.“

Hannah lacht.

„Und dann will Lenas Klassenlehrerin auch noch, dass sie mit dem Bus dorthin fahren. Eine Zugfahrt will die Klassenlehrerin nicht auf ihre Kappe nehmen. Dann passiert nachher noch, was im vergangenen Jahr dem Kollegen passiert ist. Da sind sie mit über hundert Schülerinnen und Schülern mit dem Zug nach Florenz gefahren. Aber am Ende ist nur eine Klasse dort angekommen, weil die anderen Kinder hinter einem Mann hergelaufen sind, der aussah wie der Kollege. Und der schon in Pisa ausgestiegen ist.“

Jetzt kriegt Hannahs Kollegin sich nicht mehr ein vor Lachen.

„So etwas kann sie nervlich nicht stemmen, schreibt die Klassenlehrerin. Also werden sie mit dem Bus nach Bayreuth fahren.“

„Okay“, sagt die Kollegin und zieht dabei das O in die Länge.

„Neben der Jugendherberge gibt es auch ein tolles Freibad, aber schwimmen gehen werden sie nicht. Schwimmen ist ja so eine Sache! Die Lehrerin kann im Freibad unmöglich die Verantwortung für dreißig Kinder übernehmen. Wenn da jemand runtergedrückt wird! Oder einen Krampf im Bein bekommt! Wo denken die Eltern denn hin? Also wird daraus nichts. Ach und der Kletterwald ist natürlich auch keine Option. Nicht auszudenken, wenn da jemand abstürzt und sich verletzt. Mit anderen Worten: Bayreuth minus Spaß. So sieht es aus.“

„Ich freue mich total, sagt Lena trotzdem. Ihr und den anderen Kindern ist das ganze Drumherum egal. Sie denken nicht voraus. Sie machen sich nicht wie die Erwachsenen schon monatelang im Voraus Gedanken über den Aufenthalt in Bayreuth.

„Ich bin einfach gerne mit meinen Klassenkameradinnen zusammen!“, sagt Lena ihrer Mutter. Einige sind ihre Freundinnen. Es gibt auch ein paar Jungs, die sie mag. So viel Hannah weiß, gibt es aber bisher keinen Schwarm.

Philipp hat ihr das bestätigt. Dem würde es vermutlich eher auffallen, weil es ihn mehr treffen würde.

„Der Junge, dem ich meine Lena anvertraue, muss noch geboren werden“, so viel steht für Philipp fest. Das hat er Hannah mal anvertraut. Vor unendlich langer Zeit, als Lena noch klein war und sie sich noch näher waren.

399
522,66 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
190 стр. 1 иллюстрация
ISBN:
9783752934922
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip